Oliver Precht | Rezension | 26.11.2021
Einvernehmliches Unvernehmen
Rezension zu „Anerkennung oder Unvernehmen? Eine Debatte“ von Axel Honneth und Jacques Rancière
Der Kern des zunächst auf Englisch und Französisch veröffentlichten, nun auch in deutscher Sprache vorliegenden Bandes Anerkennung oder Unvernehmen? besteht aus der überarbeiteten Transkription eines Streitgesprächs zwischen Axel Honneth und Jacques Rancière, das bereits im Juni 2009 in den nüchternen Hallen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung stattfand. Die Abwesenheit der lebendigen Rede verführt beim Lesen leicht dazu, dass man diesen Umstand vergisst, sich von der historischen Fantasie mitreißen lässt und das Gespräch in einem unbestimmten Mittelalter imaginiert: wo ein Pedell feierlich den Universitätsstab auf den Boden eines kerzenbeleuchteten Auditoriums schlägt, um die Zeremonie der disputatio zu eröffnen. Bis in die frühe Neuzeit hinein diente das formale Streitgespräch der Einhegung, Ordnung, Formalisierung und Disziplinierung des gelehrten Diskurses und trug deshalb denselben Namen wie das Initiationsritual, durch welches man noch heute die Doktorwürde erlangt und in den Kreis der Gelehrten aufgenommen wird. Nichts könnte jedoch den beiden hier streitenden Philosophen fernerliegen als ein derartiges vormodernes Ritual und die von ihm garantierte absolute Trennung von Initiierten und Ausgeschlossenen, Wissenden und Unwissenden.
In modernen Zeiten erwartet das Publikum von einer philosophischen disputatio mehr und anderes als die rituelle Selbstreproduktion einer geschlossenen Institution. Es erwartet ein Ereignis, einen jener seltenen Momente, in dem in der lebendigen Anwesenheit der gesprochenen Rede wirklich über die Sache gestritten wird, in dem die Kontrahenten weder nur mit sich selbst noch aneinander vorbeireden. Als instituiertes Gespräch setzt die disputatio voraus, dass sich die Kontrahenten auf Augenhöhe begegnen, dass sie die Spielregeln und sich wechselseitig als Gelehrte anerkennen. Als instituierendes Gespräch setzt sie jedoch ebenso voraus, dass es eine irreduzible Differenz gibt, die den eigentlichen Grund darstellt, warum überhaupt gestritten wird, eine Differenz, die den Kern der Sache betrifft, oder die Frage, was die Sache ist. Das moderne philosophische Streitgespräch setzt also ein gutes Maß sowohl an Anerkennung als auch an Unvernehmen voraus.
Durch Philosophie die Welt verändern
Der von Christoph Menke moderierten Debatte vorangestellt sind zwei kurze kritische Stellungnahmen der beiden Kontrahenten zu einem der Hauptwerke ihres Gegenübers: zu Axel Honneths Der Kampf um Anerkennung von 1992 und zu Rancières 1995 erstmals auf Französisch erschienenem Das Unvernehmen. Da das Gespräch aufgrund dieser Konstellation überaus voraussetzungsreich, die verhandelte Streitsache allerdings von universellem Interesse ist, haben die Herausgeber_innen des Bandes, Katia Genel und Jean-Philippe Deranty, außerdem eine sehr ausführliche und informative Einleitung verfasst, die den intellektuellen Werdegang und die Lehre der beiden Philosophen in vergleichender Weise skizziert. Darüber hinaus sind dem Band noch zwei weitere, methodologische Texte von Honneth und Rancière beigegeben, auf die ich weiter unten zurückkommen werde.
Die Einleitung der Herausgeber_innen betont in erster Linie das Verbindende, dass nämlich beide Ansätze „theoretische Werkzeuge“ entwickeln, „die auf das Verständnis und die Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaften zielen“ (S. 9). Im Gegenzug soll in dieser Besprechung das Trennende in den Vordergrund gerückt und ein wenig zugespitzt werden. Und dieses Trennende, dieser fundamentale Unterschied zeigt sich am deutlichsten anhand des Verhältnisses, das die beiden Kontrahenten zur Institution der Universität im Allgemeinen und zur akademischen Philosophie im Besonderen einnehmen, zum Ritual der disputatio, in der sich diese Institution manifestiert.
