Joseph Vogl, Martin Bauer | Interview | 18.03.2021
Eine neue kapitalistische Ontologie
Joseph Vogl im Gespräch mit Martin Bauer zu "Kapital und Ressentiment"
Wieso Kapital und Ressentiment? Ist von einer Relation die Rede, die eine noch nicht völlig abgestorbene Tradition als diejenige zwischen Basis und Überbau gefasst hatte?
Die Konjunktion von Kapital und Ressentiment verweist auf eine komplexe Geschichte des Kapitalismus, und man muss wohl zunächst in Erinnerung rufen, dass sich dieser Begriff des „Kapitalismus“ seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert auf ebenso vielfältige wie latente Bedingungen und Effekte kapitalgetriebenen Wirtschaftens bezog. Dazu gehörten Unternehmensstrukturen oder Eigentums- und Arbeitsverhältnisse genauso wie Wissensformen und bestimmte Mentalitäten. Zudem scheint die Gegenüberstellung von Basis und Überbau zwar eine klare Sortierung ökonomischer und sozialer Faktoren zu bieten – etwa zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen oder zwischen materiellen Voraussetzungen und irgendwie geistigen Manifestationen. Allerdings wird diese Dualität bei genauem Hinsehen recht unklar und verliert ihre begriffliche Schärfe: Gehört die doppelte Buchführung zur Basis oder zum Überbau? Wohin sortiert man pädagogische Praktiken oder die Disziplinarmächte? Die Thermodynamik und den physikalischen Arbeitsbegriff? Oder die gegenwärtige Informationstheorie? Auf welcher Seite operieren Zentralbanken? Vor dem Hintergrund solcher Grauzonen habe ich behauptet, dass bestimmte Affektlagen – wie eben das Ressentiment – nicht nur Effekte und Produkte, sondern womöglich auch Ressourcen und Produktivkräfte im Wirtschaftssystem darstellen.
Und wie finden sich Ökonomie und Affektökonomie im Lichte Ihrer Analyse dann miteinander verschaltet?
Die Entstehung von Marktbeziehungen und kapitalistischen Geschäften war seit der frühen Neuzeit nicht nur mit Rationalisierungsprozessen und dem Aufstieg einer kaufmännischen, rechnenden Vernunft verbunden. Zeitgenössische Moralphilosophen und Sozialtheoretiker haben auch einen anthropologischen Aufruhr, eine Art Umwertung aller Werte, eine Neuordnung von Leidenschaften und Affekten beobachtet: Ältere christliche Todsünden oder Hauptlaster wie Geiz, Neid und Verschwendung wurden nun produktiv gewendet und von der Feststellung begleitet, dass sich weniger die Tugenden denn vielmehr ungehemmte Passionen und Begierden als besonders erfinderisch, listig und schöpferisch erweisen. Das bedeutet natürlich, dass man Affekte nicht bloß als innerpsychische Regungen, sondern als soziale Beziehungsgefüge, als Kommunikationsakte begreift, als eine Art Basis für die Zirkulation sozialer Energie. So funktionierte das bereits bei Adam Smith: In seiner Theorie der ethischen Gefühle wird die bürgerliche Gesellschaft nicht nur durch einen Kreislauf von Sympathien zusammengehalten. Die Marktgesellschaft wird auch durch diabolische Affekte angetrieben, durch resentment oder ‚Vergeltungsgefühle‘, sofern es in dieser Ökonomie zwangsläufig ums Verdienen, ums Belohnen und Bestrafen geht. Ohne die Mobilisierung von Affekten gibt es keinen einträglichen Geschäftsverkehr, Affekte wären hier also so etwas wie eine produktive Selbsterregung des Systems.
Welche Rolle übernimmt in diesem Zusammenspiel von Geld und Affekt das, was Sie als Information identifizieren?
