Annette Schnabel | Nachruf |

Eine Soziologie frei von Selbstinszenierung

Nachruf auf Rainer Schützeichel (1958–2023)

Prof. Rainer Schützeichel
Prof. Rainer Schützeichel, © Norma Langohr, Universität Bielefeld

Ein seltener Generalist der Soziologie

Am 25.10.2023 ist Rainer Schützeichel völlig unerwartet und viel zu früh verstorben. Er war ein außerordentlicher Wissenschaftler, der mit seiner wissenssoziologischen und an einer relationalen Soziologie orientierten Perspektive die soziologische Diskussion seit vielen Jahren durch wichtige Impulse bereichert hat. Seine Forschungsschwerpunkte lagen insbesondere im Bereich der Sozialtheorie, der soziologischen Gesellschaftstheorie, der Religions-, Professions-, Wissens- und Emotionssoziologie; er hat in all diesen Forschungsfeldern einen umfassenden Korpus wissenschaftlicher Monografien und Artikel hinterlassen.

Sein wissenschaftlicher Werdegang führte ihn an viele soziologische Standorte, an denen er nun zahlreiche trauernde Kolleg:innen zurücklässt, die ihn als Diskussionspartner, Impulsgeber und stets ehrlich interessierten Kollegen vermissen werden.

Rainer Schützeichel wurde 2001 an der FernUniversität Hagen promoviert und ebenfalls dort zehn Jahre später habilitiert. Der Titel seiner Habilitationsschrift lautete Intentionalität und Sozialität – eine Überschrift, die sein weiteres wissenschaftliches Schaffen treffend zusammenfasst. In den Jahren 2005 bis 2012 hat Rainer Schützeichel Professuren in Aachen, Bielefeld, Bochum, Hagen, Duisburg, München und Koblenz-Landau (in alphabetischer Reihenfolge) vertreten. Seit 2013 lehrte er an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld in den Feldern der Soziologischen Theorie, der Historischen Soziologie sowie der Wirtschafts- und Religionssoziologie. Hier hatte er zuletzt auch eine Professur inne. Nicht zu überschätzen ist auch sein ständiger Einsatz in der Selbstorganisation des Faches, sei es als Herausgeber etwa der Zeitschrift für Soziologie oder der Zeitschrift für Theoretische Soziologie), im Vorstand verschiedener DGS-Sektionen (unter anderem der Sektion Soziologische Theorie) oder als Mitglied des Hamburger Kolloquiums Sozialtheorie, um nur einige – wenige – seiner Funktionen zu nennen.

Es ist nicht leicht, einen Menschen und Wissenschaftler zu würdigen, der derart viele Menschen berührt und der durch sein Werk wie seine Debattenbeiträge immer wieder wichtige Impulse in die Diskussionen der soziologischen Forschungsgemeinschaft eingebracht hat. Eine Würdigung muss daher notgedrungen selektiv und durch persönliche Akzente gekennzeichnet bleiben.

Gegen den Strom der theoretischen Spezialisierung

Das akademische Werk, das Rainer Schützeichel hinterlässt, ist bei näherem Hinsehen in besonderer Weise durch seine Weigerung gekennzeichnet, sich auf eine spezielle Theorie, ein spezifisches Thema oder eine einzige Herangehensweise festzulegen: Vielmehr bestand sein soziologisches Interesse in der nicht immer leichten, sondern aufwändigen Arbeit, verschiedenste Theorien und Themen zu durchdringen und miteinander in Dialog zu bringen. Rainer Schützeichel konnte genauso gut und präzise in den Termini der Luhmann’schen Systemtheorie denken und argumentieren[1] wie in denen einer Schütz’schen Sozialphänomenologie[2]. Davon zeugen nicht zuletzt die verschiedenen Übersichtswerke, die er zusammengestellt und herausgegeben hat[3] und die nicht nur Einsteiger:innen ins Feld der Soziologie einen Weg durch den Dschungel soziologischer Theoriebildung zu finden halfen. Seine präzise und konzentrierte Art, Theorien aufzuarbeiten, machte Debatten stets zu profunden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die dann nicht mehr im Dogmatischen steckenbleiben konnten – eine Kunst, die es erfordert, verschiedene Theorien zu verstehen und ineinander zu übersetzen. Ebenso bedarf es dazu eines tieferen Verständnisses davon, wie man mit den ontologischen und methodologischen Aspekten von Theorien umgehen kann: Rainer Schützeichel verstand dies wie nur wenige andere, und er war darüber hinaus an den metatheoretischen Aspekten soziologischen Denkens interessiert, also daran, auszuloten, welche Methoden und Denkweisen sich eignen, um Theorien zu erarbeiten und zu vergleichen.[4]