Wie die Herausgeber_innen betonen, pflegt keiner der beiden Kontrahenten die Illusion des neutralen Beobachters, beide wollen durch und mit Philosophie die Welt verändern, eine bessere, gerechtere Gesellschaft erschaffen. Und beide verorten ihr philosophisches Projekt gerade nicht in einem unbestimmten Mittelalter, sondern in einer Moderne, die dadurch bestimmt ist, dass die angestrebte Gerechtigkeit untrennbar mit dem Prinzip „universeller Gleichheit“ verbunden ist.[1] Bei beiden Denkern ist, nach den Worten von Genel und Deranty, „eine ähnlich historistische Voraussetzung am Werk: die Vorstellung, dass die postrevolutionären westlichen Gesellschaften sich durch ihren Universalismus von anderen Epochen unterscheiden“ (S. 52). Weil die Gleichheit der Horizont der Epoche ist, muss die Philosophie sie zu ihrer Sache machen, zu ihrem zentralen theoretischen Problem und zu ihrem praktischen Endzweck.
Das schwierigste Hindernis für eine solche emanzipatorische Philosophie liegt in einer Ungleichheit, die sie unmittelbar selbst betrifft: im Unterschied zwischen Philosoph_innen und Nichtphilosoph_innen. Seit seinem frühen Werk Die Lektion Althussers (1974) bleibt dieser Unterschied das beherrschende Thema von Rancières Denken. Er zeigt, wie die philosophische Tradition seit ihren ersten Anfängen den Unterschied von Philosoph_innen und Nicht-Philosoph_innen in ein Verhältnis von Lehrmeistern und Schüler_innen verwandelte, in dem der Wissende dem Unwissenden immer einen Schritt voraus bleibt und seine wirkliche Emanzipation ewig aufschiebt: „Sokrates befragt einen Sklaven, der dazu bestimmt ist, ein solcher zu bleiben.“[2]
Fortschritt oder Unterbrechung?
Welchen Zweck kann die disputatio in einer Moderne erfüllen, die durch die Forderung nach universeller Gleichheit bestimmt ist? Sie kann nicht länger der Einhegung, Konsolidierung und Reproduktion des gelehrten Diskurses dienen, sondern muss umgekehrt an der Destabilisierung der Trennung zwischen Wissenden und Unwissenden mitwirken. Beide Denker könnten sich wohl darauf verständigen, dass diese Trennung nicht mit einem Schlag überwunden werden kann. Es geht vielmehr darum, die Grenze beständig zu verschieben. Das Unvernehmen zwischen Rancière und Honneth betrifft nun aber gerade das Wie, die Methode, mit der diese Verschiebung zu erreichen ist: durch einen radikalen Bruch mit jener Trennung von Wissenden und Unwissenden, durch eine Unterbrechung ihrer Rituale, durch Emanzipationsbewegungen, die in den Rissen und Brüchen ihrer Institutionen angestoßen werden, oder durch eine langsame Reform derselben, durch eine fortschreitende Inklusion und Integration der Ausgeschlossenen?
Wie Rancière in seiner kritischen Stellungnahme zu Honneths Ansatz betont, sind all „Individuen und Gruppen […] immer schon als Inhaber eines Platzes und einer Kompetenz anerkannt“ (S. 68). In dem für die Moderne charakteristischen Streben nach universeller Gleichheit werde daher auch nicht um Anerkennung per se gekämpft, sondern „um eine andere Form von Anerkennung“, um eine „Neuverteilung der Plätze, Identitäten und Anteile“ (ebd.). Der „Kampf um Anerkennung“ sei ein fortschreitender Integrationsprozess, eine ständige Umverteilung, an deren Ende die universelle Gleichheit und die Überwindung der Trennung von Wissenden und Unwissenden, von Philosoph_innen und Nichtphilosoph_innen steht.