Abgesehen davon, dass das Geldwesen schon seit den frühesten, etwa aristotelischen Überlegungen mit einem entgrenzten Verlangen assoziiert wurde und sich bis hin zu dem verfolgen lässt, was Marx die „abstrakte Genußsucht“ des Kapitalisten genannt hatte, kann man mit der Einführung von Informationsbegriffen in Theorie und Praxis der Finanzmärkte eine neue Spielart im Charakter systemischer Wallungen verzeichnen. Bereits bei Friedrich Hayek wird der Markt als Informationsprozessor, als „Mechanismus für die Kommunikation von Information“, begriffen, und das hat nicht nur die Voraussetzung für die Einpflanzung von Rechenmaschinen und Algorithmen im Geschäftsverkehr geschaffen. Vielmehr wird damit der Finanzmarkt als mechanisiertes Signalsystem eingerichtet, als Gefüge von Automatismen, wo sich Kommunikationen dann als eine Serie von sozusagen präkognitiven, also reflexhaften und vorbewussten Reaktionen auf Preissignale ereignen. Diesen automatisierten Marktprozessen könnte man darum eine eigene maschinelle ‚Triebstruktur‘ attestieren.
In politiktheoretischen Arbeiten aus den 1970er-Jahren spielt Niklas Luhmann die Überlegung durch, Herrschaft verflüchtige sich in der modernen, das heißt für seine Begriffe in unterschiedliche Sozialsysteme ausdifferenzierten Gesellschaft zur Steuerung von Kognition. Teilt Ihr Konzept von „Kontrollmacht“ eine solche Intuition?
Nein, was ich Kontrollmacht nenne, und zwar mit Rückgriff auf den kleinen und berühmten Aufsatz von Gilles Deleuze über „Kontrollgesellschaften“, lässt sich gerade nicht mit der Ausdifferenzierung sozialer Funktionssysteme fassen. Bereits in Der Souveränitätseffekt hatte ich zu zeigen versucht, wie die Unterscheidung von politischen und ökonomischen Teilsystemen – oder im liberalen Jargon: die Entgegensetzung von Staat und Markt – blinde Flecken erzeugt und besondere Dynamiken des modernen Finanzkapitalismus und damit verbundene Regierungspraktiken nicht in den Blick zu rücken vermag: Das Finanzwesen etwa hat sich in Indifferenzzonen und in engen Symbiosen von Staatsapparaten und privaten Financiers, in der wechselseitigen Konvertierung von Kapitalmacht und Machtkapitalien formiert. Ähnliches betrifft die Kontrollprozesse, die mit neuen Unternehmensformen wie Plattformindustrien und Digitalkonzernen installiert werden. Gerade die Wirkungsweise von Netzwerkarchitekturen und digitalen Technologien lässt sich nicht allein mit einer sektoralen, das heißt wirtschaftlichen, Analyse ermessen. Ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, dass sie alle möglichen, ökonomischen und sozialen, öffentlichen und privaten Bereiche durchquert und damit die gouvernementale Effizienz des Informationskapitalismus sichert. Auch die jüngsten Kontrollverfahren von Plattformunternehmen sind nur über eine funktionale Entdifferenzierung erfassbar und prägen somit Einsatzbereiche, die von Sicherheitsdiensten zur Gesundheitspolitik, von Finanzprodukten zum Bildungswesen, von der Wissenschaft zur militärischen Aufklärung, von Polizeiarbeit bis zum Marketing reichen. Im Grunde wird damit eine von Michel Foucault einmal aufgeworfene Frage weiterverfolgt: Bis wohin kann sich die „soziale und politische Informationsgewalt des Marktes“ erstrecken? Mit dem Begriff der „Kontrollmacht“ ist also Informationskontrolle und damit die Expansion und Verstreuung informationsökonomischer Regierungstechniken über das Fleisch der Gesellschaft gemeint.
Nehmen wir an, dass sich der sogenannte kognitive Kapitalismus nicht zuletzt über die Ausformung von Wissensordnungen stabilisiert, die konstitutiv für die Etablierung sämtlicher Welt-, Sozial- und Selbstverhältnisse sind. Welchen Ort besetzt in dieser Strukturierung dessen, was als Wissen etwa im Gegensatz zum Meinen gilt, ein Phänomen, das Sie als „das Meinungshafte“ beschreiben?
