Tine Haubner, Karl Marx | Essay |

Let’s Talk About Exploitation!

Zur Wiederbelebung eines totgesagten Begriffs

“It is degrading to have your weakness taken advantage of, and dishonorable to use the weakness of others for your ends.”[1]

In Katar schuften afrikanische und asiatische Wanderarbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen auf WM-Baustellen,[2] rechtlose Textilarbeiter*innen aus Bangladesch arbeiten vierzehn Stunden täglich in italienischen Fabriken,[3] „agile“ Beschäftigte werden in deutschen Softwareunternehmen über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus in der digitalen Cloud „vernutzt“[4] und schätzungsweise 14.500 Menschen leben und arbeiten unter sklavenähnlichen Bedingungen in privaten Haushalten oder Bordellen der Bundesrepublik.[5] Was in Berichten von NGOs, den Anklagen politischer Aktivist*innen oder den Aussagen Betroffener zum üblichen Begriffsinventar gehört, fristet ausgerechnet in der Wissenschaft, die „begleitende[n] Zeitdiagnose[n] einer Gesellschaft“[6] zu ihrem Kernanliegen erklärt, ein Schattendasein: Ausbeutung. Der Ausbeutungsbegriff, der erst mit Marx den Status wissenschaftlicher Wirkmächtigkeit erhielt, ist mit dem akademischen Niedergang marxistischer Gesellschaftstheorien und spätestens mit dem Ende des Realsozialismus vollständig aus dem Werkzeugkasten der Sozialwissenschaften verschwunden. Und obwohl verwandte Begriffe wie „Entfremdung“ oder „Klasse“ sich unter dem Eindruck einer Rückkehr sozialer Spaltung in die Wohlstandsnationen des globalen Nordens und angesichts der Zunahme erschöpfungsbedingter Erkrankungen eines wieder erwachten Interesses erfreuen dürfen[7], wird dem Ausbeutungsbegriff eine solche Renaissance nicht zuteil. Es scheint, als sei Alan Wertheimers Diagnose noch immer aktuell: „…because the concept of exploitation has figured so prominently in Marxist political theory, non-Marxists may have been reluctant to enter the field.“[8]

Der Ausbeutungsbegriff und die Soziologie

Dass Soziolog*innen den Ausbeutungsbegriff entweder als toten Klassiker musealisieren oder ihn, wenn überhaupt, nur mit spitzen Fingern anfassen, hat viele Gründe. „Ausbeutung“ gilt nicht allein Soziolog*innen mit Generationenkomplex als primär normativer Begriff mit mangelnder analytischer Brauchbarkeit. Der Begriff wird außerdem noch immer eng an die Gültigkeit marxistischer Werttheorie gekoppelt und ist spätestens seit der marginalistischen Wende in den Wirtschaftswissenschaften in den Orkus politischen Jargons verbannt. Rezeptionsgeschichtlich hat sich die Soziologie an den einst lebhaften Debatten zum marxistischen Ausbeutungsbegriff nur wenig beteiligt. Während in den 1970er- und 80er-Jahren philosophische „Humanisten“ das moral- und politiktheoretische Potenzial des Begriffes erkundeten und ökonomische „Hardliner“ die mathematische Evidenz des Marxschen „Fundamentaltheorems“ prüften,[9] fühlte sich die Soziologie wenig für eigene Beiträge zuständig. Obgleich ein gemindertes soziologisches Interesse an Matrizenalgebra und analytischer Philosophie durchaus nachvollziehbar ist, hat diese disziplinäre Arbeitsteilung, im Prokrustesbett moralischer Empörung und Profittheorie, zu einem theoretischen Vakuum geführt – mit dem Resultat, dass es der Soziologie „an einem klaren Ausbeutungsbegriff mangelt“.[10]

