Frauke Hamann | Rezension |

Eine Milieustudie des eigenen Umfelds

Rezension zu „Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“ von Anne Applebaum

Abbildung Buchcover Die Verlockung des Autoritären von Anne Applebaum

Anne Applebaum:
Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
übers. von Jürgen Neubauer
Deutschland
München 2021: Siedler
208 S., 22,00 EUR
ISBN 978-3-8275-0143-1

Das Aufkommen populistischer Bewegungen, wachsende antidemokratische Tendenzen und zunehmender Autoritarismus erschüttern die liberalen Demokratien. Sie werden – nicht erst seit dem Brexit-Referendum, dem Wahlsieg Donald Trumps 2016 und den Erfolgen nationalkonservativer Regierungen in Osteuropa – vielfach beschrieben und analysiert. Wie tiefgreifend, ja bedrohlich ist die Krise der Demokratie und woher rührt die wachsende Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger?

Die in den USA geborene Historikerin und Publizistin Anne Applebaum, Expertin für die Geschichte autoritärer Regime in Osteuropa, erhielt für ihre Studie Der Gulag (2003) über das Lager- und Repressionssystem in der Sowjetunion den Pulitzer-Preis. Die Nachfahrin ostpolnischer Juden lebt inzwischen in Polen und ist mit dem polnischen Ex-Außenminister und EU-Parlamentarier Radek Sikorski verheiratet. Als bestens vernetzte kosmopolitische Intellektuelle erklärt sie die Silvesterparty am 31. Dezember 1999 auf ihrem Landgut im Nordwesten Polens zum Ausgangspunkt ihres Buches Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist.

Zum damaligen Jahreswechsel versammelte sich im Hause Applebaum/Sikorski eine polyglotte Gästeschar, die mehrheitlich einem proeuropäischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Konservatismus zuzurechnen war. Man sei sich einig gewesen über den Wert der Demokratie, den Weg zum Wohlstand und die generelle politische Richtung, so die Gastgeberin in ihrem Buch. Inzwischen haben sich die gemeinsamen Ansichten aufgelöst, wie Applebaum anhand der politischen Entwicklung in Polen nach dem Wahlsieg der PiS-Partei 2015 (Prawo i Sprawiedliwość, zu deutsch: Recht und Gerechtigkeit) skizziert. Der Schwenk hin zu einer fremdenfeindlichen und autoritären Regierungspolitik ging einher mit dem grundlegenden Umbau von Institutionen. Justiz und Beamtenschaft wurden umgekrempelt, indem man Richterstellen und wichtige Posten in der Verwaltung neu besetzte; Rundfunksender und Verlage mussten beliebte Moderatoren und erfahrene Journalisten entlassen. Die politischen und personellen Turbulenzen wirken sich unmittelbar auf die persönlichen Kontakte aus: „Der Graben verläuft quer durch Familien und zerreißt Freundschaften.“ (S. 17)

Der Rechtsruck, so Applebaum, weist Parallelen zur Entwicklung in den 1930er-Jahren auf. Doch im Gegensatz zu damals stehen die Umwälzungen der letzten Jahre nicht im Zeichen einer Wirtschaftskrise, im Gegenteil: Zwischen 1999 und 2019 hat sich die wirtschaftliche Lage in Polen stark verbessert. Anhand der dortigen Entwicklung sowie der in Ungarn und Großbritannien lautet Applebaums beunruhigende Schlussfolgerung: „Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden.“ (S. 21)

Entsprechend interessiert sie sich dafür, warum Menschen autoritäre Strömungen unterstützen und wie das Umfeld aussieht, in dem Manipulation, Machtmissbrauch und Bereicherung gedeihen. Sie will die Verführungen durch den Autoritarismus erklären, will zeigen, wie er wirkt und vor allem: wer daran mitwirkt. Dabei rekurriert Applebaum auf die „autoritäre Prädisposition“, ein Begriff, den sie der Verhaltensökonomin Karen Stenner entlehnt. Stenner zufolge hat rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung, genährt von der latenten Sehnsucht nach Ordnung und Homogenität. Es gehe dabei nicht um die politische Dichotomie links/rechts, entscheidend sei vielmehr die genuin antipluralistische Stoßrichtung. Personen mit autoritärer Gesinnung könnten Konflikte und Komplexität schwer aushalten – seien also das Gegenteil eines weltoffenen Menschen.

