Pablo Schmelzer | Rezension | 06.12.2022
Eine Bewegungsgeschichte des NSU
Rezension zu „Rechtsterrorismus. Radikale Milieus, Politische Gelegenheitsstrukturen und Framing am Beispiel des NSU“ von Jan Schedler
Während die Angehörigen der Ermordeten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bereits im Sommer 2006 auf Demonstrationen in Kassel und Dortmund „Kein zehntes Opfer“ skandierten und explizit ihren Verdacht einer rassistischen Motivation der Mordserie artikulierten, ermittelte die Soko Bosporus weiter intensiv wie spekulativ im Milieu der Gewaltopfer. Für die spezifische Figuration des rechten Terrors blieb auch die Wissenschaft lange weitgehend blind. Und auch jetzt, über zehn Jahre nachdem sich der NSU im November 2011 selbst enttarnte, mangelt es an wissenschaftlichen Monografien über die rechte Terrorzelle. Dieser Umstand steht jedoch kaum für ein fehlendes akademisches Interesse; die Vielzahl an Sammelbänden und Fachartikeln verweist darauf, dass die Bilder des ausgebrannten Wohnmobils durchaus eine Zäsur für die bis dato eher randständige Rechtsextremismusforschung markierten.
Anstatt den NSU als isoliertes Phänomen gesellschaftlicher Randzonen zu betrachten – wie es in wissenschaftlichen Perspektiven auf rechte Gewalt vielfach passiert –, begriff man das neonazistische Trio, bestehend aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, schon bald als engsten Zirkel eines weit umfassenderen rechtsterroristischen Komplexes. Daraus ergab sich die Erkenntnis, ihre Terrorserie in Relation zu gesellschaftspolitischen Ermöglichungsbedingungen betrachten zu müssen. Ebendiesem Anliegen folgt nun Jan Schedler, wenn er den NSU mit den analytischen Instrumenten der Bewegungsforschung untersucht, um ihn durch „eine Analyse seiner Genese vor der Folie der neonazistischen Bewegung“ zu „erklären“ (S. 3). Die Studie Rechtsterrorismus. Radikale Milieus, politische Gelegenheitsstrukturen und Framing am Beispiel des NSU leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der weitreichenden embeddedness des NSU.[1] Mit seinem Studiendesign bespielt Schedler fast das gesamte methodische Tableau der Bewegungsforschung: politische Gelegenheitsstrukturen, Ressourcenmobilisierung, radikale Milieus, Framing und kollektive Identität. Bevor er diese Konzepte auf drei analytische Kapitel verteilt, wird ihnen auf den ersten achtzig Seiten die argumentative Grundlage bereitet.
In Abgrenzung zu Terror versteht Schedler rechte Gewalt dann als rechtsterroristisch, wenn sie über sich hinausweist, einen Symbolcharakter besitzt und als geplante vorbereitete Handlung beschrieben werden kann (S. 45).
Nach einer etwas zu konzis geratenen Einleitung – sie umfasst, bei einem Buchumfang von immerhin 450 Seiten, gerade einmal fünf – klärt Schedler auf knapp vierzig Seiten die „Begriffe und Definitionen“ der Studie. Die Kritik an der normativen Extremismustheorie scheint obligatorisch, daneben entwickelt Schedler aufgrund eines postulierten begrifflichen Desiderats eine eigene Differenzierung. In Abgrenzung zu Terror versteht er rechte Gewalt dann als rechtsterroristisch, wenn sie über sich hinausweist, einen Symbolcharakter besitzt und als geplante vorbereitete Handlung beschrieben werden kann (S. 45).
Besteht alles andere als ein Mangel an Terrorismusdefinitionen, so irritiert Schedlers Vorschlag vor allem deshalb, weil er ein zentrales Spezifikum des Rechtsterrorismus ignoriert: Seine Opfer sind häufig derart marginalisiert, verwundbar und staatlicherseits vergleichsweise schlecht geschützt, dass eine auf sie gerichtete Gewaltkampagne im Zweifel gar nicht erst konspirativ vorbereitet werden muss. Auch aus diesem Grund nimmt für den Soziologen Peter Waldmann die Gewalt des militanten Rechtsradikalismus als „vigilantistischer Terrorismus“ eine Mittelstellung zwischen staatlichem Terror von oben und sozialrevolutionärem Terrorismus von unten ein. Matthias Quent hat diese Sonderform politischer Gewalt bereits sehr überzeugend am Beispiel des NSU erforscht.[2] Schedler diskutiert diese und vergleichbare Vorarbeiten jedoch nur sehr bedingt, sodass sein definitorischer Vorschlag doch etwas in der Luft hängen bleibt.
