Sabine Hark | Interview |

„Es gibt Bücher und es gibt gewichtige Bücher“

Sieben Fragen an Sabine Hark

Ohne die Lektüre welchen Buches wären Sie heute ein:e andere:r?

Es gibt Bücher und es gibt gewichtige Bücher. Zu denen von Gewicht gehört ohne jeden Zweifel Judith Butlers Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, erschienen 1990. Ein schmaler Band, kaum 170 Seiten im englischen Original. Bis heute erinnere ich den Moment, als ich es im Frühjahr 1990 im Buchladen der San Francisco State University aus dem Regal zog. Der Name der Autorin sagte mir nichts. In meinen Women’s-Studies-Seminaren im Jahr zuvor hatte Butler noch nicht zum Lesekanon gehört. Gender Trouble war in diesem Früh­ling ein noch kaum gelesenes, geschweige denn besprochenes, diskutiertes, verworfenes, verteidig­tes Buch – aber für mich persönlich in dieser Sekunde schon ein troublemaker. Ich hatte begonnen, über mein Dissertationsthema nachzudenken. Es sollte um Identitätskritik gehen, genauer: um eine Kritik lesbisch-feministischer Identitätspolitik im (west-)deutschen Kontext. Ein Thema, von dem viele mir sagten, dass es keines sei. Identitätsfragen seien aus theoretischer Perspektive uner­giebig, aus politischer irrelevant. Und da war es nun: das Buch, das genau diese Frage schon bearbeitet hatte. Feminism and the Subversion of Identity. Meine Dissertation schien am Ende, noch bevor ich sie tatsächlich begonnen hatte. Beunruhigt verließ ich den Buchladen mit Gender Trouble im Rucksack.

Vom Cover des Buches blickten mich aus einer gealterten, sepiafarbenen Fotografie zwei ernst dreinschauende Augenpaare an. Zwei Kinder, kaum Teenager. Auf den ersten Blick unentscheidbar, ob desselben oder verschiedenen Geschlechts. Die Hand des kleineren Kindes auf der Schulter des großen. Durch diese Geste verbunden, doch durch einen unregelmäßig verlaufenden Falz in der Mitte des Fotos nachträglich getrennt. Beide Kinder in langärmliger, üppig mit Rüschen besetzter Klei­dung. In Hosen das eine, im Kleid das andere. Das jüngere mit einem zeitlos wirkenden Kurzhaar­schnitt, das ältere Kind trägt die Haare lang. Beide wirken auf berührende Art verletzlich und strahlen zugleich starke Entschlossenheit aus. Besonders das ältere Kind im Rüschenkleid scheint den Moment herbeizusehnen, an dem es sich dieses Kleid vom Leib würde reißen können. Kurz erinnerte ich mich an das letzte Mal in meinem Leben, als ich ein Kleid getragen hatte. Es war lange her. Ich meinte zu wissen, was das Kind auf diesem Foto im Moment des Fotografiert-Werdens empfunden hatte. Ein einsamer Moment.

Die Buchrückseite dieser Ausgabe von Gender Trouble liefert spärliche Hinweise zum Foto. „Agnes und Inez Albright“ heißt es dort. Schwestern also. Aber wird das Foto dadurch ein­deutig lesbar? Wissen wir nun mehr als zuvor? Verkörpern die Schwestern in einer seltsam anmutenden repräsentationalen Treue gegenüber dem Butlerschen Text die intime Ver­quickung von Rebellion und Unterdrückung, über die Butler gleich auf der ersten Seite des Buches spricht? Sollen wir das Foto mithin als Illustration der Theorie verstehen oder gar, im Sinne Butlers, als performative Iteration von gender lesen? Spiegelt hier schlicht Performanz Perfomativität? Im Text spielt das Foto keine Rolle. Es bleibt ein ungelesener Paratext zum trouble, den gender verursachen kann, zur Kraft der Subversion, der jede Identitätsbehauptung ausgesetzt ist. Die Buch­rückseite hält indes noch eine weitere Information bereit. Erstmals verwendet worden sei das Foto auf dem Cover der 21. Ausgabe von Sinister Wisdom, dem seit 1976 bis heute verlegten Multi­cultural Lesbian Literary & Art Journal. Eine Spur, die mich weit zurück ins feministisch-lesbische Archiv und mitten hinein in mein Thema führte: Die Ausgabe 21, herausgegeben von keinen Gerin­geren als Michelle Cliff und Adrienne Rich, war der Frage gewidmet, wie lesbisches Leben über­haupt repräsentiert werden kann. Ist Identität hier die Antwort? Meiner Dissertation stand nichts mehr im Wege.