Autokraten brauchen Agitatoren, die Unruhen anzetteln können; sie brauchen Juristen, die Verfassungsbruch begehen; und sie brauchen Autoren, Intellektuelle, Blogger, Medien- und Meinungsmacher, die das Handwerk der Manipulation ebenso beherrschen wie das Entwerfen vermeintlich strahlender Zukünfte.

Doch weder die politische Überforderung, von der Stenner spricht, noch eine Schwäche für Demagogen und Diktatoren erklären den autoritären Siegeszug der letzten Jahre, betont Applebaum. Autokraten brauchen darüber hinaus Agitatoren, die Unruhen anzetteln können; sie brauchen Juristen, die Verfassungsbruch begehen; und sie brauchen Autoren, Intellektuelle, Blogger, Medien- und Meinungsmacher, die das Handwerk der Manipulation ebenso beherrschen wie das Entwerfen vermeintlich strahlender Zukünfte. Nötig sind also „Angehörige der Bildungselite, die helfen, einen Krieg gegen die übrigen Angehörigen der Bildungselite vom Zaun zu brechen, selbst wenn es sich dabei um ihre Kommilitonen, Kollegen und Freunde handelt“. (S. 24)

Die willigen Helfer der Demagogen bezeichnet Applebaum im Rückgriff auf Julien Bendas 1927 veröffentlichten Essay Der Verrat der Intellektuellen als „clercs“. Die clercs bilden – wie schon bei Benda – eine vermeintlich neue und bessere Elite, die wirtschaftliche Beeinflussung und Vetternwirtschaft befördert, kulturelle wie politische Spielregeln verändert, gesellschaftliche Zugänge kontrolliert und die eigenen Gefolgsleute mit guten Posten und Zuwendungen belohnt. Applebaum zufolge zeichnet sich die nationalistische und antidemokratische Welle der letzten zehn Jahre dafür verantwortlich, dass demokratische Institutionen immer mehr in Verruf geraten, während Polarisierungen massiv zunehmen.

Gezielte Desinformationen fallen in Polen auf fruchtbaren Boden. So schuf die Behauptung, die Tragödie von Smolensk – der Absturz des Präsidentenflugzeugs im April 2010 – gehe auf eine Verschwörung zurück, große Unsicherheit. Dadurch wuchs bei einigen Bürgerinnen und Bürgern die Bereitschaft, auch anderen, teils abenteuerlich konstruierten Lügen zu glauben. Die Demokratie gilt vielen als zu schwach, zu unoriginell, zu unentschlossen. Zudem empören sich die Unzufriedenen, dass sie bislang nicht jene Positionen in Politik, Wirtschaft und Kultur erreicht hätten, die ihnen ihrer Ansicht nach zustünden. Gerade die Frustration über die eigene gesellschaftliche Stellung wird zum Movens vieler vermeintlich zu kurz Gekommener: „Die Verlierer werden immer früher oder später den Wert des Wettbewerbs selbst infrage stellen.“ (S. 65) Wenn – aufgrund eines stärkeren Wunsches nach Einheit und Harmonie – die Akzeptanz für das Wettbewerbsprinzip schwindet, ist die Demokratie gefährdet.

Applebaums Erkundungen im intellektuellen Milieu zeigen die Gefallsucht ebenso wie den Opportunismus einer mit großem Geltungsdrang ausgestatteten und entsprechend auf Anerkennung und Erfolg fixierten Personengruppe. Ihre Erkenntnisse illustriert sie mit Beispielen aus ihrem Umfeld. So leitet John O’Sullivan, einst Redenschreiber von Margaret Thatcher und Herausgeber der National Review, mittlerweile das Danube Institute in Budapest. Der konservative Think Tank versucht, der ungarischen Regierung einen respektablen Anstrich zu geben. Die Historikerin Mária Schmidt, 1999/2000 noch Gast auf Applebaums eingangs geschilderter Party, ist inzwischen eine enge Vertraute Viktor Orbáns und macht in einem Interview, das Anne Applebaum mit ihr führt, aus ihrer Aggressivität und Verachtung keinen Hehl. Und Boris Johnson, wie die Autorin einst Korrespondent des Daily Telegraph und ehemaliger Kommilitone ihres Ehemanns Sikorski, sei selbstverliebt, faul und ein notorischer Lügner, verfüge aber leider über ein untrügliches Gespür für Stimmungen und habe unheimlich viel Charisma. Ein schon allein aufgrund vieler journalistischer Erfindungen und gefälschter Zitate diskreditierter Mann habe nur nach dem Brexit-Referendum Premierminister werden können.

