Linda Alice Bosshart | Rezension |

Eine Frage der Deutung

Rezension zu „Fehlgeburt und Stillgeburt. Eine Kultursoziologie der Verlusterfahrung“ von Julia Böcker

Julia Böcker:
Fehlgeburt und Stillgeburt. Eine Kultursoziologie der Verlusterfahrung
Deutschland
Weinheim Basel 2022: Beltz Juventa
336 S., 39,95 EUR
ISBN 978-3-7799-6697-5

[1] Ein Fötus verstirbt im Bauch einer schwangeren Frau. Wie wird diese Situation gedeutet? Genauer: Wann wird eine Fehl- oder Stillgeburt nicht nur auf persönlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene explizit als Verlust eines Kindes bewertet?

In ihrer qualitativ-empirisch ausgerichteten Dissertation Fehlgeburt und Stillgeburt. Eine Kultursoziologie der Verlusterfahrung liefert die Soziologin Julia Böcker bemerkenswerte mögliche Antworten auf eine Frage, der in den Sozialwissenschaften bislang wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde. Das ist insofern erstaunlich, als doch eine soziologische Perspektive auf das Thema von hoher Relevanz ist, wie Böcker mit ihrer Arbeit eindrücklich zu vermitteln vermag. Zum einen, so die Autorin, würden die individuellen Deutungen des Erlebten maßgeblich von gesellschaftlichen Diskursen und Norm(al)vorstellungen beeinflusst; beispielsweise sei schon die Vorstellung, Still- und Fehlgeburten seien etwas ausschließlich Privates, Persönliches und Subjektives, hochgradig kulturspezifisch (S. 288). Zum anderen werde eine derartig subjektive Verlusterfahrung nur dann auch von Dritten als solche anerkannt, wenn ganz bestimmte Bedingungen erfüllt sind (S. 147). Diese Bedingungen (Körpermaterialität, medizinisch (un-)bestimmtes Leben, Personalität) zu benennen und zu erklären hat die Autorin sich zur Hauptaufgabe gemacht.

Böckers Dissertation ist in neun Kapitel gegliedert. Im Anschluss an die kurze Einleitung (S. 13–20) bettet die Autorin ihre Arbeit in den sozialwissenschaftlichen und soziologischen Diskurs ein (Kapitel 2, S. 21–70). Dabei problematisiert sie die bisherige Unterrepräsentation von Fehl- und Stillgeburten in der deutschsprachigen Thanatosoziologie sowie die traditionelle Trennung derselben von einer Soziologie der Geburt und der Schwangerschaft. Des Weiteren legt Böcker in diesem Kapitel ihre theoretische Perspektive dar, die hauptsächlich auf der phänomenologischen Wissenssoziologie nach Alfred Schütz basiert.

Das dritte Kapitel (S. 71–109) ist ein ausführlicher Methodenteil, in dem die Autorin ihr Vorgehen in methodischer wie ethischer Hinsicht reflektiert. Die Vielzahl unterschiedlicher Datentypen, die Böcker zur Beantwortung ihrer Fragestellung im Stil der Grounded Theory erhoben und ausgewertet hat, ist beachtlich: Neben narrativen und biografischen Interviews als Hauptdatenquelle hat sie ebenfalls Expert:inneninterviews, eine Gruppendiskussion sowie teilnehmende Beobachtungen durchgeführt (etwa im Rahmen von Trauerfeiern oder Treffen von Selbsthilfegruppen). Darüber hinaus hat sie thematisch relevante YouTube-Videos, Threads in Online-Foren und öffentlich zugängliche Dokumente wie etwa Informationsbroschüren von Kliniken oder Gesetzestexte zum Umgang mit Fehlgeburten analysiert (S. 83–90; S. 336).

Die Auswertung des Datenmaterials erfolgt in den Kapiteln 4–7 (S. 110–287) und führt zu folgenden Schlüssen: Eine Fehl- oder Stillgeburt wird, so die These der Autorin, intersubjektiv nur dann als Kindsverlust gedeutet und als legitimer Trauerfall gewertet, wenn sie hinsichtlich dreier „Dimensionen“ plausibel gemacht werden kann. Diese Dimensionen werden einzeln in den Kapiteln bearbeitet und von Böcker als (1) Körpermaterialität, (2) medizinisch (un-)bestimmtes Leben und (3) Personalität bezeichnet. Mit Körpermaterialität meint die Autorin bestimmte organische Voraussetzungen, sprich: einen physisch fassbaren Beweis dafür, dass eine Schwangerschaft bestanden und somit auch ein Kind existiert hat. Fehlt bei sehr frühen Abgängen ein anthropomorpher Kindeskörper, so bedarf es also eines anderen, medizintechnisch erzeugten Belegs für dessen Existenz, etwa eines Ultraschallbildes (S. 147–189). Die zweite Dimension des medizinisch (un-)bestimmten Lebens (S. 190–239) bezeichnet den Umstand, dass einem Kind überhaupt erst „Leben“ zugeschrieben werden muss. Intersubjektiv kann „Leben“ ausschließlich mittels medizinischer Expertise legitim festgestellt werden, wodurch auch hier wieder eine Abhängigkeit vom medizinischen System besteht. Als dritte und letzte Bedingung nennt Böcker die symbolische Anerkennung von Personalität: Um jemandem den Status eines Individuums zuschreiben und damit als Mitglied einer Gesellschaft anerkennen zu können, bedarf es gewisser performativer Akte, beispielsweise der offiziellen Namensgebung oder, im Falle des Ablebens der Person, eines Bestattungsrituals. Wer von einer Fehl- oder Stillgeburt betroffen ist und sich als „Elternteil“ betrachtet, wird für sein Kind derlei Akte und Rituale durchführen wollen. Aber auch hier sind Betroffene von weiteren Regularien und gesellschaftlichen Akteuren abhängig, die beispielsweise die Beerdigung eines sogenannten „Sternenkindes“ auf einem Friedhof durchführen. Hier zeigt sich auch der ambivalente soziale Status des Embryos beziehungsweise des Fötus (S. 240–287).