Welches war die beste Buchempfehlung, die Sie je bekommen haben?

Ich erinnere nicht mehr genau, wer mir diesen Jahrhundertroman nahegelegt hat: Uwe Johnsons Jahrestage. Vielleicht lag es auch einfach historisch in der Luft, diesen mit beiden Teilen Deutschlands verbundenen Schriftsteller in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung erneut oder auch erstmals zu lesen. Die neue Berliner Republik, wie sie vielleicht etwas voreilig getauft worden war, war auf der Suche nach sich selbst, kluge Angebote der Selbstdeutung, literarische wie soziologische oder politische, waren dagegen eher rar. Selbstaufklärung bei Johnson zu suchen schien daher alles andere als abwegig. Schon seinen ersten veröffentlichten Band, Mutmassungen über Jakob, erschienen 1959, zwei Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer, hatte Hans Magnus Enzensberger charakterisiert als den „ersten deutschen Roman nach dem Krieg, der weder der west- noch der ostdeutschen Literatur, sondern einer Literatur angehört, für die unsere Verwaltungssprache die groteske Bezeichnung ‚gesamtdeutsch‘“ bereithalte. Wie kein anderer hat Johnson es verstanden, die Tatsächlichkeit zweier deutscher Staaten zu beschreiben, ohne Deutschland nostalgisch zu verklären oder gar revanchistischen Einheitsfantasien zu verfallen.

Die Jahrestage gelten vielen als „unlesbar“, es braucht Geduld und Ausdauer, sie zu lesen. Wer diese freilich aufbringt, gewinnt einen ständigen companion und wird reich belohnt, I promise. Ich näherte mich Johnson behutsam an, gleichsam über die Hintertreppe, über sein erstes, vielleicht unkompli­ziertestes Buch Ingrid Babendererde, das erst nach dem Ende der DDR und der alten BRD erschien, aber schon das Johnsonsche Lebensthema verhandelt: egal ob ‚bleiben oder gehen‘, in jedem Fall gilt es, selbst zu entscheiden und Rechenschaft abzulegen für die Entscheidungen, die jemand trifft. In den Mutmassungen heißt es entsprechend: „Zumindest für die eigene Situation sollte man Ent­scheidungen treffen. Die Frage Warum gehst du nicht in den Westen heisst richtiger Warum bleibst du hier.“ In den Jahrestagen ist es Gesine Cresspahl, die unvergleichliche Hauptfigur dieses fast 2.000 Seiten starken Jahrhundertwerks, die sich dieser Aufgabe stellt: Zeugnis ablegen über die eigenen Entscheidungen.

So vieles an den Jahrestagen ist herausragend, dass es schwerfällt, zu entscheiden, was davon ich in diesem kleinen Rahmen hervorheben will. Zuallererst vielleicht die Tatsache, dass Johnson seinen Stoff einer besonderen Erzählerin anvertraut, jener Gesine Cresspahl, geboren und aufge­wachsen im nordwestlichen Mecklenburg, ansässig geworden in Manhattan. Ihr überträgt Johnson auch die Aufgabe, seine Poetologie vorzutragen. Gesine erzählt, um „Bescheid zu lernen, wenigstens mit Kenntnis“. „Im Bewusstsein des Tages“ will sie in der Welt sein.

