Mechthild Bereswill | Rezension | 08.04.2022
Ein Vorschlag zur Reparatur der Welt
Rezension zu „Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation“ von Sabine Hark
In ihrem Essay Gemeinschaft der Ungewählten wendet sich Sabine Hark der Thematik von „Differenz und Zugehörigkeit“ (S. 14) zu. Ausgehend von der grundlegenden Frage, wem zuerkannt wird, gekommen zu sein, „um zu bleiben und in Gemeinschaft mit anderen zu leben“ (ebd., Hervorh. im Original), entwickelt die Autorin – wie es im Untertitel heißt – erste Umrisse eines Ethos des Zusammenlebens. Zu diesem Zweck greift sie Judith Butlers Ethik der Kohabitation auf und will zugleich weitergehen – mit dem Entwurf einer praktischen, machtsensiblen Lebensweise. Damit gemeint ist „[e]ine Lebensweise, die auf der Sorge um uns selbst, um andere und um die Welt gründet und die ihre Richtschnur in der letzten schlichten Einsicht gefunden hat, dass Menschen im Plural die Erde bewohnen, weshalb ausnahmslos allen das gleiche Recht zukommt, in der Welt gedeihen zu können“ (S. 16). Die Überzeugung, dass alle Menschen das gleiche Recht auf ein gedeihliches Leben haben und dass dieses Leben ein Zusammenleben im Sinne von Interdependenz, als nicht zu hintergehende wechselseitige Abhängigkeit verbunden mit gegenseitiger Sorge voraussetzt, trägt den gesamten Text. Die titelgebende Figur der „Ungewählten“, die Sabine Hark mit Bezug zu Judith Butler und Hannah Arendt ins Zentrum ihrer Überlegungen rückt, knüpft an die Feststellung an, dass wir alle gekommen sind, um zu bleiben und alle das gleiche Recht haben, die Erde zu bewohnen, denn: „Ohne Zustimmung aller anderen sind wir auf der Erde erschienen.“ (S. 38) Daraus resultiert der Umstand, die Welt auch mit jenen teilen zu müssen, die wir uns nicht ausgesucht haben – eine Tatsache, die uns zur aktiven Bekräftigung des Zusammenlebens verpflichten würde, so Sabine Hark.
Um die Grundkonstellation von Sozialität und Gesellschaft weiter zu reflektieren, nähert sich die Autorin der Welt und dem Zusammenleben im Modus einer radikalen Kritik an Herrschafts- und Gewaltverhältnissen, die zum Ausschluss von Menschen, zur Abschottung vermeintlicher Gemeinschaften sowie zur Degradierung und Entmenschlichung, auch durch epistemische, also durch Wissen legitimierte Gewalt, führen und geführt haben. Diese umfassende Kritik gelingt unter Einsatz eines beeindruckenden Kaleidoskops aus feministischen, diskurstheoretischen, antirassistischen und postkolonialen Denktraditionen sowie älteren und neueren literarischen Werken. Eine zentrale These von Sabine Hark lautet, dass jahrzehntelange globale Transformationsprozesse sowohl die Möglichkeiten, „in Gemeinschaft mit anderen zu leben, als auch die ethische Substanz auch demokratischer Gemeinwesen ausgezehrt“ (S. 164) hätten. Damit gemeint sind die unübersichtlichen, inkohärenten und heterogenen politischen Kräfte und Prozesse, die gemeinhin unter dem Stichwort „Neoliberalismus“ kritisiert werden. Trotz dieser augenscheinlichen Heterogenität sieht Sabine Hark eine „Reihe von Eigenschaften“ (S. 165) des neoliberalen Projekts, die zu einer Schwächung von Gemeinwesen weltweit geführt haben: die Universalisierung von Wettbewerb, „die Hegemonie eines marktradikalen Modus der Vernunft“ und die Hervorbringung eines „in wettbewerblichen Logiken kalkulierenden Subjekts“ (S. 165). Dieser Entwicklung setzt die Autorin den „Ethos der Kohabitation“ entgegen. In einer poetisch anmutenden, keineswegs leicht zugänglichen, wissenschaftlichen Sprache leidenschaftlicher Kritik tritt sie für Formen der deliberativen Demokratie und für ein Menschenbild ein, dessen Kern die Fähigkeit zu wechselseitiger Empathie und Zärtlichkeit im Umgang mit sich selbst und der Welt ist. So plädiert sie mit Bezug auf Olga Torkarczuks Rede anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019 für eine „zärtliche Bürgerlichkeit“, denn es sei die der Zärtlichkeit innewohnende Sorge, deren Qualität wir für „die Reparatur der Welt“ bräuchten (S.214 f.).