Das ist aus einem einfachen Grund bedauerlich: Kein vergleichbarer Begriff nämlich bezeichnet den sozialen Tatbestand, wonach sich bestimmte Akteure unter bestimmten Bedingungen Vorteile durch die Nutzung fremden Arbeitsvermögens verschaffen können, ähnlich präzise. Neoweberianische Klassentheorien, die Sozialstrukturanalyse oder die Armutsforschung haben zwar mit „Schließung“, „Rentenbildung“ oder „Exklusion“ konkurrierende Begriffe in den Ring geworfen, mit der Absicht, den einstigen „Dreh- und Angelpunkt der Sozialkritik“[11] zu substituieren. Doch keiner der Kontrahenten vermochte es, das „Verbindungsprinzip zwischen dem Glück der Starken und der Not der Schwachen“,[12] inklusive ungleich bevorteilender Arbeitskraftnutzung, adäquat zu erfassen. Statt aber „Ausschluss“ gegen „Ausbeutung“ auszuspielen, werttheoretische Fundamentaltheoreme unter Absehung sämtlicher gesellschaftstheoretischer Begriffsimplikationen stur zu berechnen oder primär auf das moralische Empörungspotenzial des Begriffes abzustellen, sollte Soziologie (eine „öffentliche“ allemal) vielmehr ihrem Kernanliegen folgen, „testweise Leitformeln zur Beschreibung von gesellschaftlichen Problemfeldern zu bieten, auf die die politische Öffentlichkeit mit Ja oder Nein reagieren kann“[13] und das gesellschaftsdiagnostische Vermögen des Ausbeutungsbegriffes unter die Lupe nehmen. Dafür lohnt sich zunächst ein Blick in das Werk seines geistigen Ziehvaters.

L’exploitation de l’homme par l’homme“: Ausbeutung bei Marx

Entgegen der Annahme, wonach Marx ganz verschiedene, einander sogar widerstreitende Begriffsverständnisse von Ausbeutung präsentiere[14], handelt es sich bei Ausbeutung um einen Gedanken, den Marx auf verschiedenen Abstraktionsniveaus und werkgeschichtlich immer konkreter ausbuchstabiert und in verschiedenen gesellschaftstheoretischen Kontexten verwendet. Zum ersten Mal wird Ausbeutung bei Marx und Engels in der Deutschen Ideologie im Rahmen einer Kritik am Utilitarismus als „l’exploitation de l’homme par l‘homme“ eingeführt. Hier formulieren die Autoren erst einmal ganz allgemein, was es mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf sich hat, nämlich: „…daß ich mir dadurch nütze, daß ich einem Andern Abbruch tue“.[15] Im Anschluss wird Ausbeutung bei Marx als in verschiedener Gestalt auftretendes Phänomen aller bisherigen Klassengesellschaften sowohl historisiert als auch werttheoretisch, für die Erklärung des Mehrwerts in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften, ausgebaut.

Dass Ausbeutung noch immer auf die werttheoretische Erklärung der Profitgenerierung festgenagelt wird, verdankt sich Marx‘ spezifischem Interesse an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die „alle frühern auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionssysteme“ „an Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit“ „übergipfelt“.[16] Es geht ihm hier insbesondere um die Beantwortung der Frage, wie die Generierung von Profiten im Rahmen einer Produktionsweise möglich ist, deren Zirkulationsprozess auf Äquivalententausch basiert und deren Ausbeutungscharakter durch die Warenform der Arbeitsprodukte verschleiert wird. Marx löst dieses Rätsel ungemein klug, in dem er den auf Profiterwirtschaftung abzielenden Ausbeutungsprozess als paradoxe Entstehung von Differenz unter Wahrung von Äquivalenz begreift. Kapitalistische Ausbeutung bezeichnet für ihn grundlegend die Aneignung einer spezifischen Wertdifferenz, die sich aus dem Wert der Ware Arbeitskraft und dem Wert der Ware als Arbeitsprodukt ergibt. Waren werden äquivalent zu ihren Werten getauscht, ein Überschuss dennoch privat angeeignet. Weil Ausbeutung für Marx in vorbürgerlichen Gesellschaften weniger „mystifiziert“ auftritt als im Kapitalismus, bedarf sie keiner so gründlichen wissenschaftlichen Analyse. Die Werttheorie hat daher genau den Zweck, gesellschaftlich verschleierte Wertdifferenzen begrifflich „sichtbar“ zu machen.