Auch für die Sozialwissen­schaften könnte ich mir kein besseres Programm vorstellen. Aufmerksam sein für das, was uns umgibt, in Gegenwart der Wirklichkeit leben und schreiben. Hannah Arendt, Virginia Woolf und Simone Weil haben ihr Programm so oder in ähnlicher Weise beschrieben.[1] Johnson findet in den Jahrestagen für dieses ‚Bescheid lernen‘ eine kongeniale Form und Sprache; es gelingt ihm, im selben Satz zu erzählen und das Verhältnis zwischen den gewählten Worten und den erzählten Dingen zu reflektieren. Die Jahrestage sind freilich so vieles mehr: Erinnerungsbuch der Katastrophen des 20. Jahr­hunderts und geschichtliche Deutung dieser Katastrophen, Erinnerung an untergegangene Welten in Manhattan wie Mecklenburg und in ihrer Genauig- und Anschaulichkeit kaum zu übertreffende Beschreibungen von Landschaft und Leuten, so dass Mecklenburg wie Manhattan noch heute mit Johnsons Literatur trefflich erkundet werden kann.

Ihr literarischer guilty pleasure?

Wie so viele andere habe auch ich über viele Jahre Kriminalromane gelesen. Meine Favoriten waren die Krimis von Martha Grimes mit dem Titelhelden Richard Jury, dem ewig melancholisch gestimmten Scotland Yard-Inspektor, und seinem kongenialen Freund und Partner in Investigation, Melrose Plant. Die detailreichen Porträts englischer Land- und Ortschaften, in denen Grimes ihre Geschichten ansiedelt, die zugewandte, menschliche und niemals kitschige Art, in der sie all ihre Figuren zeichnet, die unverbrüchliche Treue, die sie ihnen erweist und ihre intelligent konstruierten Fälle machten ihre Romane für mich nicht nur zu einem guilty pleasure, sondern auch zu einem gleichermaßen intellektuell anregenden wie emotional berührenden Lese­erlebnis.

Gerade zu Letzterem trägt nicht unwesentlich die Rolle bei, die Grimes Kindern, in ihren Romanen zueignet. Es gibt nicht viele Autor:innen erwachsener Unterhaltungs­literatur, die solch starke und zugleich zerbrechliche kindliche Figuren erfunden haben. Grimes gelingt es, uns Lesenden die Welt durch die Augen dieser Kinder sehen zu lassen und die Gewalt, die sie erfahren, nahezubringen – ohne Gewalt dabei pornografisch auszubeuten oder die kindlichen Figuren zu sexualisieren. Nach rund fünfzehn Romanen der Reihe fand ich Jury und Plant allerdings auserzählt und habe gelangweilt aufgehört, sie zu lesen. Generell langweilen mich Krimis mittlerweile, vor allem weil die Tendenz, immer gewaltvollere, pornografisiertere und sexistische Gewaltverbrechen zu erzählen, mir die Lust an Kriminalliteratur (und mehr noch an TV-Krimis) ausgetrieben hat.

Welches Buch hat Sie bei der Lektüre in Rage versetzt?

Dass es das eine Buch gibt, das mich in Rage versetzt hat, glaube ich nicht. Vielleicht wähle ich sorgfältig genug aus, so dass solche Bücher gar nicht erst auf meinem Tisch landen? Scherz beiseite: Was mich mit zunehmendem Alter regelmäßig zornig macht, sind wissenschaftliche Werke, gleich ob Monografien oder Sammelbände, die weder Autorinnen kennen noch deren Arbeiten zitieren. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Autoren deutschsprachiger sozial­wissenschaftlicher Literatur – das Feld, in dem ich mich am besten auskenne – schafft es immer noch, die für das jeweilige Thema relevante Literatur von Kolleginnen zu ignorieren. Ich muss dabei oft an einen Satz der in der US-amerikanischen Soziologie großen Joan Acker denken, die mir am Ende ihrer langen Karriere im persönlichen Gespräch einmal sagte „I don’t read men anymore for they never read us.“ Mir kam das damals, als junge Postdoc, sehr radikal vor, weil ich dachte, dass das Geschlecht der Autor:innen keine Rolle dabei spielen sollte, ob ich ein Werk wahrnehme oder nicht, vielleicht aber auch, weil ich mir eine solche Haltung nicht zutraute und ich es so richtig wie wichtig fand, Bourdieu, Foucault, Ehrenberg, Bauman und Giddens zu lesen. Im Rückblick kann ich Ackers Haltung besser nachvollziehen, auch wenn ich immer noch Bourdieu, Foucault, Bauman und all die anderen lese. Nur: Male authors would be well advised to also read Knapp, Villa, Duden, Honegger, Wittig, Lorde, hooks, Lenz, El-Tayeb, Sauer, and many more. You risk having missed something otherwise.