Schwierige Frage. Hier muss man wohl eine Linie ziehen, die von der Informatisierung der Finanzmärkte seit den 1970er-Jahren bis zur Privilegierung von Meinungsmärkten auf Plattformen und in sozialen Medien führt. Dabei kommen zwei Dinge zusammen. Das eine betrifft den radikalen Ausnahmestatus, den Internetprovider durch eine US-amerikanische Gesetzgebung seit Mitte der 1990er-Jahre erhalten haben. Zusammen mit der rabiaten Privatisierung öffentlicher Netzwerke wurde mit dem sogenannten Communications Decency Act, Paragraph 230, von 1996 eine Art Internet-Exzeptionalismus geschaffen: Netzanbieter sind von nun an keine Publisher oder Verleger mehr, sondern nur noch Makler oder bloße Vermittler, die keine Verantwortung und Haftung für ihre Produkte, für die dort vertriebenen Inhalte übernehmen müssen. Ein beispielloses Haftungsprivileg: Wer veröffentlicht, ist nicht verantwortlich, wer aber Content verantwortet, betreibt keine Veröffentlichung. Die dort zirkulierenden Äußerungen werden mit Berufung auf den Ersten Verfassungszusatz über Meinungsfreiheit auf das Meinungshafte reduziert, also von jeder Haftung, von Rechtfertigungs- oder Begründungszwängen dispensiert.
Der andere Aspekt liegt in der Logik von technischen Informationsbegriffen selbst begründet. Sie garantieren etwa die systemische Verknüpfung von Preisen und Kaufentscheidungen, also das Funktionieren von automatisierten Finanzmärkten, bestimmen aber auch die Verarbeitung digitaler Artefakte durch die Algorithmen in der Plattformindustrie. Dabei wird das Maß der Information weniger von semantischen Inhalten oder Sachbezügen, als von der Differenz zu jeweils bestehenden Erwartungsstrukturen bestimmt. Als „Differenz, die eine Differenz macht“ (wie Gregory Bateson das einmal formulierte), lässt sich Information somit als eine Unterscheidungsgröße begreifen, die gegenüber anderen Unterscheidungen – wie zwischen Gegebenem und Nichtgegebenem, Vorhandenem und Nichtvorhandenem, Behauptetem und Bewiesenem etc. – unempfindlich bleibt. Die ‚Wahrheit‘ von Informationen wird nicht von konkreten Inhalten, sondern von den in ihnen gelieferten Erwartungs- oder Anzeigeunterschieden repräsentiert. In technischen Kommunikationssystemen ist Information gleich Überraschungsdifferenz. Im automatischen Handel lösen Preisänderungen eben Kauf- oder Verkaufsreflexe aus, und auf den Meinungsmärkten hat gegenwärtig etwa die Behauptung, die Erde sei flach wie eine Pizza, einen höheren Informationswert als das Ansinnen, die Erde müsste eigentlich eine Kugel sein. Somit sollte man Information strikt von Wissen unterscheiden: Information ist automatisierbar, skalierbar, algorithmisierbar, sie ist also Wissen minus Nachweis und Rechtfertigung. Dagegen wäre das Wissen selbst über irreduzible und unabsehbare Begründungs- und Recherchewege definiert. Und das markiert den privilegierten Ort des Meinungshaften: In ihm überkreuzen sich rechtliche Ausnahmebedingungen, automatische Bewertungsprozesse und die informationsökonomischen Geschäftsmodelle der Plattformindustrie. Von den Finanzmärkten bis zu gegenwärtigen Meinungsmärkten gilt also ein Informationsstandard, der alle Äußerungen auf den gemeinsamen Nenner dessen verpflichtet, was man ‚Infopinion‘ nennen könnte. Eine epistemologische Krise.
Ergänzt man die für die Selbstbeschreibungen der liberalen Moderne grundlegende Trias von Legislative, Exekutive und Juridikative um diejenige Gewalt, die Sie als „Monetative“ kennzeichnen, ergibt sich eine neue historische Konfiguration. Wie stellt deren Aufkommen nach Ihrer Ansicht das herkömmliche Verständnis von Staatlichkeit infrage, zumal dasjenige demokratischer Rechtsstaatlichkeit?
