Jean-Pierre Wils | Rezension |

Ende gut, alles gut?

Rezension zu „Jedem seinen eigenen Tod. Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende“ von Nina Streeck

Nina Streeck:
Jedem seinen eigenen Tod. Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende
Deutschland / USA
Frankfurt am Main / New York 2020: Campus
S. 340, EUR 29,95
ISBN 9783593512358

Fragen über die Art der Sterbebegleitung und über die Möglichkeiten der Sterbehilfe werden immer lauter gestellt, ihre Beantwortung verfügt über ein entsprechend hohes Erregungspotenzial. Dessen Spektrum bewegt sich zwischen den Polen einer Verfallsdiagnostik, welche die Implosion abendländischer Moral sich vollziehen sieht, und einer euphorischen Stimmung, die davon ausgeht, die (buchstäblich) letzte Stufe der Emanzipation sei mittlerweile nahezu erreicht. Ein reflexives Innehalten – also Aufklärung im strikten Sinne – tut da Not. Um es vorwegzunehmen: Nina Streeck hat einen äußerst wichtigen Beitrag zu einem solchen „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Kant) geschrieben. Sie hat keine Risiken gescheut, denn ihre Verteidigung des Authentizitätsideals in Sterbeangelegenheiten geht einher mit einer geradezu systemischen Kritik an jenen Instanzen, die sich auf ebendieses Ideal vollmündig berufen – konkret an neuerlichen Palliativ-Care-Modellen und an der Rhetorik der Sterbehilfebewegung.

Ins Zentrum ihrer Abhandlung stellt sie die Beobachtung, das Authentizitätsideal sei dabei, sich in sein Gegenteil zu verkehren, nämlich in den Zwang, gemäß den Vorgaben des Modells zu sterben. Man könnte an dieser Stelle unschwer von einer Dialektik sprechen, die sich des Authentizitätsansinnens bemächtigt hat. Mit Blick auf die jüngste Vergangenheit heißt es: „Das Bemühen um eine Sterbeverbesserung entwickelte […] eine selbstdestruktive Dynamik, da sich das Anliegen, einem jeden seinen ‚eigenen Tod‘, ein Sterben nach seinen individuellen Vorstellungen, zu erlauben in ein institutionalisiertes Erwartungsmuster verkehrte, auch im Sterben man selbst zu bleiben: Sei authentisch!, heißt heute der Imperativ, mit dem sich der Sterbende konfrontiert sieht. Im Zuge der Etablierung der Palliativversorgung und der Sterbehilfeorganisationen verlor das Leitbild der Authentizität, das diese stets propagierten, seine ursprüngliche Bedeutung, weshalb es inzwischen nicht mehr zur Schaffung neuer Freiräume der Sterbegestaltung anstiftet, sondern im Gegenteil sogar dazu dient, individuelle Freiheiten zu beschneiden.“ (S. 283)

Mit einer solch wagemutigen These schafft man sich nicht leicht Freunde und man katapultiert sich gewissermaßen zwischen alle Stühle, denn zu den Gegnern des Authentizitätsideals möchte man ebenso wenig gehören. Umso sorgfältiger muss deshalb die ethische Begründung vonstattengehen, weshalb selbige auch einen Löwenanteil des Buches – etwa zwei Drittel – in Anspruch nimmt, bevor die Authentizitätsverkehrung mehr oder weniger frontal angegriffen wird. Die Autorin legt dabei eine gewisse Umständlichkeit an den Tag, die der Akkuratesse der Fundierung eines jeden Argumentationsschrittes geschuldet ist und die den Leser hin und wieder auf eine kleine Geduldsprobe stellt. Aber die Leserin wird reichlich entschädigt mit dem Gefühl, an keiner Stelle hinters intellektuelle Licht geführt worden zu sein. Darüber hinaus kann Nina Streeck einfach hervorragend schreiben. Wie sieht nun der Gang der Argumentation aus?

Das erste Kapitel nimmt unter dem Titel „Gut leben und gut sterben: Das gute Sterben und seine Bedingungen“ (S. 27–94) ein Vokabular unter die Lupe, das in der zeitgenössischen Ethik große Popularität genießt, eben die im Titel genannten Kategorien der „Authentizität“ und „Ethik“. In diesem Zusammenhang und bereits bevor sie mit der Einzelarbeit an den Begriffen beginnt, formuliert Streeck in trockenen Worten das ethische Hauptargument ihrer Arbeit: Das gute Sterben ist ein Teil des Lebens und aus dieser Verbindung heraus macht es einen guten Sinn, das Lebensideal der Authentizität auch mit dem Sterben zu verbinden. „Denn Authentizität begreife ich als einen formalen Begriff, der zum Ausdruck bringt, wie zu leben (und zu sterben) gut ist, wohingegen offenbleibt, was substanziell dazu gehört.“ (S. 32) Wer hinter dieser Unterscheidung lediglich einen akademischen Hang zu übermäßiger Differenzierung am Werke sieht, wird im Folgenden darüber aufgeklärt, dass die Missachtung einer solchen Unterscheidung die Verkehrung des Ideals in einen Zwang erklärt.