Sabine Hark schärft und entwickelt ihre Argumente sowohl an klassischen wie auch an aktuellen Arbeiten zahlreicher wissenschaftlicher Autor:innen, Literat:innen und Aktivist:innen. Neben den bereits erwähnten Arbeiten Hannah Arendts und Judith Butlers seien exemplarisch hier nur James Baldwin, Frantz Fanon, Michel Foucault, Berenice Johnson Reagon, Audre Lorde, Christina Thürmer-Rohr und Olga Tokarzcuk genannt – wohl wissend, dass andere Rezensent:innen vermutlich andere Beispiele auswählen würden. Auf diese Weise regt der Essay auch dazu an, weiter und wieder zu lesen, neue Stimmen im Diskurs zu entdecken und alte Stimmen wieder zu hören. Ebenso leistet Sabine Hark einen wichtigen Beitrag gegen das soziale Vergessen, wie oft, wann, wo und unter welchen Umständen Menschen gekommen sind, um zu bleiben, und mit welcher Rohheit sie abgewiesen wurden und wieder gehen mussten. So verschränkt sich über alle Abschnitte des Essays hinweg die Klage über Herrschaft und Gewalt, über Trennung und Zerstörung mit der tiefen Überzeugung, dass ein Ethos der Kohabitation möglich ist. Das Soziale, das Gesellschaftliche wird als ein mögliches Gemeinwesen rekonstruiert, das nicht auf Abgrenzung, sondern auf Relationalität, nicht auf Unterordnung, sondern auf Reziprozität basiert. Diesen Entwurf entwickelt Sabine Hark, indem sie die Welt aus der Perspektive derjenigen reflektiert, denen nicht das Recht zugestanden wird, zu bleiben (S. 37 ff.). Damit in enger Verbindung stehe, so die Autorin, auch die Frage nach den „Aufgaben von Kritik“ (S. 87 ff.), der sie schließlich eine kritische Analyse der systematischen Verweigerung von Gleichheit und der damit verbundenen Verleugnung des grundlegenden Ungewähltseins aller Menschen folgen lässt. Die fragende Annäherung an „Gemeinschaft“ (S. 161 ff.) – mithin ein Konzept, dessen Ambivalenzen bereits vielfach reflektiert wurden –, öffnet den Blick dafür, dass Gemeinschaft, im Sinne einer Assoziation von Verschiedenen, unverzichtbar ist und zugleich immer wieder dekonstruiert werden muss. Vor dem Hintergrund dieser reflexiven Annäherung an das Wechselverhältnis von Gemeinsamkeit, Gemeinschaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit wendet Sabine Hark sich schließlich dem Entwurf einer „caring democracy“ (S. 219) zu, die in einer „Gesellschaft aller Menschen“ hervorgebracht werden und diese Gesellschaft zugleich ermöglichen soll.