Seit der Frühen Neuzeit lässt sich eine Dynamik beobachten, in der sich zentrale Elemente des Fiskal- und Finanzwesens – etwa Münzregal, Geldschöpfung und Geldmonopol, öffentlicher Kredit, Währungsangelegenheiten – aus der Kompetenz souveräner Staaten herausgelöst und sich zu isolierten Machtenklaven verwandelt haben. Dafür sind dann eigene institutionelle Formate herangewachsen, also beispielsweise Zentral-, National- und Notenbanken, die sich in einer mehr als 300-jährigen Geschichte zu einer separaten Regierungsinstanz entwickelten. In prominenten Exemplaren zeichnen sie sich heute, sehr schematisch formuliert, durch zwei Besonderheiten aus. Das betrifft einerseits ihre Abgrenzung beziehungsweise Immunisierung gegenüber bestehenden Regierungsgewalten, insbesondere gegenüber der Exekutive und der Legislative. Die hat man immer wieder mit dem Dogma der Unabhängigkeit von Zentralbanken umschrieben, das eine strikte Abtrennung von souveränen Aufgaben wie Geld- und Währungspolitik von nationalstaatlicher Fiskal- und Wirtschaftspolitik rechtfertigen sollte – eben die Formierung einer vierten monetativen Gewalt. Andererseits sind sie mit ihren Auftragslagen wie Währungs- und Preisstabilität, Regulierung von Geldmengen, Sicherung des Finanz- und Bankensystems eng mit den Bewegungen und Akteuren auf den Finanzmärkten verflochten. Der Abdichtung gegen demokratische Entscheidungsprozesse steht eine strukturelle Offenheit zum Finanzpublikum gegenüber. Die Verantwortlichkeit solcher Institutionen ist also auf eine gewisse Einseitigkeit programmiert. Und lässt eine Tendenz bemerken, in der die Handlungsmacht von Finanzmärkten zwar auf politische Handlungsspielräume zurückwirkt, demokratische Prozeduren aber gegenüber dem Finanzwesen weitgehend wirkungslos und ohnmächtig bleiben. Als Regierungsinstitute bieten Zentralbanken eine Art Minderheitenschutz für die Vertreter der Finanz gegenüber wechselhaften demokratischen Mehrheiten; über Zentralbanken sind Finanzmärkte und deren Agenturen zu einem integralen Bestandteil von Regierungspraxis geworden und manifestieren sich dort mit ihrer parademokratischen Natur. Und vielleicht muss man hinzufügen, dass sich solche Asymmetrien spätestens seit den 1990er-Jahren verschärft haben, also seit der Liberalisierung von Finanzmärkten und der Finanzialisierung der Weltwirtschaft, und dann noch einmal nach 2008. Man spricht inzwischen vom Übergang eines regierungsgesteuerten zu einem marktgesteuerten Finanzsystem und muss eine eskalierende Privatisierung der Geldschöpfung konstatieren, in der selbst die Interventionskräfte der Zentralbanken dahinschwinden. In gewisser Weise sind Finanzmärkte zu einem Gefängnis für politische Systeme und Regierungsaktivitäten geworden.
Angesichts der „politischen Geographie“, die Ihr Buch als „ein Palimpsest“ vermisst, in dem sich, ich zitiere sinngemäß, wandernde Wirtschafts- und Handelszonen, privatisierte Währungsgebiete und Netzwerke in einer Weise überlagern, dass sich fluktuierende Hegemonien staatlicher wie parastaatlicher Akteure in regelloser Folge ablösen, findet sich die Vorstellung blamiert, die Funktion von Politik sei es, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu fällen. Ist Politik in Ihrer Auffassung überhaupt noch als eine Sphäre denkbar, in der Deliberation zu Entscheidungen führt, die mit Akzeptanzbereitschaft rechnen dürfen?
Mit dem „Palimpsest politischer Geographie“ habe ich eine Situation gemeint, die sich durch einen Übergang von einer geopolitischen Ordnung zu einer geoökonomischen Ordnung auszeichnet. So kann man etwa das internationale Finanzregime als Spielart einer global governance, als eine transgouvernementale Handlungsmacht begreifen, die sich von territorialen Verankerungen und nationalstaatlichen Gesetzgebungen losgelöst und eigene privatrechtliche Geschäftsbedingungen geschaffen hat. Zudem lässt sich im gegenwärtigen Informationskapitalismus, mit Plattformunternehmen, sozialen Medien, Bezahldiensten und neuen privaten und digitalen Geldformen eine Veränderung in der Architektur von Währungssystemen und womöglich auch in der Rolle von nationalen Währungen verzeichnen. Die Kartografie von Nationalstaaten wird von verstreuten finanzökonomischen Akkumulationszentren und Einflussgebieten überschrieben. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die sogenannte Politik und insbesondere die Regierungen westlicher Industriestaaten dabei keineswegs ohnmächtig oder unschuldig waren. Sie haben – ganz im Gegenteil – solche Entwicklungen seit den 1970er-Jahren mit heftigen Interventionen, mit gesetzgeberischen Maßnahmen und wirtschaftspolitischen Kampagnen forciert, nicht zuletzt mit der ergiebigen Resonanz eines ideologischen Milieus, das inzwischen hinreichend ausgeleuchtet wurde und für eine breite Akzeptanz der diversen Neoliberalismen in der Nachkriegszeit sorgte. Mit anderen Worten und möglichst einfach gesagt: Es waren nicht zuletzt politische Entscheidungsprozesse, es war eine gezielte Reichtumsförderungspolitik, die sich um die Privilegierung von Kapitalvermögen, den takeoff internationaler Finanzmärkte und die Begünstigung global operierender Konzerne kümmerte. Der umgekehrte Weg dürfte allerdings schwieriger sein.