Ausgehend von einer Inspektion des (wissenschaftlichen) Vokabulars, das im Rahmen der Sterbethematik Verwendung findet, steuert die Autorin auf eine erste kritische Sichtung der Erwartungen und diesbezüglichen Normen zu, die in der neuerlichen Sprache der Ethik des guten Sterbens zu finden sind. Streeck ist bestens vertraut mit der fachspezifischen Diskussion über das Verhältnis von Ethik und Moral, also über die Wahl zwischen einer am Guten beziehungsweise am Glück orientierten Handlungsphilosophie und einer solchen, die seit Kant auf den Primat des „Sollens“ und mit ihm auf den Vorrang von Rechten und Pflichten als Grundlage menschlichen Zusammenlebens setzt. Erstere, die Ethik des guten Lebens, wird vor allem mit dem Verdacht konfrontiert, es läge hier ein latenter oder gar manifester Paternalismus vor, denn wer entscheidet letztendlich, was ein gutes Leben beinhaltet und was gutes Sterben bedeutet? Um dem Ideologieverdacht zu entgehen, werden verschiedene Glückstheorien diskutiert: sogenannte subjektive Wunschtheorien, die entweder Lustgefühle („hedonistische Theorien“) oder Wünsche („Wunschtheorien“) in ihr Zentrum setzen, und objektive Theorien mit Listen von Gütern, wobei die Autorin sich zunächst für eine „hybride Konzeption des guten Lebens“ (S. 71), wie eine Formulierung von Holmer Steinfath lautet, entscheidet.

Bevor nun das Authentizitätsideal genauer in Augenschein genommen wird, weist die Autorin auf ein ganz wichtiges Desiderat hin – das häufige Fehlen einer Sozialphilosophie in den Debatten. Eng angelehnt an Axel Honneths Philosophie der Anerkennung wird auf die entscheidende Rolle von Anerkennungsverhältnissen hingewiesen, also auf jene sozialen Faktoren, die für „Selbstverwirklichung“ förderlich sind oder diese in ihren Pathologien unmöglich machen. Dem Begriff der „Authentizität“ kommt in diesem Zusammenhang eine Brückenfunktion zu: Er „tritt […] in seiner Funktion als Scharnier zwischen Sozialphilosophie und Ethik hervor. Als Orientierungsbegriff definiert er das gute Leben, als Diagnosekonzept hilft er, Störungen des Sozialen zu identifizieren.“ (S. 82) Erst jetzt kann die „Rekonstruktion des Authentizitätsideals“ im zweiten Kapitel namens „Im Einklang mit sich leben“ (S. 96–220) beginnen.

Gemäß dem Verdacht, Authentizität könnte in ihrer Verkehrung Zwänge ausüben statt zu befreien, und angesichts der paternalistischen Versuchung, das Gute am guten Leben mit stark normativen und substanziellen Vorgaben zu beschweren, schlägt der Gang der Argumentation den Weg eines formalen Begriffs von Authentizität ein. Demnach darf der Begriff nicht mittels inhaltlicher Vorgaben begrenzt und belastet werden, sondern muss offen bleiben. Zu diesem Zweck „verflüssigt“ (S. 99) ihn Streeck, indem sie den Vorschlag unterbreitet, von einer „Authentifizierung“ (S. 99), also von einem Prozess statt von einer Substanz, zu sprechen. Auch in diesem Kapitel triumphiert die Vorliebe der Autorin für eine äußerste Genauigkeit der Prüfung, sodass der vorpreschende Leser sich erneut gedulden muss. Sie führt das Authentizitätsideal historisch kenntnisreich ein und stellt im Laufe ihrer Rekonstruktion gewissermaßen eine Weggabelung fest: Heißt Authentizität „Selbstfindung“ oder „Selbsterfindung“, sollen wir werden, wer wir sind, oder sollen wir uns selbst erfinden? Wollen wir sterben in Kontinuität mit unserem Leben oder legen wir Wert auf den schöpferischen Charakter, den wir dem letzten Geschehen verleihen können? Der formale Authentizitätsbegriff beziehungsweise der Prozess der Authentifizierung erlaubt beides, auch eine Kombination der Optionen.

