Andrea Maurer, Stephan Moebius, Gabriele Siegert | Nachruf |

Weltbürger in soziologischer Absicht

Peter Atteslander überwältigte in Begegnungen durch seine starke persönliche Ausstrahlung. Er war ein Weltbürger in soziologischer Absicht.

1926 in Ennenda (Kanton Glarus; Schweiz) geboren, studierte er Philosophie und Soziologie in Zürich, wo er den emigrierten René König kennenlernte. Dieser veranlasste ihn 1954 an die Universität Köln zu kommen, um über die Entnazifizierung in der deutschen Industrie zu forschen. Die von René König, Erwin K. Scheuch und Alfred Silbermann nach dem Zweiten Weltkrieg in Köln wieder aufgebaute Soziologie[1] hat nicht nur den wissenschaftlichen Lebensweg, sondern auch das soziologische Denken von Peter Atteslander entscheidend geprägt. Für seine soziologische Sicht auf die Welt waren „indes“ (ein Lieblingswort von Peter Atteslander) Aufenthalte in den USA und vor allem an der Cornell University (New York, USA) in den 1950er-Jahren bedeutsam, wo er sowohl William Foote White als auch den von ihm liebevoll Bob genannten Robert K. Merton kennenlernte. Atteslander war dort der „Verbindungmann“ Königs, wie er einmal in einem Interview sagte. Die Aufenthalte in den USA förderten sein Interesse an der neuen empirischen Sozialforschung sowie der Arbeits- und Managementsoziologie. Peter Atteslander zählt neben Renate Mayntz und Rolf Ziegler zu den ersten Vertretern einer erfahrungswissenschaftlichen Soziologie, die diese Entwicklung aus den USA mit nach Deutschland brachten. Die Kölner Zeit im Umfeld von René König prägte Peter Atteslander auch in dem Sinne, dass er stets fern von ideologischem Kastendenken einem liberalen Habitus verpflichtet war. Das hat bei Peter Atteslander – wie schon bei René König – dazu geführt, dass er seine MitarbeiterInnen und DoktorandInnen weitgehend eigene Wege gehen und Fehlschritte tun ließ.

Bekannt geworden ist Peter Atteslander, der seit 1972 einen Lehrstuhl an der Universität Augsburg innehatte, vor allem durch seine Einführung in die „empirische Sozialforschung“, die zunächst als Göschen-Band und dann später im Erich Schmidt Verlag in zahlreichen Sprachen und Auflagen veröffentlich wurde.[2] Dieses Lehrbuch hat unzählige Studierende und SozialwissenschaftlerInnen begleitet und mehrere Generationen an MitarbeiterInnen beschäftigt. Peter Atteslander hat auch immer wieder auf Schwierigkeiten wie Grenzen der empirischen Forschung hingewiesen und dürfte heute noch vielen durch seine Monografie Verzerrungen im Interview[3] gegenwärtig sein. Weit darüber hinaus – und sicher im Geiste von Max Weber, Emile Durkheim und König  war er immer auch ein an sozial-strukturellen und gesellschaftspolitischen Fragen interessierter Soziologe. Wie König war er der Meinung, man könne die Gesellschaft nicht nur studieren, sondern man müsse ihr auch etwas zurückgeben: Kritik und Diskussion. Peter Atteslander (am Lehrstuhl gern "PA" genannt), hat durch seine Herausgabe der qualitativen Studie über die Street Corner Society von William Foote Whyte[4] nicht nur früh die Bedeutung qualitativer Verfahren, sondern auch stadtsoziologischer Fragen erkannt. Darüber hinaus hat er sich, was manchem heute vielleicht nicht mehr bekannt ist, auch mit den Umbrüchen im Management und der Bürokratie von Unternehmen beschäftigt sowie in den 1990er-Jahren Durkheims Anomie-Konzept mit einem internationalen Sammelband[5] in die soziologische Diskussion zurückgebracht. In seinen letzten aktiven Jahren als Ordinarius und auch noch als Emeritus (beide Rollen verkörperte er überzeugt und überzeugend) hat er die Bedeutung von "public health" erkannt und versucht, diese Forschungsrichtung zu institutionalisieren. Eine zu seinem 65. Geburtstag erschienene Festschrift[6] aus dem Jahr 1993 enthält nicht nur eines der schönsten Porträtfotos von ihm, sondern dokumentiert auch sein weites Netzwerk und die große Zahl an befreundeten Weggefährten, zugeneigten KollegInnen und MitarbeiterInnen.

Peter Atteslander, der am 15. Januar 2016 in der Schweiz verstorben ist, wird als Weltbürger in soziologischer Absicht in Erinnerung bleiben.[7]

  1. Vgl. Stephan Moebius, René König und die „Kölner Schule“. Eine soziologiegeschichtliche Annäherung, Wiesbaden 2015. Siehe dazu auch die Rezension von Oliver Römer.
  2. Peter Atteslander u.a., Methoden der empirischen Sozialforschung, 13., neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Berlin 2010.
  3. Peter Atteslander / Hans-Ulrich Kneubühler, Verzerrungen im Interview. Zu einer Fehlertheorie der Befragung, Opladen 1975.
  4. William Foote Whyte, Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels, hg. von Peter Atteslander, übers. von Reinhard Blomert und Joachim Kalka, Berlin 1996 (Originalausgabe: Street Corner Society. The social structure of an italian slum, Chicago 1952).
  5. Peter Atteslander (Hrsg.), Comparative anomie research. Hidden barriers – hidden potential for social development, Aldershot u.a. 1999.
  6. Horst Reimann/Hans-Peter Müller (Hrsg.), Probleme moderner Gesellschaften. Peter Atteslander zum 65. Geburtstag, Opladen 1993.
  7. Einige autobiografische Leseempfehlungen: Peter Atteslander, Soziologische Orientierung – Verantwortung und Ohnmacht der Sozialwissenschaft, in: Karl Martin Bolte/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Soziologie als Beruf. Erinnerungen westdeutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration, Soziale Welt Sonderband 11, Baden-Baden 1998, S. 131–149; Peter Atteslander, Bruchstücke, in: Christian Fleck (Hrsg.), Wege zur Soziologie nach 1945. Biographische Notizen, Opladen 1996, S. 161–183.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften

Andrea Maurer

Prof. Dr. Andrea Maurer lehrt  Arbeits-, Organisations- und Unternehmenssoziologie an der Universität Trier.

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Stephan Moebius

Univ.-Prof. Dr. phil. Stephan Moebius ist Universitätsprofessor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und stellvertretender Leiter des Zentrums für Kulturwissenschaften an der Universität Graz. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Soziologiegeschichte, Kultursoziologie, Soziologische Theorie, Intellektuellensoziologie und Religionssoziologie. Er ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2017 erhielt er den Staatspreis für exzellente Lehre der Republik Österreich.

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Gabriele Siegert

Gabriele Siegert ist Universitätsprofessorin für Medienökonomie am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich.

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