Sven Opitz | Interview |

„Eine Praxis, die das soziologische Denken offenhält“

Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour

Welches Latour-Buch war für Sie besonders wichtig?

Die Lektüre von Das Parlament der Dinge (2009) war für mich entscheidend, um zu verstehen, dass es Latour nicht primär um die Frage geht, ob nichtmenschliche Entitäten handeln können – eine Frage, die rückblickend über einen erstaunlich langen Zeitraum die Debatte hierzulande geprägt hat. Das Buch macht vielmehr unmissverständlich klar, dass der politische Prozess der Versammlung von Kollektiven Latours zentraler Bezugspunkt ist. Dieser Fokus hat seine spätere Neubestimmung der Soziologie als „Assoziologie“ ebenso geprägt wie die Arbeiten zu technischen Infrastrukturen. Es sagt vielleicht etwas über die Soziologie aus, dass sie diesen politischen Bezugspunkt lange nicht sehen wollte. Mit Diagnosen (Wir sind nie modern gewesen, 2008), Laborstudien (Science in Action, 1987) und Ansätzen zur Differenzierungstheorie (Existenzweisen, 2014) kann unser Fach gut umgehen. Mit dem Politischen tut es sich seit seiner Geburtsstunde schwer. Latour aber hat das Motiv „Konstitution von Kollektiven“ immer wieder aufgenommen und in Bezug auf neue Herausforderungen fortentwickelt. Mein Lieblingsbuch in dieser Hinsicht ist Kampf um Gaia (2020). Es schließt besonders produktiv an eine Vielzahl heterogener Denklinien an – Lynn Margulis’ Figur des Symbiotische[n] Planet[en] (2018), Carl Schmitts Nomos der Erde (1950) oder Michel Serres’ Naturvertrag (1994) – und verhilft ihnen zu überraschenden Wendungen. Nach meinem Verständnis lässt sich Kampf um Gaia als eine Art Update von Das Parlament der Dinge lesen.

Was war Latours wichtigster Beitrag zur Soziologie?

Die Liste an möglichen Antworten auf diese Frage ist fast zu lang, um aufgeschrieben zu werden: das Denken in Netzwerk-Assemblagen, das Verständnis von Technik als stabilisierter Gesellschaft, die formative Rolle von alltäglichen Dingen wie Aktenmappen für den Rechtsvollzug oder eben die Bildung kosmopolitischer Kollektive. Das wären alles überzeugende Antworten. Letztlich sticht jedoch ein Problem heraus, nämlich wie sich das Soziale jenseits von Sozialkonstruktivismus und naivem Realismus begreifen lässt. Dieses Problem animiert alle Arbeiten Latours, von den Laborstudien über die Studie zu Pasteur bis hin zu den jüngeren Publikationen zum neuen Klimaregime. Am bündigsten und brillantesten ist es im Konzept der „zirkulierenden Referenz“ im gleichnamigen Aufsatz artikuliert, in dem Latour am Fall einer Bodenexpedition eine materialistische Semiotik entwickelt.[1] Nach der Lektüre des Aufsatzes ist es nicht mehr möglich, davon auszugehen, dass die Beziehung zwischen dem Savannenboden und seiner sprachlichen Repräsentation schlicht arbiträr ist. Ebenso wenig ist es möglich, einfach zu den ‚Dingen selbst‘ zurückzukehren.

Welches Konzept oder welche Intervention Latours sollte man weiterdenken?

Latours Werk enthält eine Fülle von lose artikulierten Konzepten, die sich für eine Fortentwicklung anbieten. Das betrifft etwa die Figur der Kreuzung von Existenzweisen, die möglicherweise der Differenzierungstheorie Impulse geben könnte. Jenseits solcher konkreten Anschlussstellen möchte ich jedoch einen bestimmten Denkstil hervorheben, den Latour mitgeprägt hat. Er wurde für mich besonders greifbar, als Ute Tellmann, Lars Gertenbach und ich Latour am Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe interviewt haben.[2] Im Anschluss durften wir ihn bei einer Führung durch die Reset-Modernity-Ausstellung begleiten.[3] Es wurde deutlich, wie sehr Latour im Verbund mit den Gegenständen – hier den Exponaten – denkt.

Die Ausstellung sollte mit ästhetischen Mitteln ein Weltverhältnis entwerfen, in dem die Möglichkeit eines externen Beobachterstandpunkts nicht existiert. Sie blendete die Mittler auf, durch die jede notwendig situierte Beobachtung immer schon in das Beobachtete eingebunden ist. Auf diese Weise produzierte die Kunst eine Erfahrung, die sich mit Latours sozialwissenschaftlichen Interventionen verband und sie verstärkte. Dabei zeigte sich in nuce, dass Latour die Exponate als Entitäten verstand, die selbst theoretische Reflexionen enthalten. Diese Prämisse ist meiner Ansicht nach exemplarisch auch für den Umgang mit Phänomenen jenseits der Kunst. Egal ob es um mikrobielle Gemeinschaften, Atmosphären oder Infrastrukturen geht: Folgt man Latour, sind dies keine Gegenstände, auf die die Soziologie ihre Instrumente einseitig anwendet. Sie bilden vielmehr haarige Objekte, die selbst gesellschaftliche Verhältnisse und Diagrammatiken des Sozialen enthalten, die es zu explizieren gilt. In einer solchen Praxis, die das soziologische Denken offenhält, sehe ich das wesentliche Vermächtnis Latours.

  1. Bruno Latour, Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: ders., Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2000, S. 36–95.
  2. „There Is No Earth Corresponding to the Globe“. An Interview with Bruno Latour by Lars Gertenbach, Sven Opitz and Ute Tellmann, in: Soziale Welt 67 (2016), 3, S. 353–364.
  3. Lars Gertenbach / Sven Opitz / Ute Tellmann, „It’s beautiful, but it’s wrong!“ – Bruno Latours „Reset Modernity!“ [17.10.2022], in: Soziopolis, 2.8.2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Methoden / Forschung Ökologie / Nachhaltigkeit Technik Wissenschaft

Sven Opitz

Professor Dr. Sven Opitz ist Inhaber des Lehrstuhls für politische Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Er interessiert sich für die räumlichen, zeitlichen und infrastrukturellen Aspekte von Sicherheitsdispositiven. Seine aktuelle Forschung befasst sich mit der Biopolitik des globalen Lebens, im Zentrum stehen insbesondere jene Regularien und Technologien, die zur Kontrolle weltweiter Ansteckungsprozesse eingesetzt werden.

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