Aus einer Kritik an der bestehenden Terrorismusforschung entwickelt der Autor in den folgenden beiden Kapiteln seinen methodischen Zugang und präsentiert sein Studiendesign. Er will die konstatierte analytische Isolation terroristischer Netzwerke durch eine Kombination zentraler Ansätze der Bewegungsforschung aufheben und den NSU-Komplex aus seinem sozialen Umfeld heraus erklären. Als Grundlage seiner Dokumentenanalyse dient ihm dabei ein bemerkenswert breiter Quellenkorpus, bestehend hauptsächlich aus neonazistischen Publikationen und Songtexten einschlägiger Rechtsrock-Bands, Berichten von Verfassungsschutzämtern, Ermittlungsverfahren, Urteilen, Drucksachen des Bundestags und den Protokollen des NSU-Gerichtsverfahrens.
Der sich anschließende Hauptteil des Buches gliedert sich in drei umfangreiche Abschnitte, beginnend mit einer Untersuchung der politischen Gelegenheitsstrukturen des NSU. In der weitgehend literaturbasierten Analyse externer Ermöglichungsbedingungen identifiziert Schedler diverse Momente, die die Entstehung des NSU begünstigten: Zwar seien ab Mitte der 1990er-Jahre rechte Kleinparteien zunehmend marginalisiert worden, weil auch die etablierten Parteien migrationsfeindliche Positionen eingenommen hätten. Den Verlust an parlamentarischem Spielraum kompensierte die extreme Rechte jedoch mittelfristig, indem sie ihren außerparlamentarischen Einfluss ausweitete, was vielfach mit Gewalt einherging. Methoden und Techniken des Protest Policing sowie zahlreiche Organisationsverbote hätten ihre Aktionsformen zunehmend radikalisiert. Art und Umfang des Einsatzes von V-Personen durch Verfassungsschutzbehörden, auf rechte Jugendliche abzielende Programme der Sozialen Arbeit (akzeptierende Jugendarbeit) und die staatliche Transformationskrise der Nachwendegesellschaft seien ebenso förderlich gewesen wie diskursive Strukturen. So könne etwa „konstatiert werden, dass der Asyldiskurs großen Anteil an der Gewalt hatte“ (S. 165). Worin genau dieser Anteil besteht, bleibt allerdings ebenso vage wie der konkrete Zusammenhang zwischen den benannten Gelegenheitsstrukturen und der Genese des NSU.
Schedlers methodische Unschärfe steht in Kontrast zu den weitreichenden explanatorischen Ansprüchen von Modellen, die dem Agieren der Bewegung während der Entstehung des NSU eine kausale Folgerichtigkeit unterstellen. Der Interaktion zwischen der sozialen Bewegung und ihrer Umwelt wird dabei immer wieder eine quasideterministische Logik zugeschrieben, die sich der prinzipiellen Offenheit historischer Prozesse versperrt. Die gefundenen Muster im Handeln der Bewegungsakteure gewinnen zwar in der Rückschau eine scheinbare Plausibilität. Dass sie sich jedoch nur sehr bedingt auf vergleichbare historische Konstellationen übertragen lassen, sollte stutzig machen.[3]
Angesichts des schieren Ausmaßes der infrastrukturellen Einbettung des terroristischen Netzwerks ist fraglich, inwiefern man überhaupt von einem Gang in den Untergrund sprechen kann.
Im zweiten Abschnitt des Hauptteils beschäftigt sich Schedler mit dem näheren rechtsextremen Umfeld des NSU. Anknüpfend an die richtungsweisenden Arbeiten von Donatella della Porta zur Gewalt der Neuen Linken und in Anlehnung an das Konzept des „radikalen Milieus“ von Stefan Malthaner und Peter Waldmann untersucht Schedler die Meso-Ebene des NSU-Netzwerks.[4] Analog zu Stefan Malthaners und Klaus Hummels Untersuchung der sogenannten Sauerland-Gruppe[5] interessiert er sich für die Entstehungsdynamik des NSU aus der neonazistischen Bewegung heraus und für die Funktion, die dieses radikale Milieu vor und nach dem Gang in den Untergrund übernahm. In streckenweise ausladend deskriptiven Beschreibungen von Radikalisierungsprozessen in der Kameradschaft Jena, im Thüringer Heimatschutz und in regionalen Blood & Honour-Strukturen vermisst der Autor den sozialen Raum, aus dem Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe die organisatorischen, materiellen und personellen Ressourcen mobilisierten, die sie für ihre Gewaltkampagne benötigte. Angesichts des schieren Ausmaßes der infrastrukturellen Einbettung des terroristischen Netzwerks ist fraglich, inwiefern man überhaupt von einem Gang in den Untergrund sprechen kann: „[Z]umindest in der ersten Phase nach der Flucht“ könne „von einer wirklich Isolation nicht die Rede sein“ (S. 298).