Was Honneth interessiert, ist „die Umbildung und Erweiterung von anfänglichen Formen der sozialen Gemeinschaft zu umfassenderen Verhältnissen“.[3] Ausgehend von der lebendigen Gegenwart der familiären Sphäre, von der reziproken Anerkennung der Subjekte als emotional bedürftiger Wesen, erschließt der Kampf um Anerkennung das „Soziale“ im Ganzen, zunächst die „bürgerliche Gesellschaft“ und schließlich den „Staat“. So etwas wie universelle Gleichheit lässt sich dieser Konzeption zufolge nicht durch eine Revolution oder durch einen politischen Akt herstellen, sondern ergebe sich erst aus einer sich langsam herausbildenden „,lebendigen Einheit‘ von ,allgemeiner und individueller Freiheit‘“.[4]
Gleichheit lässt sich für Honneth, wie Rancière betont, mithin nur als telos der Moderne, nur unter „Berufung auf den Gedanken eines globalen Prozesses“ (S. 71) denken. Der Philosoph, der diesen Prozess denkt, kann nun entweder davon ausgehen, dass sein Denken diesem Prozess nichts Wesentliches hinzufügt, dass er in entscheidender Hinsicht neutraler Beobachter bleibt, oder dass sein Denken diese Geschichte befördert oder sogar vollendet. Da ein solches, teleologisches Konzept einer Globalgeschichte einen Gelehrten erfordert, der sie überwacht, begreift und durch sein Begreifen befördert oder vollendet, läuft es Gefahr, den hierarchischen Unterschied zwischen den Unwissenden, die die Geschichte machen, und den Wissenden, die sie denken und lenken, zu zementieren.
Um dieser teleologischen Setzung und dem damit verbundenen „theoretischen Heroismus“[5] des Philosophen, der die ganze Last der Geschichte schultert, zu entkommen, muss Rancière, wie Honneth in seiner kritischen Stellungnahme behauptet, von der anthropologischen Grundannahme ausgehen, „dass menschliche Wesen ihrer ganzen Natur nach von dem Wunsch erfüllt sind, mit ihresgleichen auf Augenhöhe zu leben und ihnen also gleichgestellt zu sein“ (S. 77). Dieses Gleichheitsstreben, das Rancière zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theorie und seiner politischen Praxis mache, lasse sich jedoch, wie Honneth im Verlauf des Disputs betont, „nur für moderne, dem Anspruch nach demokratische Gesellschaften“ (S. 98) ansetzen. Die Konzeption eines universellen Gleichheitsstrebens, das in Rancières Sprachgebrauch den Antrieb für „Politik“ ausmache, also für den Bruch mit der „sozialen“ oder „polizeilichen“, auf der Trennung zwischen Wissenden und Nichtwissenden basierenden Ordnung, könne darüber hinaus der Komplexität der emanzipatorischen Prozesse nicht gerecht werden: Sie führe zu einer vereinfachenden Trennung „zwischen dem Drinnen und dem Draußen, was den Ausgeschlossenen nur die Möglichkeit lässt, ein bestehendes Normensystem im Ganzen zu verwerfen.“ (S. 85)
Zu Recht wird Rancière im Laufe des Streitgesprächs einwenden, dass er niemals behauptet habe, „Politik bestehe allein im Aufstand gegen die politische Ordnung“ (S. 95). Das Bild, das Rancière vor Augen hat, wenn er von einer Unterbrechung oder einem Bruch spricht, ist nicht so sehr das Bild vom Sturm auf die Bastille oder von den Barrikaden der Pariser Kommune. Es ist vielmehr das Bild eines Arbeiters, der das Wort ergreift und dadurch eine zuvor unmögliche Sprecherposition besetzt, das Bild eines Kindes, das nach der ,universellen‘ Methode Jacotots[6] lesen lernt und plötzlich merkt, dass es die mündliche Erklärung, die lebendige Anwesenheit des Lehrmeisters nicht braucht. Vieles spricht dafür, dass das Unvernehmen zwischen den beiden Denkern deutlicher hervorgetreten wäre, hätte Axel Honneth nicht Das Unvernehmen, sondern das zwei Jahre vor dem Streitgespräch erstmals auf Deutsch erschienene Der unwissende Lehrmeister zum Ausgangspunkt seiner kritischen Stellungnahme genommen. An dieses Werk hätte er die viel weitreichendere Frage richten können, ob die „anthropologische Voraussetzung“ eines Willens zur Gleichheit angesichts der faktisch vorhandenen Unterschiede nicht Gefahr läuft, die Trennung zwischen Philosoph_innen und Nichtphilosoph_innen durch die Hintertür wieder einzuführen. Selbst wenn, wie Rancière nahelegt, alle Menschen, ihrer intellektuellen Fähigkeit nach, Philosoph_innen sind, scheinen doch nur wenige unter ihnen über den „Willen“ oder die Entschlossenheit zu verfügen, den Glauben an den Fortschritt und die vermeintliche Sicherheit der sozialen Ordnung aufzugeben und sich ganz auf ihre ureigene Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu stützen. Würde dann nicht aus Rancières egalitärer Grundannahme eine neue Hierarchie des Willens folgen, ein neuer, praktischer Heroismus des Philosophen?