Mit Marx gegen Marx denken

Wenn es um Ausbeutung geht, empfiehlt es sich, „mit Marx gegen Marx“[17] zu denken. Die marxistische Rezeption hat zur Vereinseitigung des Ausbeutungsbegriffes beigetragen, die soziologische Anschlüsse hartnäckig blockiert. Marx' prominente werttheoretische Lösung des „Geheimnisses der Plusmacherei“[18] und seine Fokussierung auf die „Bewegungsgesetze“[19] der kapitalistischen Produktionsweise haben nicht nur dazu geführt, dass Ausbeutung als quantifizierbares, technisch-profittheoretisches Erklärungsinstrument missverstanden wurde, das außerhalb kapitalistischer Fabrikhallen keinerlei Gültigkeit beansprucht. Marx‘ „für den Zweck der Strukturanalyse“ unternommene Unterstellung eines „gewissermaßen gesetzeskonformen Kapitalismus“,[20] wurde zudem derart ernst genommen, dass kapitalistische Ausbeutung als von Macht, Diskriminierung und Gewalt unabhängiges Phänomen aufgefasst wurde. Doch obwohl Marx der kapitalistischen Ausbeutung produktiver und (vermeintlich) freier Lohnarbeit besondere Aufmerksamkeit schenkte, galt ihm Ausbeutung als charakteristisches und in verschiedener Gestalt auftretendes Merkmal aller historischen Klassengesellschaften. Und wenngleich sich der kapitalistische Äquivalententausch von Arbeitskraft gegen Lohn für Marx signifikant von allen bisherigen Ausbeutungsformen unterscheidet, existieren für ihn auch hier, unter der Oberfläche freier und gleicher Transaktionen, stets strukturelle Machtverhältnisse: „… also das Kapital pumpt in dem ihm entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsprozeß ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten oder Arbeitern heraus, Mehrarbeit, die jenes ohne Äquivalent erhält, und die ihrem Wesen nach immer Zwangsarbeit bleibt, wie sehr sie auch als das Resultat freier kontraktlicher Übereinkunft erscheinen mag.“[21]

Mit Henri Lefèbvre lässt sich deshalb konstatieren: „Marx ist [zwar] kein Soziologe, aber sein Werk enthält eine Soziologie“.[22] Mit Marx kann die Soziologie Ausbeutung als einen Prozess verstehen, der struktureller Natur ist, also nicht zufällig, sondern notwendig aus einer bestimmten Gesellschaftsform resultiert und für dessen Analyse personifizierende Verantwortungs- oder gar Schuldzuschreibungen deshalb wenig hilfreich sind. Marx zeigt außerdem, dass für eine Untersuchung von Ausbeutungsverhältnissen spezifische historische, ökonomische, rechtlich-politische sowie kulturelle Aspekte ─ und damit immer auch gesellschaftliche Machtverhältnisse ─ in ihrer wechselseitigen Vermittlung berücksichtigt werden müssen. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei den Eigentumsverhältnissen zu: Um „lebendige Arbeit“ auszubeuten, müssen die Ausgebeuteten vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen werden. Soziale Verwundbarkeit durch den Ausschluss von den Produktionsmitteln markiert ─ um es soziologisch zu formulieren ─ bei Marx die Voraussetzung von Ausbeutungsbeziehungen. Damit ist auch klar, dass Ausschluss und Ausbeutung keineswegs in einem gegenseitigen Ausschließungs-, sondern vielmehr in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Außerdem ist Marx’ Feststellung, dass kapitalistische Ausbeutung als formal-fairer Tausch erscheint, in der Hinsicht instruktiv, als dass sie den soziologischen Blick auf ein sowohl erkenntnis- wie gesellschaftskritisches Projekt verpflichtet.

Es gibt aber auch gute Gründe, gegen Marx zu denken. So hat er die Ausbeutung „produktiver“ Arbeit fälschlich als sich historisch verallgemeinernden Zielpunkt kapitalistischer Gesellschaftsentwicklung beschrieben, die Ausbeutung „unproduktiver“ Arbeiten vernachlässigt und die profitzentrierte und quantifizierende Rezeption des Ausbeutungsbegriffes in bestimmter Hinsicht mit vorbereitet. Weil Marx all jene großteils unbezahlt und unreguliert erbrachten Arbeiten unberücksichtigt gelassen hat, die jenseits kommodifizierter „produktiver Arbeit“ verrichtet werden, stellen die überwiegend informell erbrachten Sorgearbeiten eine fruchtbare Herausforderung für den Ausbeutungsbegriff dar.[23] Eine solche Aufklärung „geschlechtsneutraler“ marxistischer Kategorien[24] haben die Beiträge des Marxismus-Feminismus zu leisten versucht und dabei Denkanstöße geliefert, die für eine soziologische Aktualisierung des Ausbeutungsbegriffes unentbehrlich sind.