In den letzten beiden, verhältnismäßig kurzen Kapiteln fasst Böcker ihre Erkenntnisse zusammen. Dabei stellt sie ihr „Modell der Verlustkonstitution“ (S. 288) vor, in dem sie die Zusammenhänge der drei genannten „konstitutionslogisch aufeinander auf[bauenden]“ (S. 289) Dimensionen explizit macht. Dadurch, dass die Autorin ihr Modell in weitere Fachdebatten über die Anerkennung von Verlusten sowie den Umgang mit fehlendem medizinischem und kulturellem Wissen einbettet, macht sie es für einen breiteren soziologischen Diskurs anschlussfähig (S. 288–313).

In einem Wort zusammengefasst ist Julia Böckers Buch vor allem eines: eine Einladung. Die Lektüre, allen voran die Kapitel, in denen die Autorin die Auswertung ihres Datenmaterials vornimmt (S. 110–287), ist sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der Art der Darstellung außerordentlich anregend. So präsentiert Böcker ihre Ergebnisse auf eher unkonventionelle Weise, nämlich in Form von Thesen. Damit betont sie, wie sie selbst sagt, die „prinzipielle Diskutierbarkeit“ (Fußnote 111) ihrer Analyseerkenntnisse. Während diese Art der Darstellung für manche Leser:innen (über-)fordernd oder irritierend sein mag – Böcker beschreibt selbst, dass sie solche Reaktionen hervorgerufen hat (ebd.) –, ist sie meines Erachtens mutig und diskursfördernd. Schließlich führt die Autorin mit der Betonung der Diskutierbarkeit ihrer Ergebnisse beispielhaft vor, wie gute qualitative Forschung im Stil der Grounded Theory sein sollte. Gleichzeitig zeigt Böcker auf, warum das Arbeiten mit qualitativem Datenmaterial eine so häufig unterschätzte, vielfach gar belächelte Leistung ist: Forschende entdecken nicht bloß eine Theorie, die in den Daten auffindbar ist, vielmehr kreieren sie eine solche in einem kreativen Prozess. Böcker führt mit ihren Thesen das Ergebnis ihrer eigenen Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial vor. Dadurch, dass sie auffallend viele und lange Zitate aus dem umfangreichen und heterogenen Material zum Bestandteil ihres Textes gemacht hat, gestaltet sie die Herleitung ihrer Thesen transparent und ermöglicht es den Leser:innen, ebenfalls eigene Überlegungen und Interpretationen anzustellen. Das Buch ist somit eine Einladung an alle, die sich für die Auseinandersetzung mit qualitativen Daten interessieren und die der Aufforderung der Autorin, ihre Thesen zu diskutieren, folgen möchten.

Das Buch lädt Leser:innen auch dazu ein, naheliegende aber zu kurz gedachte Vorstellungen zu überdenken und womöglich überraschende, unerwartete Zusammenhänge zu erkennen. So könnte man beispielsweise vermuten – und Böcker bezieht dies auf erfrischend ehrliche Art und Weise auch auf ihre eigene Person –, dass von einer Fehl- oder Stillgeburt Betroffene grundsätzlich und ausschließlich trauernde Personen sind, die sich als „Eltern“ eines sogenannten „Sternenkindes“ sehen und sich entsprechend auch eine Anerkennung dieses Status wünschen. Die Autorin hat jedoch herausgefunden, dass diese Annahme auf viele, aber eben nicht alle Betroffenen zutrifft. Böcker bringt dies mit der These in Zusammenhang, dass ein Bedürfnis nach Anerkennung des Kindsverlusts und damit von Elternschaft auf einem traditionellen Rollenverständnis fußt, welches Reproduktionsfreudigkeit und -fähigkeit mit sozialer Anerkennung belohnt. Wer sich nicht mit diesem Rollenverständnis identifiziert, wird sich auch nicht am entsprechenden Aktivismus für mehr Anerkennung von „Sternenkindern“ beteiligen (S. 294). Die Frage danach, welchen Einfluss Vorstellungen von traditioneller Mutterschaft, Weiblichkeit, Reproduktion und Familie auf die Verlustkonstitution in den einzelnen Fallbeispielen haben, ist einer der wenigen Aspekte, die in den Analysen etwas zu kurz kommen. Möglicherweise hängt dies auch damit zusammen, dass Böckers Interviewpartner:innen fast ausschließlich einem akademischen Milieu angehören und sich womöglich weniger mit konservativen Wertvorstellungen identifizieren. Dabei stellt sich allgemein die Frage: Wen repräsentiert Böcker hier und wen gerade nicht? Und was könnten die Antworten hierauf für das Gesamtergebnis der Arbeit bedeuten? Dazu erfahren Leser:innen wenig.