Höfliche Rede, streitlustige Schrift
Naturgemäß verläuft das auf die kritischen Stellungnahmen folgende Streitgespräch auch in der deutlich nachbearbeiteten schriftlichen Fassung nicht völlig geradlinig. Die Kontrahenten sind jedoch bemüht, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede anhand eines möglichst konkreten Phänomens zu diskutieren. So dreht sich der Austausch wesentlich um die Frage nach dem Anlass für emanzipatorische Kämpfe: Liegt die Motivation in einer universellen Gleichheitsforderung, die „bereits in der Definition von Politik enthalten“ (S. 94) ist, oder in einer Form von Leiden, in einer Verletzung oder Pathologie des Selbstverhältnisses? Während Honneth Rancière vorwirft, durch seine Voraussetzung zu wenig zu erklären, die konkreten Anlässe und Ursachen der Emanzipationskämpfe im Dunkeln zu lassen, ist Rancière der Ansicht, „dass wir nicht mit der Logik der Reproduktion des Leidens brechen können, wenn wir nicht auch mit der Sprache des Leidens brechen, die unsere Auffassung von Gesellschaft und Individuen bestimmt“ (S. 110). Aus Rancières Perspektive reproduziert die sozialphilosophische Analyse also das Leiden, das sie verstehen und überwinden will.
In einem kurzen, 1986 verfassten Essay über die Frage „Gibt es im intellektuellen Leben Ereignisse“ schreibt Jacques Rancière: „Das intellektuelle Leben ist wie das Büro- oder Fabrikleben. Die Norm ist, dass nichts passiert, bloß der Lärm der Maschinen und der Lärm des Gezänks. Das Ereignis ist für jedes einzelne dieser Leben das, was es unterbricht.“[7] Auch wenn wichtige Fragen gestreift werden, hinterlässt die Lektüre der wechselseitigen Stellungnahmen und des Streitgesprächs zwischen Honneth und Rancière kaum das Gefühl, einem Ereignis beigewohnt zu haben, das den Lärm der Normalität zu unterbrechen vermag. Hat man die zentralen Werke der beiden Philosophen nicht präsent, fällt es trotz der materialreichen Einleitung schwer, den entscheidenden Gegensatz zwischen beiden Ansätzen deutlich zu erkennen. Womöglich war es gerade dieser etwas zu versöhnlich und höflich wirkende Gesamteindruck, der Rancière dazu veranlasste, dem zuerst in englischer Sprache erschienenen Buch einen Text über „Die Methode der Gleichheit“ beizugeben. Anlässlich der deutschen Übersetzung steuerte nun auch Axel Honneth einen längeren, methodologischen Aufsatz bei, in dem er sein zentrales Konzept der Anerkennung in einen kritischen Dialog mit Miranda Frickers Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit bringt.[8]
Ohne Axel Honneth direkt zu adressieren, spricht Rancière in seinem Text, der zentrale Gedanken seiner wichtigsten Werke seit Die Nacht der Arbeiter (1981) miteinander verknüpft, aus, was er im Gespräch ungesagt gelassen hatte. Nicht nur verfüge die „moderne Sozialwissenschaft“ (und es fällt schwer zu sehen, warum Honneths Sozialphilosophie hier nicht mitgemeint sein sollte) nicht über die geeigneten Strategien, die universelle Gleichheit zu erreichen, sie verkörpere vielmehr selbst eine „Methode der Ungleichheit“ (S. 118). Während Honneth im Streitgespräch den Vorwurf formulierte, Rancière erkläre zu wenig, macht dieser ihm hier, zumindest implizit, den umgekehrten Vorwurf, zu viel zu erklären. Wer nicht mit der Sprache des Leidens breche, zu der auch die Sprache der Sozialwissenschaft zu zählen ist, laufe Gefahr, dieses Leiden für unabänderlich zu erklären und gerade dadurch „die Trennung von Wissenden und Unwissenden auf unbegrenzte Zeit“ (ebd.) fortzusetzen und zu stabilisieren. Mit dieser doch ziemlich heftigen Attacke reiht sich Rancière in die an Unvernehmen und Brutalität nicht eben arme Geschichte des deutsch-französischen philosophischen Dialogs ein.