Als dritten Schritt rekonstruiert der Autor anhand seines umfangreichen Quellenmaterials die Deutungs- und Handlungsrahmen (frames), die sich im Umfeld des NSU „um den Einsatz politischer Gewalt“ (S. 306) spannten. Trotz der Unterscheidung der üblichen drei Rahmentypen (diagnostic framing, prognostic framing und motivational framing) wirkt Schedlers konkrete, auf den NSU bezogene Auswahl beziehungsweise Bezeichnung der Frames zuweilen recht arbiträr: Unterkapitel zu „Überfremdung“, „Unterdrückung“ oder zum „Aussterben der ‚Weißen Rasse‘“ stehen neben „Kriegszustand“ und „Vorbereitung“ und werden aufgrund einer großen Bandbreite an untersuchten Frames teils sehr knapp abgehandelt. So besteht etwa das Unterkapitel „7.4.6 Verunsicherung“ aus gerade einmal drei Sätzen und einem Zitat, was nicht eben zu dessen Plausibilisierung beiträgt.
Die Anwendung des Framing-Konzepts auf die neonazistische Bewegung bringt ihrerseits eine Rahmung des Gegenstands hervor, die zuweilen irritiert. Indem die Terminologie des Konzepts mindestens implizit suggeriert, die einzelnen Frames rekurrierten auf eine hinter ihr liegende und nur je verschieden eingerahmte Wirklichkeit, läuft die Analyse an einigen Stellen Gefahr, mit den entwickelten Deutungsrastern ihren eigenen Gegenstand zu essenzialisieren. So werden etwa „Jüd*innen“ und „Moslems“ homogenisiert und zudem als „Ethnische out-group“ (S. 338) bezeichnet, weshalb der Text partiell die Perspektive rechter Feindbilder fortzuschreiben droht.
Trotz der genannten Kritik erweist es sich als ein ergiebiges Unterfangen, die Legitimationsstrategien rechter Gewalt einer Frame-Analyse zu unterziehen. Die bestehende Forschung schenkt den Rechtfertigungslogiken von Gewalt im Kontext der extremen Rechten, unter Verweis auf ihre ideologische Selbstevidenz, häufig nur wenig Aufmerksamkeit. Im Gegensatz dazu arbeitet Schedler detailliert die spezifischen Funktionen der Legitimationsmuster in den Radikalisierungsdynamiken der neonazistischen Bewegung heraus.
In der Gesamtschau droht das vielversprechende Vorhaben, eine Bewegungsgeschichte des NSU zu schreiben, dennoch immer wieder aus dem Gleichgewicht zu geraten. Es schwankt zwischen einem Übermaß an methodischen Zugängen und einem Mangel an empirischer Tiefe. An vielen Stellen vermisst der/die Leser:in zudem eine kritische Diskussion von bereits vorliegenden Forschungsergebnissen, die Sekundärliteratur scheint so stellenweise lediglich der Unterfütterung eigener Setzungen zu dienen. Seinen Anspruch „alle relevanten Fachpublikationen“ (S. 71) heranzuziehen, verfehlt Schedler mehr als einmal. Im Abschnitt zur akzeptierenden Jugendarbeit findet etwa die wichtige Monografie von Lucia Bruns keine Erwähnung;[6] im Kapitel zu radikalen Milieus fehlt ein Hinweis auf den Aufsatz von Wilhelm Heitmeyer und Dierk Borstel über „Menschenfeindliche Mentalitäten, radikalisierte Milieus und Rechtsterrorismus“, der zwar im Literaturverzeichnis aufgeführt wird, nicht aber in der eigentlichen Arbeit.[7]
Darüber hinaus stören zahllose orthografische Fehler den Lesefluss, teils mehr als einmal pro Seite (S. 358, S. 388). In Kombination mit Schedlers durchaus herausforderndem Schreibstil ergeben sich dadurch mitunter beträchtliche Hürden. Spätestens für kaum zu entschlüsselnde Sätze wie den folgenden hätte es definitiv ein sorgfältigeres Lektorat gebraucht:
„Analog zu anderen Arbeiten zu den politischen Gelegenheitsstrukturen sozialer Bewegungen deduktiv auf Grundlage der Erkenntnisse bisheriger Forschungsarbeiten zur Entwicklung der extremen Rechten im Untersuchungszeitraum – insbesondere der in Ostdeutschland – sowie zur Gewalt sozialer Bewegungen.“ (S. 385)
Trotz der genannten Abstriche bereichert Schedlers umfassende Studie – die sämtliche Register der Bewegungsforschung zieht und vielfältige Anregungen und Anknüpfungspunkte für künftige Forschung bietet – die wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU.