Eine der wichtigen Fragen, die Rainer Schützeichel im Rahmen der Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien immer wieder beschäftigten, war jene danach, welchen Beitrag eine Theorie zur Erfassung dessen leisten kann, was wir im Alltag als das „soziale Teilen“ von Erkenntnissen, Ereignissen oder Wissensvorräten erfahren. Aus der Auseinandersetzung mit dieser Frage leitete er die Erkenntnis ab, dass soziologische Theorie dann besonders stark sei, wenn sie als relationale Theorie nicht individuelles Erleben, Kalkulieren oder Handeln, sondern das gemeinsame Werden von (kognitiven und körperlichen) Weltzugriffen in den Blick nimmt. Diese Überzeugung spiegelt sich in seinem in letzter Zeit intensiver verfolgten Interesse an einer enaktivistischen Soziologie wider.[5]

Eine soziologische Emotionstheorie

Einen besonders hervorzuhebenden Beitrag leistete Rainer Schützeichel im Bereich der Emotionssoziologie: Er stellte es sich zur Aufgabe, Emotionen in die soziologische Analyse einzubeziehen, wollte dabei aber nicht einfach den Vorgaben aus der Psychologie folgen, sondern erarbeitete einen eigenständigen soziologischen Zugriff. Ein solcher Zugriff, so Rainer Schützeichels Überzeugung, müsse über die Untersuchung des individuellen Erlebens von Affekten und ihrer Zurechnung hinausgehen, er müsse sich vielmehr mit dem sinnhaften Ausdeuten des individuellen, zumeist körperlichen Erlebens (als „angenehm“ oder „unangenehm“) befassen. Dieses sinnhafte Ausdeuten sei immer genuin sozial, also vermittelt, erlernt und fabriziert über sprachliche wie außersprachliche Symbole unterschiedlichster Art; damit sei es aber auch immer historisch spezifisch und wandelbar. Diese Überlegungen hat Rainer Schützeichel im Kontext sozialer Akte und Rituale der Demütigung nachvollzogen – einem Thema, mit dessen Beschäftigung er bedauerlicherweise nicht mehr hat abschließen können.

Für Rainer Schützeichel stellte sich das Problem der gemeinsamen Teilhabe des Sozialen im Feld der Emotionssoziologie in besonderer Weise: Wie können wir Emotionen als etwas fassen, das individuell realisiert und zugleich genuin sozial geteilt (also von anderen verstanden, mit anderen gemeinsam empfunden) wird?[6] Die enorme theoretische Bandbereite, die Rainer Schützeichels Arbeit auszeichnete, zeigt sich auch hier: Zur Beantwortung dieser für die Emotionssoziologie bedeutsamen Frage zog er unter anderem die Atmosphärentheorie des Philosophen und Begründers der Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz heran. Schmitz unterscheidet zwischen „Leib“ und „Körper“ und argumentiert, dass der Raum des Leibes ein flächenloser sei und der Leib als randlos angesehen werden könne. Daraus folge die Möglichkeit, die soziale Geteiltheit von Emotionen als etwas zu verstehen, das durch die Überschneidung von Leibern in ihren Sphären entsteht, wenn verschiedene Menschen sich in der Reichweite der gleichen Atmosphäre befinden.

Den Zusammenhang zwischen Emotionalität und Normativität untersuchte Rainer Schützeichel anhand von Emotionen im Bereich des Rechts:[7] Kann man, so fragte er, Recht fühlen? Zur Beantwortung dieser Frage untersuchte er nicht nur die Dimensionen der verschiedenen historischen und aktuellen Rechtsdiskurse, sondern auch die Funktionen, die Emotionen in diesen Diskursen zugesprochen werden, und, darüber hinausgehend, den konstitutiven Zusammenhang zwischen Normativität und Emotionalität.

Religionssoziologie, seelsorgerische Beratung und Professionalisierung in der Moderne

Rainer Schützeichel leistete darüber hinaus auch einen wichtigen Beitrag zur Professionssoziologie, deren Sortierung er maßgeblich voranbrachte.[8] Ein besonders instruktiver Anwendungsfall war für ihn die Professionalisierung der religiösen und der psychologischen Seelsorge. In diesem thematischen Kontext stellte sich ihm die Frage, welche Rolle verschiedene Formen der Beratung für die moderne Gesellschaft spielen und wie und wodurch sich religiöse Seelsorge von psychologischer Therapie unterscheidet, vor allem aber, welche besonderen Risikolagen für religiös Seelsorgende mit ihrer Tätigkeit verbunden sind.