[9] Honneth jedenfalls reagiert gelassen, geht auf Rancières impliziten Angriff mit keinem Wort ein und verfolgt unbeirrt sein Projekt, die Motivation und die Grammatik emanzipatorischer Kämpfe genauer zu erklären. Ein Projekt, das seiner Ansicht nach der Emanzipation dient, während es sie Rancière zufolge behindert.
Der gerettete Widerstreit
Das zwar nur implizite, dafür aber umso radikalere Unvernehmen, mit dem das Buch endet, steht in scharfem Gegensatz zum höflichen Einvernehmen im direkten Gespräch. Gab es also vielleicht doch ein Ereignis, das aber gerade nicht im lebendigen Gespräch, sondern in der Verschriftlichung, der Nachbearbeitung und in der Komposition des Buches bestand? Und handelte es sich dann um einen radikalen Bruch mit der Institution der disputatio, mit der Exklusivität der lebendigen Anwesenheit, der nun allen Menschen erlaubt, an ihr teilzunehmen, und somit die Trennlinie zwischen Wissenden und Nichtwissenden verschiebt, die das Ritual eigentlich stabilisieren soll? Oder handelte es sich vielmehr um eine integrative Reform, die durch die Öffentlichkeit der Disputation schon immer angelegt war und nun durch die Veröffentlichung in Buchform konsequent weitergeführt wird? Oder verliert sich der von mir zugespitzte Gegensatz zwischen einer disruptiven und einer integrativen Strategie im Dickicht der Schichten von Textarten und Konventionen, die das Buch über das Ritual der disputatio legt? Verweist das Fragezeichen im Titel – Anerkennung oder Unvernehmen? – überhaupt noch auf eine Alternative oder stellt es diese Alternative grundlegend in Frage?
Gerade durch die performative Weigerung, den Dialog zu Ende zu bringen und einen reibungslos glückenden Akt der Kommunikation zu fingieren, gelingt dem Buch, was dem Gespräch verwehrt blieb. Es erzeugt eine unaufgelöste Spannung und realisiert so das Versprechen der modernen disputatio, die ihre eigene Destabilisierung will. Es hinterlässt ungelöste Fragen, die von universellem Interesse sind.
Fußnoten
- Tatsächlich ist Rancière der Ansicht, dass die Forderung nach universeller Gleichheit bereits mit der Definition von Politik gegeben ist – und daher keineswegs auf die Moderne beschränkt ist. Diese im Wesen von Politik implizit beschlossene Forderung wird in der Moderne, in der Zeit der großen Erzählungen, lediglich explizit gemacht. In der Form der teleologischen, globalen Erzählungen reproduzierte sie jedoch die fundamentale Trennung und Hierarchie, die bereits der antiken Politik zugrunde lag: „Derselbe Geschichtsverlauf wurde auf zwei Arten gelebt: Es gab Menschen – eine Minderheit von Menschen –, die in der Zeit der Wissenschaft lebten […]; und es gab Menschen – die Mehrheit –, die in der Zeit der Unwissenheit, in der Zeit der Abfolge und der Wiederholung passiver Menschen lebte.“ (Jacques Rancière, Moderne Zeiten, übers. von Richard Steurer-Boulard, Wien 2018, S. 19).
- Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, übers. von Richard Steurer-Boulard, Wien 2018, S. 42.
- Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 2016, S. 27.
- Ebd., S. 24.
- Jacques Rancière, Die Lektion Althussers, übers. von Ronald Voullié, Hamburg 2014, S. 60.
- Jean Joseph Jacotot war ein französischer Gelehrter, der mit dem sogenannten Universal-Unterricht eine neue Theorie und Methode des Lernens entwickelte, welche die Unterscheidung von Wissenden und Unwissenden infrage stellt. Jacques Rancière hat sich insbesondere in seinem Buch Der unwissende Lehrmeister ausführlich mit Jacotots Leben und Pädagogik beschäftigt.
- Jacques Rancière, Gibt es im intellektuellen Leben Ereignisse?, in: Moments politiques, übers. von Ellen Antheil und Richard Steurer, Zürich 2011, S. 23.
- Vgl. Miranda Fricker, Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing, Oxford 2007.
- Eine Fußnote ist freilich nicht der Ort, diese komplexe Geschichte nachzuzeichnen. Es sei daher lediglich auf eine andere Fußnote verwiesen, die zur Vorgeschichte des Streitgesprächs gehört. Im Zuge der gegen Ende der 1980er Jahre um sich greifenden Affäre um Paul de Mans Vergangenheit reagierte Jacques Derrida mit einer fast zehn Seiten umfassenden Fußnote auf die heftigen und unglücklichen Angriffe deutscher Publizisten und Philosophen wie Frank Schirrmacher, Manfred Frank und insbesondere Jürgen Habermas. In Bezug auf Habermas’ ausführliche und abenteuerliche Kritik an Derrida in Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) schreibt Derrida: „Die brutalsten Verfehlungen gegen die elementaren Regeln der Diskussion […] geschehen immer im Namen der Ethik, einer vorgeblich demokratischen Ethik der Diskussion, sie geschehen immer im Namen der transparenten Kommunikation und des ,Konsens.‘“ (in: Jacques Derrida, Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel… Paul de Mans Krieg. Mémoires II, übers. von Elisabeth Weber, Wien 2000, S. 126). Als sich Rancière einige Jahre später in dem wichtigen Kapitel „Die Vernunft des Unvernehmens“ aus Das Unvernehmen mit Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns auseinandersetzt, bezieht er sich nicht nur auf dessen gleichnamiges Hauptwerk, sondern ebenfalls auf Der philosophische Diskurs der Moderne, und zwar genau auf die Stellen, in denen Derrida attackiert wird: „In Der philosophische Diskurs der Moderne wirft er denen, die er bekämpft, vor, auf der argumentativen und kommunikativen Bühne den Standpunkt des Beobachters, der dritten Person einzunehmen, die die kommunikative Rationalität einfriert, deren Arbeit sich im Spiel einer ersten Person vollführt, die verpflichtet ist, sich den Standpunkt der zweiten Person zu Eigen zu machen. Aber eine solche Gegensätzlichkeit nagelt die argumentative Rationalität der politischen Diskussion auf dieselbe Sprechsituation fest, die sie überschreiten will: die einfache Rationalität des Dialogs der Interessen. Weil sie die Vervielfachung der Personen verkennt, die an die Vervielfachung des politischen Logos geknüpft ist, vergisst sie auch, dass die dritte Person genauso eine direkte und indirekte Gesprächsperson ist wie eine Person der Beobachtung und der Objektivierung. Sie vergisst, dass man ständig zu den Partnern in der dritten Person spricht, nicht nur in der Höflichkeitsform mehrerer Sprachen, sondern überall, wo es darum geht, das Verhältnis zwischen den Sprechern zum Gegenstand der Sprechsituation selbst zu machen.“ (in: Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie (2002), übers. von Richard Steurer, Frankfurt am Main 2018, S. 59.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.
Kategorien: Epistemologien Kritische Theorie Philosophie Politische Theorie und Ideengeschichte
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