Die Lektüre des Essays von Sabine Hark erfordert höchste Aufmerksamkeit. Ihre dichten Argumentationsfiguren entfalten sich in komplexen, langen Satzkonstruktionen mit vielfältigen wissenschaftlichen Referenzen und weiterführenden Überlegungen in den Endnoten eines jeden Kapitels. Zentrale Denkbilder werden fortlaufend wiederholt und weiter ausgemalt, ohne dass am Ende ein vollständiges Bild oder theoretisches Modell zu erwarten wäre. Ganz im Gegenteil: Es handelt sich – wie die Autorin selbst schreibt – vielmehr um „eine Skizze für eine ganz und gar praktische, machtsensible demokratische Lebensweise“ (S. 16, Hervor. im Original). Diese Skizze gewinnt ihre Konturen aus einem weltumspannenden Chor von intellektuellen, politischen und poetischen Stimmen, die Sabine Hark versammelt und in Beziehung zueinander setzt. Ihr eigenes kritisches Denken verschränkt sich eng mit dem Denken anderer. So enthält der Text eine Fülle an Denkbildern, denen nachzuspüren und die weiter zu denken einen wichtigen Teil der Leseerfahrung ausmacht. In diesem Sinne demonstriert Sabine Hark mit ihrem Schreiben eine Art intellektuelle und emotionale Wechselbezüglichkeit, indem ihre eigene Stimme immer in Verbindung mit denen anderer steht. So entfaltet sie ihre „Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation“ als eine vielstimmige Kritik an unhaltbaren Verhältnissen und findet eine ausdrucksstarke Sprache für ihr beharrliches Begehren nach einer „Gesellschaft aller Menschen“ (S. 75 ff.), deren demokratische Praxis nicht durch Dominanzkulturen ausgehöhlt wird. Auf diese Weise durchquert die Autorin die historischen Verwerfungen und gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse einer Welt, in der Gleichheitsversprechen und Menschenrechte zu keinem Zeitpunkt für alle Menschen und andere Spezies, die diese Welt bewohnen, galten. Vor dem Hintergrund dieser schmerzhaften Kritik an tief in das Zusammenleben eingeschriebenen gewaltsamen Trennungen und Entwertungen fragt Sabine Hark nach den Möglichkeitsbedingungen eines demokratischen Zusammenlebens. Ihre Idee der Kohabitation entwirft sie mit Bezug zu der Einsicht, „dass wir alle fragile, einzigartige, ungeschützte und endliche Wesen sind, die der Sorge bedürfen. Dass wir immer schon in der Hand der anderen sind, ihnen überantwortet, wir Enteignete, Ungewählte sind“ (S. 215).
Der intellektuell herausfordernde und zugleich emotional berührende Essay lädt Leser:innen dazu ein, die eigene Imagination in Gang zu bringen, um „Gemeinschaftlichkeit“ so zu entwerfen, „dass neue transversale und nicht an der Grenze zur menschlichen Spezies Halt machende Verwandtschaften zwischen den Verschiedenen, die doch füreinander Gleiche sind, wirklich werden“ (S. 227). In diesem Sinne sind Harks Überlegungen von der ersten bis zur letzten Seite des Essays der „sozialen Grammatik einer Verbundenheit und der vielstimmigen Verbindung“ (S. 218) zwischen Verschiedenen und doch Gleichen verpflichtet. Dabei ist es aus Sicht der Autorin zugleich unverzichtbar, unser „Wissen um die Spaltungen und Zertrennungen in der Welt“ (ebd.) zu bezeugen. Ein solches Zeugnis legt Sabine Hark konsequent ab. So entsteht eine Pendelbewegung: zwischen der konsequenten Erinnerung und der radikalen Kritik an Zerstörung, Trennung und Leid auf der einen und dem Aufbruch zu einer demokratischen Praxis, die Reparatur, Verbundenheit und Trost als unverzichtbare Qualitäten einer offenen Gemeinschaft und demokratischen Gesellschaft entfaltet, auf der anderen Seite. Der Aufbruch in Richtung einer „Gesellschaft aller Menschen“ kann auf die Durchquerung und Aufdeckung von vergangenen und gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen nicht verzichten. Der Text von Sabine Hark fordert dazu heraus, diesen Weg zu suchen und zu beschreiten, ohne die eigenen Verstrickungen in Ungleichheitsverhältnisse auszublenden, ohne Gemeinschaft nostalgisch zu idealisieren und ohne die eigene sowie die Verletzlichkeit anderer zu unterschätzen. Kritische Theorie, wie sie in diesem Essay als wissenschaftliche Praxis entfaltet wird, eröffnet Denkräume und verzichtet auf deren bruchlose Übersetzung in politische Handlungskonzepte. Dies hat auch zur Folge, dass man konkrete Vorschläge oder Beispiele, etwa für gelungene Formen einer deliberativen Demokratie oder praktische Wegweiser in Richtung eines gewaltfreien Gemeinwesens vergeblich im Buch sucht. Die gesellschaftliche Praxis „eines politischen Ethos der Kohabitation“ bleibt somit vage und wird in die Hände der Lesenden gelegt. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wen Sabine Hark über ihre eigene intellektuelle Community hinaus mit ihrem Essay eigentlich erreichen will. Auch wenn diese Frage offen bleibt, so ist der Gemeinschaft der Ungewählten zu wünschen, von vielen Menschen – im besten Fall gemeinsam – gelesen und leidenschaftlich-kritisch diskutiert zu werden.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Care Demokratie Globalisierung / Weltgesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Macht Migration / Flucht / Integration Politik Rassismus / Diskriminierung
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