Die offenkundig durch ständige Zerwürfnisse bedrohte Ehe, die Kapitalismus und Demokratie historisch eingegangen sind, hat Wolfgang Streeck in einem berühmt gewordenen, Ende der 1990-Jahre veröffentlichten Aufsatz gewürdigt, in dem er von „beneficial constraints“ sprach, die in einem sozialstaatlich eingehegten Kapitalismus dafür gesorgt haben, dass sich dessen autodestruktive Potenziale nicht ungehindert aktualisieren konnten. Gibt es unter Ihrer Perspektive auf den Finanzkapitalismus noch ‚wohltuende‘ Einhegungsoptionen, mit denen sich demokratische Politik auf nationaler wie globaler Ebene ihrer drohenden Zerstörung erwehren könnte?
Ja, mit dem Ende der wohlfahrtsstaatlichen Kompromisse seit den 1980er-Jahren war die Erwartung verbunden, die kapitalistische Marktwirtschaft könnte doch mehr Elend vertragen, als man es in der Nachkriegszeit befürchtet hatte. Der dann angeschobene Finanzmarktkapitalismus sollte das belegen. Aber vielleicht gibt es nun ein paar zarte Hinweise für die Bereitschaft, solche Exzesse zu begrenzen. Eine jüngste Überraschung wurde schon mit den Corona-Hilfspaketen bereitet. Mit einem Mal galten ältere dogmatische Sperrbezirke nicht mehr. Die Einklammerung von Maastricht-Kriterien, schwarzer Null oder Schuldenbremsen, der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB, die Verstaatlichung von Lohnzahlungen und Verlusten haben deutlich gemacht, dass man es bei diesen Marken nicht einfach mit fiskaltechnischen Notwendigkeiten, sondern mit eminent politischen und also revidierbaren Grenzziehungen zu tun hatte, mit Aktionsprogrammen zur Durchsetzung finanzpolitischer Ziele: In den Krisenzeiten nach 2008 wollte man ja über Haushaltsdisziplin und Spardiktate das Zutrauen privater Gläubiger gewinnen, verlässliche öffentliche Schuldner erzeugen und unter Einschränkung fiskalischer Hoheit den Forderungen der Finanzindustrie Vorrang gewähren. Auch wenn man es noch nicht ausdrücklich eingestehen will – seit April 2020 hat sich eine schleichende Umordnung im Katalog finanzökonomischer und volkswirtschaftlicher Kriterien eingestellt.
Daran könnte man durchaus anknüpfen, wobei es wohl weniger um radikale ‚Zwangsmaßnahmen‘, sondern zunächst nur um solche Interventionen geht, welche die einstmals gewollte Abhängigkeit von Finanzmärkten reduzieren. Und so wenig der gegenwärtige Finanz- und Informationskapitalismus ein homogenes System darstellt, so sehr bieten sich vielleicht unterschiedliche Angriffspunkte zu seiner Einhegung an. Neben den bekannten steuerpolitischen Potpourris – von Finanztransaktionssteuern über Vermögenssteuern bis hin zur Bekämpfung systematischer Steuervermeidung – gäbe es eine Reihe von europäischen Gesetzesinitiativen, die insbesondere die Geschäftspolitik von Internetkonzernen anvisieren: sei es der Digital Services Act oder der Digital Markets Act, wo es um die Begrenzung von Datenextraktion, Tracking und micro targeting, um die Einschränkung von Marktmacht, um die Regulierung proprietärer Märkte, um das kritische Verhältnis von Meinungsfreiheit und anderen Persönlichkeitsrechten, um die Durchsetzung von Datenschutzverordnungen oder die Verschärfung von Haftungsregeln für Internetprovider geht; oder sei es der Data Governance Act, der den Abtransport und die Monopolisierung von Nutzerdaten in privaten US-amerikanischen Datenraffinerien unterbrechen soll. Das alles ist nicht revolutionär, aber wohl ein Indiz dafür, dass der gegenwärtige Finanz- und Internetkapitalismus selbst heftigen Fürsprechern etwas unheimlich geworden ist.