Welches verliehene Buch hätten Sie gern zurück?

Während ich über diese Frage nachdenke, gehe ich meine Regale durch. Einige Lücken fallen mir auf, in denen ein Buch stehen sollte, das fehlt, besonders bei jenen Autor:innen, bei denen ich auf Voll­ständigkeit bedacht bin; bei manch anderen habe ich längst vergessen, dass ich sie einmal besaß, sie verliehen aber nie zurückbekommen habe. Dabei gehöre ich durchaus zu jenen, die Bücher horten, sie ungern weggeben. Literarische Werke habe ich gelegentlich sogar in mehr als einer Ausgabe, einige Erstausgaben sind darunter, die mir kostbar sind. Die Jahrestage gehören dazu. Gleich vier verschiedene Ausgaben von Johnsons Hauptwerk füllen meinen Bücherschrank. Die würde ich nie verleihen. Franz Kafkas Werk besitze ich ebenso in mehreren Ausgaben, auch er einer meiner constant companions. Andere habe ich verliehen, obwohl sie mir von Belang sind. Dazu gehört Toni Morrisons Roman Liebe, in dem die Autorin dem Titel entsprechend von der Liebe erzählt: zwischen Frauen, zwischen Frauen und Männern, besonders aber von der lebens­langen Bindung zweier Frauen, die sich lieben, sich hassen und die nicht voneinander lassen können. Wie immer erzählt Morrison über viele Jahrzehnte hinweg, aus unterschiedlichen Perspektiven, in vielen, sich auch widersprechenden Stimmen. Wirklichkeit ist ein komplexes Gewebe; linear, chronologisch, hintereinander weg kann sie nicht erzählt werden. Das hat die Nobelpreisträgerin uns auf unvergleichliche Weise mit ihrem Werk zur Kenntnis gebracht. Morrison gehört zu den Autor:innen, bei denen es mir um Vollständigkeit im Regal zu tun ist, umso erstaunlicher, dass ich das Buch verlieh und nie zurückforderte. Ich hätte es gerne zurück, aber es ist auch gut aufgehoben dort, wo es jetzt schon lange ist. Und das passt vielleicht auch zu einem Roman, der von der ambivalenten, der widerstreitenden Kraft der Liebe erzählt.

Welches Buch hat Ihnen in der Retrospektive besser gefallen als während des Lesens?

Hier fällt mir der jüngst erschienene Roman Aufprall von Karin Wieland, Bettina Munk und Heinz Bude ein. Aufprall erzählt von der Westberliner Hausbesetzer-Szene Anfang der 1980er-Jahre, einer Szene, der ich selbst zwar nicht angehörte, die aber auch in meinen ersten studentischen Jahren an der Uni Mainz durchaus stilbildend war. Dennoch habe ich mich während des Lesens gelegentlich gelangweilt, fand manches zu langatmig referiert statt lebendig erzählt und vieles zu wenig literari­siert als dass es ernsthaft als Roman gelten könnte. Doch in der Rückschau und besonders im Gespräch mit anderen ließen sich viele Momente für anregende Diskussionen und die Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen wie Dynamiken ausmachen, die nicht nur in Berlin unsere Gegenwart bis heute prägen.

Aus welchem Buch zitieren Sie am häufigsten?

Das eine Buch, aus dem ich am häufigsten zitiere, gibt es nicht, aber es gibt einen Kreis intellektueller und literarischer Gefährt:innen, deren Denken und Schreiben mich schon sehr lange begleitet und die mein Denken geprägt haben. Allen voran sind hier Arendt, Butler, Foucault zu nennen. Zu diesen drei, deren Bücher bisher in jedem meiner Arbeitszimmer in Reichweite des Schreibtisches standen, kehre ich immer wieder zurück, in ihren Texten finde ich stets eine Spur, wenn meine eigenen Gedanken sich verhakt haben und ich nicht weiterkomme. Andere mögen Hausgötter haben, ich habe Haus­philosoph:innen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Bildung / Erziehung Kultur Medien Wissenschaft

Sabine Hark

Sabine Hark ist Professor*in für Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin und leitet dort das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG). Aktuelle Publikation: Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation, Berlin 2021.

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