Fußnoten
- Bereits in den 1990er-Jahren hatten die Nachwendepogrome eine Debatte darüber ausgelöst, bis zu welchem Grad sich die Methoden der Bewegungsforschung, empirisch erprobt und theoretisch geschliffen an den Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) der 1970er-Jahre, auch auf rechte Zusammenhänge anwenden lassen. Nicht zuletzt aufgrund der weitreichenden Richtungsstreitigkeiten – laut Ruud Koopmans einte die unterschiedlichen Lager der Bewegungsforschung zwischenzeitlich kaum mehr als „Protestanten und Katholiken in Nordirland“ – gerieten empirische Studien meist ausgesprochen theorielastig. Ruud Koopmans, Konkurrierende Paradigmen oder friedlich ko-existierende Komplemente? Eine Bilanz der Theorien sozialer Bewegungen, in: Kai-Uwe Hellmann / Ruud Koopmans (Hg.), Paradigmen der Bewegungsforschung. Entstehung und Entwicklung von neuen sozialen Bewegungen und Rechtsextremismus, Wiesbaden 1998, S. 215–231, hier S. 216. Zugleich schöpften sie aus einem zunehmend gut gefüllten Methodenpool, weshalb Niklas Luhmanns Charakterisierung von Protestbewegungen als „wildes Wünschen“, in zugegeben zugespitzter Weise, auch auf deren eklektizistische Erforschung zutrifft. Niklas Luhmann, Frauen, Männer und George Spencer Brown [1988], in: ders., Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hrsg. und eingel. von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main 1996, S. 107–155, hier S. 136.
- Matthias Quent, Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus – wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät, Weinheim 2016.
- So verdeutlicht spätestens die Entstehung der AfD, dass Parteien rechts der Union nicht zwangsläufig verdrängt werden, sobald sich migrationsfeindliche Positionen gesamtgesellschaftlich verbreiten. Ebenso wenig müssen ihr parlamentarischer Spielraum und die Herausbildung rechtsterroristischer Netzwerke in einem negativen Verhältnis zueinanderstehen, sie können sich vielmehr sogar gegenseitig bedingen.
- In Abgrenzung zur Makro- und Mikro-Ebene möchte Schedler mit der Meso-Ebene „Gruppenprozesse und organisationale Entwicklungen“ (S. 48) in den Blick nehmen. Im Fall des NSU bedeutet eine solche Untersuchung der Meso-Ebene für Schedler die „Kontextualisierung […] seiner Entwicklung und seines Handelns vor der Folie der neonazistischen Bewegung und spezifischer radikaler Milieus“ (S. 181).
- Stefan Malthaner / Klaus Hummel, Islamistischer Terrorismus und salafistische Milieus. Die „Sauerland-Gruppe“ und ihr soziales Umfeld, in: Stefan Malthaner / Peter Waldmann (Hg.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt am Main / New York 2012, S. 245–278.
- Lucia Bruns, Der NSU-Komplex und die akzeptierende Jugendarbeit. Perspektiven aus der sozialen Arbeit, Oldenburg 2019.
- Wilhelm Heitmeyer / Dierk Borstel, Menschenfeindliche Mentalitäten, radikalisierte Milieus und Rechtsterrorismus, in: Malthaner/Waldmann (Hg.), Radikale Milieus, S. 339–368.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Gewalt Gruppen / Organisationen / Netzwerke Rassismus / Diskriminierung Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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