Eine der provozierenden Thesen Ihres Buches besagt, der Populismus, so wie er sich gegenwärtig im Modus des Ressentiments als „Sozialeffekt“ manifestiere, sei kein der Demokratie äußerlicher Exzess, keine befremdliche Pathologie, sondern eine demokratisch verfassten Gemeinwesen eingeschriebene Disposition. Was hat Sie zu diesem Befund geführt? Offenkundig geht es Ihnen ja nicht um eine kühne sozialpsychologische Generalisierung?
Das ist richtig, es geht in dieser Wendung keineswegs um Psychologie, sondern um die Frage, wie sich bestimmte Gesellschaftsordnungen affektökonomisch ratifizieren. Und darum, was gegenwärtige Debatten über fragmentierte Öffentlichkeiten und politische Polarisierung, über Demokratieverlust und eine Konjunktur der Verlogenheit mit ökonomischen und technischen Infrastrukturen zu tun haben könnten. Dabei dreht sich die Frage weniger um demokratische Strukturen als um die Dynamik marktwirtschaftlicher Prozesse. Zwei Ansatzpunkte. Der erste betrifft die Zeit seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Beobachtung, dass man im Zeichen von expandierender Kapital- und Finanzwirtschaft, entstehenden Liberalismen und der Dynamik von Gründerzeiten angefangen hat, über die toxischen Effekte ressentimentaler Regungen in modernen Gesellschaften nachzudenken – etwa von Kierkegaard und Nietzsche bis Werner Sombart und Max Scheler. Dabei hat man, grob gesagt, im Ressentiment ein moralökonomisches Pendant zu wirtschaftsliberalen Verkehrsformen, Konkurrenzsystem und neuen Bereicherungsformen erkennen wollen. Es wurden ein Sozialaffekt und eine Werthaltung ausgemacht, in denen sich eben, mit Kierkegaard gesprochen, ein „negativ-einendes Prinzip“, eine „negative Einheit der negativen Gegenseitigkeit der Individuen“ manifestierte. Ein neuer objektiver Geist. Das Ressentiment wäre somit das marktökonomische Moralprinzip schlechthin, eine affektive Grundausstattung der Gewinnler und Profitler. Und das heißt: Sofern das Ressentiment unter den Knappheitsgeboten der Marktwirtschaft operiert, lässt es – als Vergleichsbewusstsein, als Vergeltungsgefühl – jedermann daran glauben, irgendein ominöser Anderer hätte ihm stets etwas weggeschnappt.
Der zweite Fluchtpunkt liegt in der gegenwärtigen Kapitalisierung von Meinungsmärkten durch Plattformen und Soziale Medien. Hier geht es um profitable Geschäftsmodelle, die auf der Aktivierung von Ressentimentbereitschaft beruhen. Dabei lassen sich einige Elemente und Befunde versammeln: die Reduktion von Verlautbarungen auf das Meinungshafte, wuchernde Evaluations- und Urteilslust, sich selbstverstärkende Mechanismen, Tribalisierung und die Partikularisierung von Nutzergemeinschaften, eine auf schnelle Treffer ausgerichtete ‚ballistische‘ Kommunikation, Produktion von Vermittlungsphobien, von Unmittelbarkeitsillusionen bezüglich der Teilhabe an politischer Macht. Damit könnte man das Ressentiment als besondere Ressource für die Bewirtschaftung des Sozialen durch das Finanz- und Informationskapital begreifen. Es handelt sich um eine soziale und politische Mobilisierung, um einen ‚strukturellen Populismus‘, um einen Businessplan, mit dem community feedback loops, soziale Verklumpungen und identitätspolitische Befangenheiten den Blick auf das universelle Inklusionsstreben von Social Media und Informationskonzernen verstellen. These: Gerade durch die technoökonomische Erzeugung und Verstärkung allgemeiner Konformismen werden soziale Divergenzkräfte stimuliert.