Die „bisher radikalste Rekonzeptualisierung des Marxismus“

Dass selbst dort, wo weder Arbeitsverträge noch Entlohnung existieren, dennoch von kapitalistischer Ausbeutung gesprochen werden kann, haben die Protagonist*innen der marxistisch-feministischen Hausarbeitsdebatte der 1970er- und 80er-Jahre gezeigt und damit die „bisher radikalste Rekonzeptualisierung des Marxismus“[25] angestoßen. Indem die Autor*innen die ökonomische Bedeutung unbezahlter Hausarbeit für die Reproduktion der Arbeitskraft mit marxistischen Instrumentarien untersuchten, waren sie gezwungen, marxistische Begriffe auch gegen den Strich zu lesen. Mit dem Blick auf die Ausbeutung „unproduktiver“ Hausarbeit, deren Gratis-Verrichtung die Reproduktion der Ware Arbeitskraft als Quelle des Mehrwerts sicherstellt, wurde der Ausbeutungsbegriff zumindest teilweise von seiner tradierten Profitfixierung abgelöst und der geistige Boden für neue Einsichten in die Ausbeutung unbezahlter Arbeitsformen bereitet. Dabei hat die feministische Marx-Kritik zwei ungemein fruchtbare Perspektivverschiebungen geliefert: Sie hat zum einen auf die ökonomische Bedeutung sexistischer und anderer Diskriminierungsformen im Kapitalismus hingewiesen und in diesem Zusammenhang die Persistenz und ökonomische Relevanz vorgeblich überholter Phänomene wie Gewalt, Sklaverei und Unterdrückung berücksichtigt. Und sie hat dem, unter Marxisten äußerst beliebten, evolutionären Entwicklungsmodell kapitalistischer Entwicklung ─ demzufolge sich die freie Lohnarbeit perspektivisch für alle Proletarier*innen durchsetzt ─ ein Kapitalismusverständnis gegenübergestellt, welches diesen nicht als (vorläufiges) historisches Telos fortschrittlicher Produktivkraftentwicklung, sondern als „heterogene Verbindung unterschiedlicher Formen von Arbeit und Ausbeutung“[26] betrachtet. Auf diese Weise tragen die feministischen Interventionen den Umständen Rechnung, dass freie Lohnarbeit im globalen Maßstab noch immer minoritär ist, ein historischer Höchststand moderner Sklaverei erreicht ist,[27] sich in bestimmten Ländern eine Zunahme informeller Arbeit und Schattenwirtschaft beobachten lässt[28] und Frauen weltweit noch immer das Gros unbezahlter Reproduktions- und Sorgearbeiten verrichten.

Die Mobilisierung der „Care-Reserve“…

Wenn es um die Ausbeutung informeller Sorgearbeiten geht, muss man nicht in die Ferne internationaler Diplomatenhaushalte schweifen, die ihre Haushaltshilfen wie Sklaven behandeln.[29] Auch das konservativ-familiaristische Sorgeregime der BRD bietet  vielfältige Einblicke in die Praxis der Externalisierung pflegerischer Tätigkeiten. Hier ist nämlich seit den 1990er Jahren eine zunehmende sozialpolitische Förderung informeller Laienpflegearbeit zu beobachten, die in Zeiten des demografischen Wandels und eklatanten Fachkräftemangels das kostengünstige Arbeitskraftreservoir anderer Länder und deren sorgender Gemeinschaften zu mobilisieren anstrebt. Wenn sich im Kontext einer „Krise sozialer Reproduktion“[30] das familiäre Helferpotenzial zu erschöpfen droht und steigende Pflegekosten „nicht aus den steigenden Profiten ausgeglichen werden soll[en]“[31], gilt es, insbesondere in konservativen Sorgeregimen, die die Eigenarbeit und Selbsthilfe informeller Netzwerke traditionell stärken, pflegerische Unterstützung auch jenseits familiärer Verantwortung zu aktivieren. Unter dem Druck steigender Versorgungsbedarfe und dem Leitstern „sorgender Gemeinschaften“ folgend, unternimmt der deutsche Sozialstaat seither einige Anstrengungen, die informelle Hilfe einer „Care-Reserve“ aus Freund*innen, Nachbar*innen, Geringqualifizierten, Arbeitslosen, Ruheständler*innen oder Freiwilligen auf eine gesetzlich-verbindliche Grundlage zu stellen. Dem Credo „ambulant vor stationär“ entsprechend, wird im verdächtig kontinuierlichen Rhythmus pflegepolitischer Reformen die Eigenarbeit pflegender Angehöriger auf der Grundlage von Cash-for-Care-Programmen gefördert[32] und der Einsatz freiwillig Engagierter in der Pflege mittels Monetarisierung und Semi-Professionalisierung ausgebaut.[33] Der gleichen Logik folgen Maßnahmen wie die 2008 von der Bundesagentur für Arbeit per Schnellkurs durchgeführte Umschulung von 10.000 Langzeitarbeitslosen zu „Betreuungskräften“[34] oder die Anwerbung migrantischer Haushaltshilfen im Handlungskorridor der EU-Osterweiterung.[35] Diese Mobilisierung überwiegend weiblicher und sozial verwundbarer Teile der Zivilgesellschaft für die Anforderungen einer alternden Gesellschaft, wird von einem neuen subsidiären Gesellschaftsvertrag gerahmt, der auf eine Neuverteilung der Verantwortungszuschreibung zwischen öffentlichen und privaten Leistungserbringern und den zu „autonomen Marktteilnehmern“ avancierten Pflegebedürftigen und ihren informellen Unterstützungsnetzwerken abzielt.[36] Im Unterschied zu seinem, stärker der katholischen Soziallehre verpflichteten, Vorgänger, betont der heutige subsidiäre Gesellschaftsvertrag liberale Denktraditionen und die Eigenverantwortung der Bürger*innen.