Im Feld der Religionssoziologie interessierte Rainer Schützeichel aber auch, wie sich Universitäten als an universalistischer Wissensgenerierung orientierten Organisationen mit der religiösen Heterogenität ihrer Mitglieder befassen und mit welchen Problemen sie in dieser Hinsicht konfrontiert sind – eine Frage, die angesichts gegenwärtiger Zeitläufe wieder verstärkt an Relevanz gewinnt. Auf empirischer Grundlage machte Rainer Schützeichel verschiedene organisationale Lösungswege für dieses Problem aus, die von einer strikten Exklusion alles Religiösen über die Inklusion von privatisierter, individueller Religionsausübung bis hin zu der Förderung unterschiedlicher religiöser Gemeinschaften innerhalb der Organisation reichten.[9]

Jenseits von Theorien, Argumenten und Themen

Rainer Schützeichel wird aber nicht nur durch das Was an Theorien, Argumenten und Themen in Erinnerung bleiben, die er bearbeitete, sondern vor allem durch das Wie seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Er hat sich immer wieder von eigenen sozialen Erfahrungen – sei es beim Bahnfahren, als Schöffe im Gerichtssaal, in der Auseinandersetzung mit Studierenden oder im Kontakt mit Vertreter:innen von Kirchen und Glaubensgemeinschaften – irritieren lassen und sie zum Ausgangspunkt wissenschaftlich-theoretischer Erwägungen gemacht im Sinne eines fruchtbaren, intelligenten und präzisen Sezierens theoretischer Standorte: Er nutzte stets seine alltäglichen Erfahrungen zum Erschließen soziologisch relevanter Themenfelder, in denen er verschiedene Theorien innovativ nutzte und testete. Er nahm damit die These von Alfred Schütz ernst, dass wir Wissenschaft als Beobachtung zweiter Ordnung erst dann betreiben können, wenn wir den Alltag und die darin gemachten Beobachtungen erster Ordnung verstehen.

Rainer Schützeichel hat die Disziplin immer wieder im Guten daran erinnert, dass Austausch und Debatten dann wirklich fruchtbar sind, wenn alle Argumente, auch diejenigen der (vermeintlichen) Gegenseite, ernst genommen und Wissenschaftler:innen aller hierarchischen Stufen in die Auseinandersetzung einbezogen werden. Vor allem aber hat Rainer Schützeichel immer wieder betont (und selbst vorgelebt), dass beständiger, selbstkritischer Austausch und gemeinsames Denken die Grundlage unserer Disziplin sind und die Voraussetzung dafür, dass die Soziologie die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen verstehen, erklären und vielleicht sogar zu ihrer Lösung beitragen kann. Wir werden nicht nur einen innovativen Denker, überzeugten Hermeneutiker und akribisch arbeitenden Wissenschaftler vermissen, sondern auch einen Menschen, der diese universalistischen Prinzipien der Wissenschaft in seinem Tun verkörperte.

  1. Rainer Schützeichel, Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, Frankfurt am Main 2003.
  2. Rainer Schützeichel, Die Selektivität von Sinn. Über die Sinnkonzeptionen und Sinnformen des Strukturtheoretischen Individualismus und der Systemtheorie und ihre methodologischen Prämissen und Implikationen, in: Rainer Greshoff / Uwe Schimank (Hg.), Integrative Sozialtheorie? Esser – Luhmann – Weber, Wiesbaden 2006.
  3. Um nur einige zu nennen: Rainer Schützeichel, Historische Soziologie, Bielefeld 2004; Konstanze Senge / Rainer Schützeichel, Hauptwerke der Emotionssoziologie, Wiesbaden 2012; Rainer Schützeichel, Soziologische Kommunikationstheorien, Konstanz und München 2015; Rainer Schützeichel, Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Köln 2018.
  4. So beispielsweise in dem Sammelband Jens Greve / Annette Schnabel / Rainer Schützeichel (Hg.), Das Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung: Zur Ontologie, Methodologie und Metatheorie eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2009.
  5. Dabei geht es um eine Sozialtheorie, die sich auf die aktive Wechselwirkung zwischen einem Organismus und seiner Umwelt konzentriert. In der Soziologie wird der Ansatz des Enaktivismus angewendet, um soziale Phänomene und menschliches Verhalten in Bezug auf die aktive Beteiligung und Wechselwirkung von Individuen mit ihrer sozialen Umgebung zu analysieren.
  6. Rainer Schützeichel, Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt am Main / New York 2006; Rainer Schützeichel, Emotion, in: Robert Gugutzer / Gabriele Klein / Michael Meuser (Hg.), Handbuch Körpersoziologie 1, Wiesbaden 2022.
  7. Rainer Schützeichel, Soziologie des Rechtsgefühls, in: Hilge Landweer / Dirk Koppelmann (Hg.), Recht und Emotion I, Berlin 2016, S. 65–100.
  8. Rainer Schützeichel, Laien, Experten, Professionen, in: ders. (Hg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Köln 2018, S. 546–579.
  9. Annette Schnabel / Rainer Schützeichel, Hochschulen, Studierende und Religion – Soziologische Analysen zu aktuellen Entwicklungen, in: Zeitschrift für Beratung und Studium 11 (2016), 3, S. 82–85.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Affekte / Emotionen Epistemologien Erinnerung Methoden / Forschung Recht Wissenschaft

Annette Schnabel

Prof. Dr. Annette Schnabel ist Professorin für Soziologische Theorie am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen – neben der Soziologischen Theorie – in den Bereichen Geschlechterforschung, nationale Identität, Religionssoziologie und Tier-Mensch-Verhältnisse.

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