Abgesehen von den inhaltlichen Stärken ihrer Arbeit ist auch Böckers hoher Grad an Selbstreflexion etwa in Bezug auf die Performativität ihrer Forschung sowie ihre Auseinandersetzung mit terminologischen Herausforderungen nennenswert. So zeigt die Autorin einen kompetenten Umgang mit dem wertenden Sprachgebrauch in einem normativen und teilweise auch politisch agierenden Untersuchungsfeld. Diese Leistung ist bemerkenswert, denn Böcker konnte sich aufgrund der dünnen sozialwissenschaftlichen Forschungslage in diesem Feld auf keine etablierte metasprachliche Terminologie stützen. Ihre Argumentation für die jeweiligen Begrifflichkeiten (wie etwa „Fehlgeburt“, „stille Geburt“ oder „Betroffene“) überzeugen durchweg und adressieren eine Lücke im soziologischen Diskurs über Tod und Sterben bzw. Schwangerschaft und Geburt (S. 30–32; S. 96). Außerdem gelingt es ihr durch eine ausgeprägte Reflexionskompetenz in Bezug auf ihre eigene (Sprech-)position sowie auf mögliche persönliche Haltungen zum Thema Fehl- und Stillgeburt, ihrem Untersuchungsgegenstand gegenüber stets die nötige Distanz zu wahren und eine einseitige Reproduktion normativer Narrative zu vermeiden: „Damit bleibe ich auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung und versuche, keine normativen Maßstäbe hinsichtlich des gesellschaftlichen Umgangs mit Schwangerschaftsverlusten zu setzen. Zugleich führe ich vor, welche normativen Maßstäbe den Diskurs im Feld mit strukturieren“ (S. 98). Diesem Anspruch, den die Autorin hier an sich selbst stellt, wird sie durchgehend gerecht.

Methodologisches wie ethisches Feingefühl offenbart die Autorin auch in Bezug auf die potenzielle Vulnerabilität ihrer Interviewpartner:innen. Ihre Reflexion dazu liefert einen wichtigen Anstoß für sozialwissenschaftliche Ethikdebatten zur Forschung mit vulnerablen Personen und sensiblen Inhalten (S. 96–100).

Wer also sollte das Buch lesen? Die Autorin hat es meines Erachtens für alle geschrieben, die sich davon überzeugen lassen wollen, dass die Themen Fehl- und Stillgeburt nicht weiter exklusiv Disziplinen wie der Medizin oder der Psychologie überlassen bleiben sollten. Es richtet sich ebenso an all jene, die sich sowohl für Thanatosoziologie respektive die Soziologie der Schwangerschaft und Geburt interessieren als auch für die Schnittmenge beider Themen.

Auch all jene, die auf der Suche nach einem exzellenten Beispiel dafür sind, wie eine Grounded Theory und Glasers Grundsatz des „all is data“[2] fruchtbar und kreativ umgesetzt werden kann, werden dem Band einiges abgewinnen können. Die Arbeit dokumentiert eindrücklich ihren eigenen Entstehungsprozess und wie sich die leitende Forschungsfrage im Laufe der Forschung gewandelt hat. Insofern wäre vor allem das Methodenkapitel sicherlich auch für den Einsatz in der universitären Lehre geeignet.

Und schließlich hat Böcker dieses Buch für all diejenigen geschrieben, die teilhaben möchten an den Geschichten der Menschen, die sie interviewt hat. Sie sind es, die das Buch nicht nur auf fachlicher Ebene lesenswert machen, gewähren sie doch bewegende Einblicke in persönliche Erlebnisse, die in einer solchen Form üblicherweise nicht oder nur selten sichtbar werden.

  1. Diese Arbeit wurde unterstützt durch den Universitären Forschungsschwerpunkt „Human Reproduction Reloaded“ der Universität Zürich.
  2. Barney Glaser, Constructivist Grounded Theory?, in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research 3 (2002), 3, Art. 12.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Affekte / Emotionen Familie / Jugend / Alter Gender Gesellschaft Gesundheit / Medizin Körper Kultur Methoden / Forschung

Linda Alice Bosshart

Linda Alice Bosshart ist Doktorandin am religionswissenschaftlichen Seminar sowie am Universitären Forschungsschwerpunkt Human Reproduction Reloaded | H2R der Universität Zürich. In ihrem Dissertationsprojekt forscht sie qualitativ zum Thema unerfüllter Kinderwunsch und zu religiös begründeten Deutungen und Bewertungen von reproduktionsmedizinischen Verfahren.

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