Anna Kluge | Rezension | 22.03.2023
Eine politische Angelegenheit
Rezension zu „Politiken der Reproduktion. Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder“ von Marie Fröhlich, Ronja Schütz und Katharina Wolf (Hg.)

Im vergangenen Jahr kippte das US-amerikanische Verfassungsgericht mit „Roe vs. Wade“ eine Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht, in Ungarn wurden die Regelungen für einen Schwangerschaftsabbruch verschärft. Das französische Parlament wiederum ließ das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankern. 2022 führte eindrücklich vor Augen, dass Reproduktion nicht nur biologische Basis aller Menschen, sondern nicht zuletzt ein politisch umkämpftes Konfliktfeld ist. Zentrales Moment in der Reproduktionsdebatte ist das Recht auf und der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen; doch sollten die vielfältigen weiteren Aspekte – etwa Empfängnisverhütung, Schwangerschaft, Familiengründung – nicht außer Acht gelassen werden. Hier hinkt die akademische Debatte mitunter hinterher. Einzelne Themen werden zwar ausgiebig beforscht und diskutiert, ihr Zusammenhang jedoch selten systematisch reflektiert. An dieser Stelle setzt der Sammelband Politiken der Reproduktion an, seine 20 Beiträge beleuchten den Forschungsgegenstand interdisziplinär und verhandeln seine gesellschaftlichen Verstrickungen anhand des deutschen Kontextes.
Die in dem Band bearbeiteten Forschungs- und Themenfelder werden von den Herausgeber:innen Marie Fröhlich, Ronja Schütz und Katharina Wolf in einem einleitenden Kapitel zusammengeführt, in dem sie die „Politiken der Reproduktion“ als rechtliche, wirtschaftliche, soziale sowie technische Regulation von Reproduktion definieren und auf die Verflechtung der jeweiligen Felder verweisen. Fröhlich et al. schreiben: „Der Begriff Politiken der Reproduktion umfasst […] Praktiken, Regulierungen, Vorstellungen, Normen und Wissensbestände, die sich auf menschliche Fortpflanzung beziehen“ (S. 15) und unterteilen sie in drei Abschnitte: (1) die Zeit vor einer Schwangerschaft (Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, medizinisch assistierte Reproduktionstechnologien), (2) Schwangerschaft und Geburt (Pränataldiagnostik, Geburtserfahrungen und postpartale Betreuung) und (3) das „Leben mit Kindern“ (ebd., gemeint ist etwa die soziale und rechtliche Konstruktion von Familie sowie die Gestaltung des Familienlebens). Insofern spielt sich die Regulation von Reproduktion – also die Frage, wer, wann (nicht) schwanger werden und wer, wann, wie welche Familie gründen kann und darf – auf einer Vielzahl von Schauplätzen ab. Die Herausgeber:innen betonen zudem, dass es sich bei dem Zusammenspiel aus Lebensentwürfen, professionellen Praktiken und ökonomischen Entwicklungen „nicht etwa um natürliche Vorgänge handelt, sondern um historisch gewachsene Verhältnisse“ (S. 14).
Die Beiträge des Bandes sind fünf übergreifenden Kapiteln zugeordnet. Der erste Teil zu den Regulierungen von Reproduktion in Recht und Arbeitsmarkt (S. 45 ff.) fungiert als thematischer Einstieg und gibt einen Überblick über die Regulierung von Reproduktion in Sozial-, Arbeits- und Medizinrecht sowie die Arbeitsmarktpolitik von (unbezahlter) Sorgearbeit. Besonders erkenntnisreich ist hier der Beitrag von Theresa Anna Richarz, die unter dem provokanten Titel „The state’s hands in our underpants“ (S. 47–67) die rechtlichen Grundlagen verschiedener reproduktiver Aspekte anhand von konkreten Beispielen darlegt – etwa die privat zu tragenden Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch in Höhe von 300 bis 600 Euro oder die Sterilisation von trans* Personen, die bis 2011 für die rechtliche Anerkennung einer Geschlechtsänderung vorausgesetzt wurde.
Im zweiten Teil des Bandes werden ambivalente Begrifflichkeiten problematisiert. Als zentralen Aspekt der Reproduktionsdebatte macht Katharina Wolf das Kindeswohl aus, auf das in politischen Debatten häufig und – je nach Rechtfertigungsbedarf der verschiedenen Akteure – ausgesprochen unterschiedlich Bezug genommen wird. Nicht selten wird das Kindeswohl in Anschlag gebracht, um bestimmte Familienformen zu (de-)legitimieren oder Schwangerschaftsabbrüche als (un-)gerechtfertigt zu klassifizieren (S.127 ff.).