Eine vorletzte Frage: Der Untertitel des Buches kündigt eine kurze Theorie der Gegenwart an, über die es im Vorwort spezifizierend heißt, ihr Gegenstand seien „Umstände und Bedingungen“, die „eine Verständigung über diese Gegenwart und deren Herstellung erst ermöglichen“. Verstehe ich Sie richtig, wenn damit betont werden soll, es handle sich bei der „kurzen“ Theorie um so etwas wie ein Prolegomenon, eine Vorarbeit, eine tentative Sondierung im Gelände der Jetztzeit? Welche Schritte müssten sich in Ihrer Imagination anschließen, würde Kapital und Ressentiment gewissermaßen ‚nur‘ die Voraussetzungen, das historische Apriori, klären, das definiert zu sein hätte, wollten wir schließlich „unsere Zeit in Gedanken“ fassen?
Eine vorletzte und vorläufige Antwort: Ich wollte damit auf eine jüngste Herausforderung für die ökonomische Analyse, für eine kritische Theorie, für eine Machtanalytik aufmerksam machen. Während sich Ideologiekritik im Schatten des Industriekapitalismus auf Formen der Verdinglichung und Kommodifizierung von Arbeits- und Sozialverhältnissen, auf die Phantasmagorien, den Fetischismus und die Verzauberung von Waren- und Konsumwelten konzentrierte, hat man es nun mit einer neuen kapitalistischen Ontologie zu tun. In ihr wird Monetarisierung durch Informatisierung überboten, es hat sich eine Hegemonie von Codes und Informationsstrukturen eingestellt. Damit steht die Produktion des Wirklichen selbst auf dem Spiel. Der Kapitalismus ist ontologisch verwurzelt und schickt sich an, das Geflecht elementarer Seinsbeziehungen zu prägen: Datenstruktur, Weltverhältnis und Wertform sind konvertibel geworden, die Erfassung und Darstellung von Welt ist ununterscheidbar von ihrer Bewirtschaftung. Daraus würden sich die weiteren Fragen ergeben: nach einer Kritik digitaler Rationalität, nach einer Mikrophysik der Macht auf der Ebene von Hard- und Software, nach einer epistemischen Recherche, die sich auf eine Ausweitung von Ignoranzzonen inmitten in einer informationellen Explosion bezieht; schließlich die Frage danach, auf welche Weise Finanzialisierung, Meinungsmärkte und ihr Zusammenhang in den Bestand und in die Ausrichtung normativer Ordnungen eingreifen.
Ihr Buch entlässt seine Leserschaft mit einer düsteren Vermutung. Sie schreiben, dass „die Feindseligkeit aller gegen alle“ sowohl zu einem „erfolgreichen Geschäftsmodell“ als auch zu einem „überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl“ geworden sei, das – so der letzte moll-Akkord mit erheblichem Nachklang – „das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern“ könnte. Wie pessimistisch sind Sie?
Pessimistisch, weil realistisch und mit einem Talent fürs Schwarzmalen geschlagen. Ich würde mich aber nicht gegen die Unterstellung wehren, dass sich darin eine apotropäische Geste verpuppt. Nur kommt die düstere Vermutung nicht aus heiterem Himmel, und ich möchte an zwei Dinge erinnern. Das Gemeinschaftsgefühl, in dem sich die Abneigung aller gegen alle zusammenzieht, war für Robert Musils Analyse des Jahres 1913 im Mann ohne Eigenschaften einstmals eine brandige Spur, die in den Ersten Weltkrieg führte. Und in der nüchternen Sprache der Wirtschaftsstatistik, die man etwa bei Thomas Piketty nachlesen kann, lautet das: Vermögenskonzentrationen und eskalierende Ungleichheiten in der Einkommensverteilung wie heute gehörten in den letzten 150 Jahren zur verlässlichen Signatur von Vorkriegszeiten.
Kategorien: Digitalisierung Kapitalismus / Postkapitalismus Wirtschaft
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