Applebaums Essay speist sich aus Gesprächen und Beobachtungen in ihrem persönlichen und beruflichen Bekanntenkreis. Auf diesem Weg versucht sie zu ergründen, wie demokratische Institutionen angegriffen, ausgehöhlt und allmählich zerstört werden. Sie befürchtet, dass Demokratien womöglich zu selbstgewiss sind und dadurch blind werden für die Gefahren, die von populistischen Kräften ausgehen. In ihrem Artikel „The Oligarch Who Turn Democracy into Something Else“[1] stellt sie klar, dass Demokratien heutzutage nicht zwangsläufig mit Panzern oder der Erstürmung des Präsidentenpalastes beseitigt werden – auch wenn es derlei Versuche nach wie vor gibt, wie die Ereignisse des 6. Januar 2021 zeigen. Einen Ein-Parteien-Staat könnten gesellschaftspolitisch einflussreiche Akteure auch ganz allmählich installieren. Dazu müssten sie ‚nur‘ einige Regeln verändern, die Justiz unter Druck setzen und missliebige Medien ausschalten. Das dafür nötige ‚Kleingeld‘ käme meist von Oligarchen, die nur zu gern bereit sein, derartige Zwecke und Projekte finanziell zu unterstützen. In vielen Fällen sei ein solch sukzessiver Umbau des Staates wesentlich effektiver und lukrativer als ein klassischer coup d’etat.[2]

Die Autorin legt ausdrücklich keine systematische Betrachtung vor wie zum Beispiel Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch Wie Demokratien sterben (2018)[3] oder Robert Misik in Die falschen Freunde der einfachen Leute (2019). Dem Historiker Jackson Lears ist zuzustimmen, wenn er darauf verweist, dass in Applebaums Darstellung die Stimmen der „normalen Bürger“ fehlten.[4] Sie reduziere den Populismus „auf eine Schöpfung von hinterhältigen Politikern, die eine illiberal eingestellte Bevölkerung manipulieren“.[5] Zudem pendle das Buch „zwischen geschwätzigen, anekdotischen Schilderungen von Begegnungen mit den Mächtigen dieser Welt auf Partys, in Restaurants und Bars und wolkigen, abstrakten Formulierungen über das alltägliche Leben, die klingen, als seien sie im Flugzeug formuliert worden, auf einem Erste-Klasse-Sitz hoch über dem Atlantik“.[6] Auch wenn Lears den Finger auf einige wunde Punkte in Applebaums Arbeit legt, ist es wohlfeil, die Autorin als Angehörige jener Meritokratie zu kritisieren, deren Selbstgefälligkeit und Konformismus sie anprangert. Schließlich kennzeichnet sie ihr Buch von vornherein als Milieustudie ihres eigenen Umfelds.

Meines Erachtens ist der nach der Lektüre gewonnene Eindruck, Applebaum betrachte die politischen Umbrüche lediglich anekdotisch statt analytisch, weitaus kritikwürdiger. Sie bietet keine Begriffserklärungen und ihren Ausführungen fehlt die argumentative Stringenz. Zweifellos kamen die Rechtspopulisten durch die Unterstützung etablierter konservativer Kräfte an die Macht. Doch wann genau haben Politik- und Demokratieverachtung begonnen und was sind die spezifischen Gründe für die sich weiter radikalisierende autoritäre Entwicklung, die wir ausgerechnet in den letzten Jahr(zehn)ten beobachten können? Nicht nur kann die Autorin auf diese Fragen keine neuen Perspektiven oder Überlegungen, geschweige denn überzeugende Antworten liefern, auch der Ausblick, Demokratie müsse im digitalen Zeitalter neu gedacht werden, bleibt unbefriedigend und schwammig.

  1. Anne Applebaum, The Oligarch Who Turn Democracy into Something Else [28.7.2021], in: The Atlantic, 9.6.2021.
  2. Ebd.
  3. Für eine Besprechung des Buches siehe die Doppelrezension Alarm und Analyse [28.7.2021].
  4. Jackson Lears, Orthodoxy of the Elites [28.7.2021], in: New York Review of Books, 14.1.2021.
  5. Lears’ Essay erschien unter dem Titel „Orthodoxie der Eliten“ in dt. Übersetzung in: Merkur (2021), 4, S. 62–73, hier S. 70.
  6. Ebd., S. 68.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Demokratie Internationale Politik Macht

Frauke Hamann

Frauke Hamann studierte Germanistik und Geschichte und ist als freie Journalistin und Lektorin tätig. (© Thies Ibold)

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