Im dritten Teil des Bandes behandeln die Autor:innen strukturelle Ungleichheiten und die Frage, inwiefern individuelle Ressourcen notwendig sind, um Zugang zu verschiedenen reproduktionsrelevanten Handlungsfeldern zu bekommen: Diese reichen von der angemessenen Unterbringung von geflüchteten Frauen und Familien (S. 149 ff.) bis hin zu Kinderwunschbehandlungen von queeren Paaren (S. 57 ff.). Alina Rörig analysiert in ihrem Beitrag die Konstruktion von „Normalität“ bei Geburten (S. 189 ff.) Sie zeigt, wie bestimmte Normen individuelle Entscheidungen (wie beispielsweise der zwischen einer vaginalen Geburt und einem Kaiserschnitt) beeinflussen können. Im Anschluss an die wissenschaftlichen Beiträge ist das Manifest des „Netzwerk[s] Reproduktive Gerechtigkeit“ zu lesen – ein Kollektiv, das 2019 mit dem Ziel gegründet wurde, die Debatte um reproduktive Rechte über Schwangerschaftsabbrüche und die entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches (§ 218 und der vergangenes Jahr vom Bundestag aufgehobene § 219a) hinaus auszuweiten. Der Begriff der „reproduktiven Gerechtigkeit“ erweitert das Konzept der reproduktiven Rechte um den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit: Alle Menschen, nicht nur weiße Frauen* sollen in vollem Umfang Zugang zu (Nicht-)Reproduktion haben. Gerade nicht-weiße, queere und arme Menschen waren und sind historisch wie strukturell benachteiligt – etwa durch Zwangssterilisation, eingeschränkten Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütung, aber auch signifikant schlechtere Bedingungen in der Familiengründung (S. 204 ff.). Neben dem Zugang ist jedoch auch die Entscheidung zur (Nicht-)Reproduktion gesellschaftlich und politisch restringiert – ein Umstand, den die Sozialwissenschaftlerin und Journalistin Kirsten Achtelik in ihrem Beitrag „Emanzipative Selbstbestimmung?“ (S. 101 ff.) mit Rückgriff auf das Konzept der relationalen Autonomie thematisiert. Der Ansatz verweist darauf, dass ein gewisser Grad an individueller Autonomie zwar vorhanden ist, diese jedoch in ihrem sozialen Kontext betrachtet werden muss, der mitunter von Heteronormativität oder ökonomischer Ungleichheit geprägt und folglich erheblich eingeschränkt ist.
Diese intersektionale Perspektive auf Reproduktion zieht sich durch den gesamten Band. Dabei wird klar, dass auch der akademische Diskurs marginalisierte Gruppen in der Reproduktionsforschung bislang zu wenig berücksichtigt hat. Die Inklusion aktivistischer Stimmen soll in dieser Hinsicht dezidiert die „Wissenschaft herausfordern“ (S. 305) und aufzeigen, „wie strukturelle Benachteiligungen im Wissenschaftssystem thematische und personelle Ausschlüsse im Forschungsfeld Politiken der Reproduktion generieren, die sich auch in diesem Band niederschlagen“ (S. 31).
Der vierte Teil verdeutlicht unter dem Titel „Best Practice? Einblicke in Versorgungszusammenhänge und Professionen“, wie sich der Band von anderen Publikationen zum Thema unterscheidet, nämlich durch die systematische Integration der Perspektiven von Praktiker:innen aus Sorgearbeit und Medizin. Die Autor:innen gewähren Einblicke in die professionellen Praktiken von Schwangerschaftsabbrüchen und Pränataldiagnostik sowie in den Hebammenberuf mit seinen Rahmenbedingungen in Ausbildung und Praxis.
Mit seinen zwei Beiträgen ist der letzte Teil des Bandes noch einmal explizit der Sorgearbeit und der Schwangerschaftsverhütung gewidmet. Gerade Letzteres ist insofern interessant, als es trotz seiner zentralen Rolle in der Reproduktion kaum im Band thematisiert wird. Aus der Perspektive der Geschlechterforschung zeigt Louisa Lorenz in ihrem Beitrag „Der gute Wille allein reicht nicht“ (S. 291 ff.), wie vergeschlechtlichte Annahmen über (Nicht-)Reproduktion bis in die individuellen Dynamiken von Paarbeziehungen hineinwirken können. So zeigt sich beispielsweise bei Anwender:innen der symptothermalen Verhütungsmethode, dass die Verantwortungsübernahme und der damit einhergehende mental load als Herausforderung und mitunter als Belastung für eine gleichberechtigte Partnerschaft sichtbarer wird, als dies bei anderen Verhütungsmethoden der Fall ist (S. 301 ff.).