…und ein soziologischer Ausbeutungsbegriff

Um die Mechanismen zu verstehen, die die Ausbeutung informeller Pflege strukturieren, muss ein soziologischer Ausbeutungsbegriff zweierlei leisten. Er muss erstens vom Anspruch Abstand nehmen Profitgenerierung auf vollständigen Wettbewerbsmärkten erklären zu wollen, denn die enge marxistische Kopplung von Ausbeutung und Profitgenerierung erübrigt sich auf dem staatlich hochregulierten Quasi-Markt der Pflege, auf dem nicht primär Profitstreben, sondern ein maßgeblich von der sozialen Pflegeversicherung ausgehender Kostendruck eine Abwertungsspirale vorantreibt. Er muss zweitens den Fakta hochgradig feminisierter Arbeitstätigkeiten und der Identität der damit betrauten Gruppen Rechnung tragen. Beide Anforderungen stellen enorme Herausforderungen für den geschlechtsneutralen marxistischen Ausbeutungsbegriff dar. Damit ist aber zugleich die Chance auf einen dezidiert soziologischen Ausbeutungsbegriff verbunden, der Ausbeutung nicht als berechenbares Fundamentaltheorem, sondern als spezifische soziale Beziehung versteht, die stets in kulturell-symbolische Ordnungen und subjektiv-sinnhafte Deutungszusammenhänge eingebettet ist.

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, kann eine soziologische Perspektive auf Ausbeutung mit dem Begriff der „Wertminderung“ operieren, den Rainer Bauböck im Kontext der Hausarbeitsdebatte entwickelt hat,[37] um die Profitfixierung seiner marxistischen Vorbilder zu lockern. Schon Bauböck hatte versucht, Marx‘ Ausbeutungsbegriff für die Terra Incognita unbezahlter Hausarbeit analytisch fruchtbar zu machen. Er hat dabei den Nachweis zu bringen versucht, dass jenseits von Profitgenerierung die für Marx‘ kapitalistische Ausbeutung spezifische Differenz (zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit) auch für den Bereich „unproduktiver“ Hausarbeit gilt. Mit dem Unterschied, dass es sich bei Hausarbeit nicht um eine kommodifizierte Arbeitstätigkeit und bei der spezifischen „Ausbeute“ nicht um eine positive Größe im Sinne eines Überschusses („Surplus“), sondern um eine negative Differenz im Sinne einer Wertminderung handelt.