Nach wie vor fehlen jedoch die Kriterien, denn auch der formale Authentizitätsbegriff benötigt sie, damit sich ein authentisches von einem verfehlten Leben unterscheiden lässt. Im Vorgriff auf eine solche Bestimmung wird die bereits häufig ins Spiel gebrachte Formel der Authentifizierung, also der Vollzug der Authentizität, genauer umrissen: Zu ihr „gehört der gesamte Prozess des Suchens, des Findens und Erfindens, des Sprechens oder Antwortens mit eigener Stimme; ein Prozess, in dem sich das Selbst als authentisches konstituiert“ (S. 135). Nun folgen in dieser Arbeit erstmals Passagen, die eine Kürzung tatsächlich verdient hätten – die mäandernde Suche nach überzeugenden Mindestkriterien der Authentifizierung macht selbst die geneigte Leserschaft dann doch etwas müde. Streeck wird letztendlich bei Richard Rorty und Charles Taylor fündig. Mit Letzterem plädiert die Autorin für „Artikulation“ als ein erstes Kriterium, den Versuch, „für das eigene Denken, Fühlen und Erleben die richtigen Worte zu finden“, wobei wir es sowohl mit einer „rekonstruktiven Interpretation“, also mit einer „Selbstfindung“, zu tun haben wie auch mit einem „konstruktiven Entwurf“, im Sinne einer „Selbsterfindung“ (S. 201). Richard Rorty verdankt Streeck das Kriterium der „narrativen Kohärenz“: Menschen wollen eine Lebensgeschichte erzählen können, die nicht in zusammenhangslose Fragmente zerfällt. Diese Sichtweise ist plausibel und folgenreich zugleich. Gegen die zwei Mindestkriterien sind starke Einwände kaum möglich. Und sie entkräften den Verdacht, das Authentizitätsideal könnte Sterbende in die Zwangsjacke einer allzu substanziellen Vorgabe zwingen.

Im dritten und letzten Kapitel „Verkehrte Authentizität: Sterben mit Palliative Care und Sterbehilfe“ (S. 221–312) demonstriert Streeck anhand einflussreicher Institutionen und Initiativen wie eine solche Verkehrung aussieht und wo sie bereits zu wirken begonnen hat. „Ausgeschlossen wird, dass jemand […] eine Haltung der Passivität an den Tag legen kann.“ (S. 223) Die ausführliche und überaus erhellende Analyse der beiden genannten Bewegungen – Palliative Care und Sterbehilfe – legt deren Tendenz frei, Erzählmuster zu verwenden (samt der in ihnen zum Ausdruck kommenden Idealisierungen), in denen die Sterbenden mit einem nahezu zwingenden Gestaltungsaufruf konfrontiert werden, also mit einem aktivistischen Programm angesichts buchstäblich letzter Angelegenheiten. Sie werden in der und durch die Sterbehilfebewegung zu einer „Rollenübernahme“ (S. 261) gezwungen, die im Mindesten die rechtzeitige „Planung des eigenen Ablebens“ (S. 268), eventuell auch einen „heroische[n] Suizid“ beinhaltet (S. 269). Das Sterben ist solchermaßen zu einem Projekt geworden, das Kontrolle verlangt und ein Sterbemanagement voraussetzt. Aber dieses Rollenprofil tendiert dazu, dass gerade die eigene Stimme abhandenkommt.

Wer dem Ideal vom guten Lebensende nicht genügt oder genügen möchte, muss mit dem Vorwurf leben (und sterben), hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein. Unter anderem aufgrund dieser dialektischen Verkehrung vom Ideal in Erwartung respektive Zwang hofft man auf Turbulenzen in der Debatte um den „eigenen“ Tod. Nina Streeck hat hierfür ein überaus wichtiges Buch verfasst, das aus den genannten Gründen möglichst viele Leser*innen finden möge.                                        

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Philosophie Normen / Regeln / Konventionen

Jean-Pierre Wils

Prof. Dr. Jean-Pierre Wils ist Ordinarius für Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud Universität Nimwegen (NL). Nach einem Studium der Theologie und Philosophie in Leuven (B) und Tübingen promovierte (1987) und habilitierte (1990) er sich in Tübingen. Anschließend war er, neben zahlreichen Gastprofessuren, Werner-Heisenberg-Stipendiat der DFG (1990–1995) und Professor am Humboldtzentrum der Universität Ulm.

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