Insgesamt greift der Sammelband einen feministischen Grundsatz auf: Die Regulierung von Reproduktion ist eine hochpolitische Angelegenheit. Sowohl ein aktives staatliches Eingreifen als auch das Ignorieren reproduktionsrelevanter Aspekte sind immer auch explizite oder implizite Steuerungselemente, die Reproduktion stratifizieren. Häufig bleibt beispielsweise durch das regulative Drängen ins Individuelle und in die Privatsphäre eine (stärkere) staatliche Unterstützung aus, die stratifizierte Zugänge zu (Nicht-)Reproduktion ausgleichen könnte: Hier sei insbesondere auf (die auch im Sammelband diskutierten) Aspekte verwiesen, dass Verhütung von jeher als „Privatsache“ gilt (und folglich auch die Nutzung der verschiedenen Verhütungsmethoden einkommensabhängig ist), dass der Zugang zu Hebammenbetreuung stark vom Bildungs- und Migrationsstatus der Schwangeren abhängig ist, aber auch, dass queere Paare (unter anderem aufgrund expliziter politischer Steuerung) bei der Familiengründung mit deutlich größeren Hürden konfrontiert sind.
Politiken der Reproduktion leistet einen wichtigen Beitrag dafür, die bestehenden Forschungsfelder, die sich den behandelten Thematiken bisher angenommen haben – insbesondere Körper- und Familiensoziologie, aber auch Kulturwissenschaft oder (sozialkritische) feministische Ökonomie –, miteinander in Dialog zu bringen. Diese paradigmatische Einbindung und das Herausstellen der Effekte verschiedener reproduktionspolitischer Maßnahmen ist die wohl größte Stärke des Sammelbandes.
Im Verlauf des Buches wird deutlich, dass relativ etablierten Forschungsfeldern wie der sogenannten „Care“ oder Fürsorgearbeit eine prominente Rolle eingeräumt wird. Letztere sowie weitere Themen, etwa (queere) Familienplanung oder Elternschaft, gelten als Kerngebiete der Familienpolitik. Auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass sie auch mit Aspekten der Reproduktionspolitik zusammenhängen, darf man sich dennoch fragen, ob eine schärfere Trennung von Fragen der Familienpolitik (Mutterschutz, Elterngeld, Kinderfreibetrag) und jenen der Reproduktionspolitik (Schwangerschaftsabbruch, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsvorsorge) eine präzisere Analyse dieser Themen – gerade auch hinsichtlich ihrer Verwobenheit – erlaubt. In der vorliegenden Form ist der Band (dezidiert) sehr breit aufgestellt, wodurch sein konzeptueller Beitrag notwendigerweise mitunter zu kurz kommt: Insgesamt können die Herausgeber:innen nicht ganz ihrem Anspruch gerecht werden, die verschiedenen Perspektiven auf Reproduktion zu integrieren, sondern bieten vielmehr eine multiperspektivische Plattform für relevante Beiträge im breiten Feld der Reproduktion.
Angesichts der Bandbreite der behandelten Themen überrascht es ein wenig, dass wesentliche Aspekte der Reproduktionspolitik – beispielswiese die (schulische) Sexualerziehung, die eine zentrale Rolle in der Entwicklung von agency spielt, oder bestimmte gesellschaftliche Akteure wie Kirchen, die politische Debatten zu diesen Themen lange geprägt haben, unerwähnt bleiben. Ebenfalls ist der methodische Fokus mehrheitlich qualitativ oder ethnografisch, wodurch quantitative Einblicke (womöglich auch aus einem Mangel an entsprechendem Datenmaterial) kurz kommen.
Nichtsdestotrotz ist Politiken der Reproduktion eine lohnenswerte Lektüre für eine breite Leser:innenschaft, insbesondere für eine wissenschaftlich interessierte, studentische und aktivistische Öffentlichkeit. Die Herausgeber:innen leisten einen zentralen Beitrag, um Begriff und Ansatz der Politiken der Reproduktion auch in der deutschen Literatur zu verankern. Insofern bietet der Band einen guten Einstieg für Menschen, die sich bisher wenig mit Reproduktion beschäftigt haben, aber ebenso für jene, die einen breiteren Überblick über verschiedene Wirkungsfelder der Regulierung von Reproduktion gewinnen möchten.
Auch wenn der Umstand, dass Reproduktion eine politische Angelegenheit ist, wahrlich keine neue Erkenntnis darstellt, so gewinnt das Thema im Zuge aktueller Machtzunahmen von rechtspopulistischer und wertekonservativer Seite besonders an Relevanz – auf wie vielen Schauplätzen entsprechende politische Konflikte stattfinden können, führt Politiken der Reproduktion eindrucksvoll vor Augen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher, Nikolas Kill.
Kategorien: Care Diversity Familie / Jugend / Alter Feminismus Gender Gesellschaft Gesundheit / Medizin Körper Politik Queer Rassismus / Diskriminierung Recht Soziale Ungleichheit Sozialpolitik
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