Ganz ähnlich lässt sich auch am Beispiel informeller Laienpflege vorgehen. Wenn Laien nämlich gezielt zur Übernahme informeller Pflegearbeiten herangezogen werden, ist damit in der Regel kein Profitinteresse in den Grauzonen des Wohlfahrtsmarktes der Pflege verbunden ─ wohl aber eine staatliche Strategie der Kostenminimierung. Ähnlich wie unbezahlte Hausarbeit indirekt zur Profitgenerierung beiträgt, weil sie die Ware Arbeitskraft gratis reproduziert, trägt auch die kostengünstige Versorgung durch Laien dazu bei, Pflegekosten bei steigenden Bedarfen gering zu halten. Wenn man außerdem „Ausbeutung" nicht wie so oft gegen „Ausschluss" ausspielt, sondern beide Begriffe im Tandem zusammenspannt, erhält man eine äußerst fruchtbare und dynamische Denkfigur, die Prozesse umfasst, bei denen Personen durch den Ausschluss qua Geschlecht, Alter, Arbeitsmarkt- oder Migrationsstatus sowohl materiell-ökonomisch als auch kulturell-symbolisch verwundbar sind und deren Arbeitskraft so ausbeuterisch genutzt werden kann.

Die kaskadenförmige Ausbeutung sorgender Gemeinschaften

Die sozialpolitische Stärkung der Laienpflege in Deutschland verdankt sich maßgeblich einer solchen Dynamik aus Exklusion, sozialer Verwundbarkeit und Ausbeutung. Die vielgepriesene Pflegebereitschaft in Familien basiert so oftmals weniger auf freiem Entschluss liebender Angehöriger als vielmehr auf materieller und kultureller Verwundbarkeit, wenn geringe Haushaltseinkommen und eine unzureichende staatliche Absicherung auf hohen Pflegeaufwand stoßen. Dass sich dabei noch immer mehrheitlich Frauen für die Versorgung zuständig fühlen, resultiert aus tradierten häuslichen Arbeitsteilungen und geschlechtsspezifischen Verantwortungs- und Kompetenzzuschreibungen. Selbst das freiwillige Engagement in der Pflege lässt mitunter seinen freiwilligen Charakter vermissen, wenn von Altersarmut betroffene „Unruheständlerinnen“ für eine stündliche Aufwandsentschädigung mehrmals die Woche Pflegebedürftige betreuen. Im Falle Langzeitarbeitsloser geht deren hohe Konzessionsbereitschaft mit dem Pflegenotstand eine ganz besondere Wahlverwandtschaft ein. An der Grenze der Rechtswidrigkeit agieren die angelernten Betreuungskräfte, wenn sie im täglichen Stakkato der Minutenpflege zu pflegerischen Verrichtungen herangezogen werden, für die sie weder ausgebildet sind noch entsprechend entlohnt werden. Und wenn schließlich osteuropäische Armutsmigrantinnen mit pflegerischen Schwerstfällen allein gelassen und wie Dienstmägde behandelt werden, ist es nicht mehr weit zu sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in den Grauzonen des deutschen Pflegemarktes.[38]

Diese Ausbeutung ist strukturell bedingt und resultiert aus ökonomischen, politischen, institutionellen und kulturellen Rahmenbedingungen, die sich am besten mithilfe des Kaskadeneffekts veranschaulichen lassen: Den Kopf der Kaskade bildet das ökonomische Dilemma von Pflegearbeiten, zugleich unverzichtbar und begrenzt profitabel zu sein. Mit dieser Grundproblematik gehen nationalstaatliche Pflegeregime allerdings verschieden um. Auf einer weiteren Stufe der Kaskade folgen daher die politischen Rahmenbedingungen nationaler Pflegeregime, welche das ökonomische Dilemma verschieden bearbeiten und umformen. Die auf Kostensenkung ausgerichtete deutsche Pflegepolitik bearbeitet diese Grundproblematik auf eine Weise, die der Pfadabhängigkeit eines konservativen Wohlfahrtsregimes im „neosozialen Umbau“[39] entspricht. Die sozialpolitische Antwort auf Bedarfs- und Kostensteigerungen in der Pflege stellt hier die Fortführung einer „privatistischen“ Pflegekultur mithilfe einer lediglich als Teilkaskoleistung ausgestalteten Pflegeversicherung dar, die das Gros pflegerischer Verantwortung zivilen Gemeinschaften aufhalst. Der aus dem Teilkasko-Charakter der Pflegeversicherung resultierende Kostendruck wird anschließend, auf der nächsten Stufe der Kaskade, in Form niedriger Pflegesätze, an die stationären und ambulanten Anbieter weitergegeben, die unter dem Einfluss von Fachkräftemangel und beruflichem Negativimage mit personalpolitischen Rekrutierungsproblemen ringen und im täglichen Handgemenge auf die rechtwidrige Arbeitskraftnutzung Ungelernter zurückgreifen. Die letzte Stufe bilden schließlich die Pflegehaushalte selbst, die mit nur geringen Haushaltseinkommen zum Teil unter einem hohen ökonomischen Druck stehen und Vorteile aus der „Not der Schwachen“ ziehen, wenn sie sich für die kostengünstigste Versorgung durch unterbezahlte osteuropäische Pflegekräfte entscheiden ─ und dabei nicht selten eine imperiale Dienstherren-Mentalität an den Tag legen.

Plädoyer für die Entweihung des Ausbeutungsbegriffes

Der Ausbeutungsbegriff ist meilenweit von einer Renaissance als analytisches Konzept zur Beschreibung von Gegenwartsgesellschaften entfernt. Es sieht vielmehr ganz so aus, als sei er in das Prokrustesbett moralischer Empörung zurückgeworfen, aus dem ihn Marx eine Zeit lang hatte befreien können. Schwer wiegt zudem noch immer das Erbe einer zuweilen engstirnigen marxistischen Rezeption, die soziologische Anschlüsse blockiert. Dass „Ausbeutung" in der Soziologie häufig nur als Empörungsmetapher gebraucht wird, verstellt den Blick auf die soziologisch-analytischen Potenziale des Begriffs. Denn nur mit dem Ausbeutungsbegriff lassen sich solche sozialen Beziehungen in kritischer Absicht kennzeichnen, die einen Kausalnexus zwischen mindestens zwei Akteuren, in Gestalt einseitiger Bevorteilung durch Arbeitskraftnutzung, darstellen. Im Kontext der Pflegekrise von „Ausbeutung" zu sprechen  ─ und nicht etwa schlicht von „Einsparpolitik" oder „staatlichem Rückzug" ─ bedeutet, die Übernahme informeller Laienpflegearbeit durch bestimmte Bevölkerungsgruppen zum einen als nicht zufällig und zum anderen als interessengeleitet zu begreifen. Es bedeutet, von einer strukturell bedingten, gleichwohl aktiv betriebenen Nutzungsstrategie zu sprechen, die aus der Verwundbarkeit bestimmter Akteure ökonomische Handlungsspielräume zieht.

Um Ausbeutung ins soziologische Gespräch zu bringen, ist es sinnvoll, den Ausbeutungsbegriff vom hohen Sockel der Fundamentaltheoreme herunter zu holen, den Begriff gewissermaßen zu entweihen, und ihn einer öffentlichen Soziologie anzuempfehlen, die das Ziel verfolgt, das Fach mit kritischen Öffentlichkeit(en) ins Gespräch zu bringen. Es wäre nämlich schlicht schade, einen Begriff weiterhin zu vernachlässigen, der im Alltagsverständnis Betroffener präsent geblieben ist und wie kein anderer einen spezifischen und dennoch vergleichsweise simplen Grundgedanken zur Anwendung bringt: Dass nämlich die Last der Einen, der Preis für die Aufrechterhaltung der Vorteile Anderer ist.

  1. Allen Wood, Exploitation, in: Social Philosophy and Policy 12 (1995), S. 136–158, hier 151.
  2. Amnesty International, The Ugly Side of the Beautiful Game. Exploitation of Migrant Workers on a Qatar 2022 World Cup Site, 2016.
  3. Martina Kollross, Aufstand der Nähsklaven, in: taz, 17.4.2017.
  4. Alexander Hagelüken, A wie Ausbeutung, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 14.4.2018.
  5. Stuttgarter Zeitung, 14.500 Menschen in Deutschland leben als Sklaven, in: Stuttgarter Zeitung, 31.5.2016.
  6. Axel Honneth, „Die Überflüssigen“. Ein Gespräch zwischen Dirk Baecker, Heinz Bude, Axel Honneth und Helmut Wiesenthal, in: Heinz Bude / Andreas Willisch (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die „Überflüssigen“, Frankfurt am Main 2008, S. 31–49, hier S. 46.
  7. So etwa bei Jutta Allmendinger, Deutschland, eine Klassengesellschaft? Essay, in: Zeit online Wissen, 17.12.2007.
  8. Alan Wertheimer, Exploitation, Princeton, NJ 1996, S. 8.
  9. Lawrence Crocker, Marx‘ Concept of Exploitation, in: Social Theory and Practice 2 (1972), S. 201–215.
  10. Luc Boltanski / Éve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 384.
  11. Ebd., S. 380.
  12. Ebd., S. 398.
  13. Honneth, „Die Überflüssigen“, S. 46.
  14. Allen Buchanan, Exploitation, Alienation, and Injustice, in: Canadian Journal of Philosophy 9 (1979) S. 121–139.
  15. Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 3, Berlin 1978, S. 394.
  16. Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 23, Berlin 1962, S. 328.
  17. Pierre Bourdieu, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000, S. 115.
  18. Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 23, Berlin 1962, S. 189.
  19. Ebd., S. 15.
  20. Heide Gerstenberger, Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus, Münster, S. 14.
  21. Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 25, Berlin 1964, S. 827.
  22. Henri Lefèbvre, Soziologie nach Marx, Frankfurt am Main, 1972, S. 22.
  23. Zur Politischen Ökonomie strukturell unproduktiver Sorgearbeiten und ihrer gleichzeitig notwendigen wie obsoleten Rolle in einer auf Produktivitätszuwachs geeichten Wirtschaftsform vgl. den Beitrag von Tove Soiland auf Soziopolis.
  24. Michèle Barrett, Das unterstellte Geschlecht, Umrisse eines materialistischen Feminismus, Berlin 1983, S. 17.
  25. Silvia Federici, Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution, Münster 2012, S. 35.
  26. Ebd., S. 40.
  27. Kevin Bales / Becky Cornell, Moderne Sklaverei, Hildesheim 2008.
  28. ILO, Women and Men in the Informal Economy: A Statistical Picture Third Edition, Genf 2008.
  29. Gerd Millmann, Die Sklaven der Exzellenten, in: Zeit Online, 10.4.2014.
  30. Kerstin Jürgens, Deutschland in der Reproduktionskrise, in: Leviathan 38 (2008), S. 559–587.
  31. Dorothee Frings, Die Entwicklung haushaltsnaher Dienstleistungen im Kontext der begrenzten Arbeitnehmerfreizügigkeit für Neu-Unionsbürgerinnen, in: Kirsten Scheiwe / Johanna Krawietz, (Hg.), Transnationale Sorgearbeit. Rechtliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Praxis, Wiesbaden 2010, S. 58.
  32. Karen Jaehrling, Die politische Regulierung des Arbeitsmarktes Privathaushalt. Marktregulative Politik im deutsch-französischen Vergleich, in: Zeitschrift für Sozialreform 50 (2004), 6, S. 617–645.
  33. Zentrum für Qualität in der Pflege, Freiwilliges Engagement im pflegerischen Versorgungsmix, ZQP-Themenreport 2013.
  34. Focus online, Langzeitarbeitslose: Pflegeassistent im Schnellkurs. Beitrag vom 16.08.2008. www.focus.de/finanzen/news/arbeitsmarkt/langzeitarbeitslose-pflegeassistent-im-schnellkurs_aid_325359.html Abrufdatum: 18.10.2016.
  35. Juliane Karakayali, Transnational Haushalten. Biografische Interviews mit care workers aus Osteuropa, Wiesbaden.
  36. Vgl. Matthias Dammert, Angehörige im Visier der Pflegepolitik. Wie zukunftsfähig ist die subsidiäre Logik der deutschen Pflegeversicherung? Wiesbaden 2009, S. 54.
  37. Rainer Bauböck, Hausarbeit und Ausbeutung. Zur feministischen Kritik am Marx’schen Arbeitsbegriff, Forschungsbericht Nr. 245, Wien 1988.
  38. Tine Haubner, Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpflege in Deutschland, Frankfurt am Main / New York 2017.
  39. Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008, S. 14.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Clemens Reichhold.

Tine Haubner

Dr. Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Politische Soziologie des Instituts für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Care-Forschung, soziale Ungleichheit und kritische Arbeitssoziologie sowie kritische Gesellschaftstheorien und qualitative Sozialforschung. Sie promovierte mit einer Arbeit zur sozialpolitischen Regulierung der gegenwärtigen Altenpflegekrise in Deutschland.

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Karl Marx

Dr. Karl Marx ist Soziologe, Ökonom und Philosoph. Forschungsaufenthalte u. a. in Brüssel, Paris und London. Zahlreiche Veröffentlichungen zu politischen, wirtschafts-wissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Themen, insbesondere zum Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital.

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