Patricia Oster-Stierle | Rezension |

Europaskepsis und elementare Humanität

Rezension zu „Vernichten“ von Michel Houellebecq

Michel Houellebecq:
Vernichten
übers. von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
Deutschland
Köln 2022: Dumont
624 S., 28 EUR
ISBN 978-3-8321-8193-2

Vernichten, Anéantir, der neue Roman Michel Houellebecqs ist ein Kaleidoskop von in die Zukunft projizierten Gegenwartserfahrungen. Er steht wie alle seine Texte im Zeichen Pascals. Doch im Gegensatz zu den bisherigen Romanen wird zwar das Elend der menschlichen Existenz in einer digitalisierten, fortschrittsorientierten und globalisierten Gesellschaft dargestellt, doch es geht – vielleicht gerade vor dem Hintergrund der Pandemie – um Resilienz, um die Möglichkeit des Menschen, dem Nichts etwas entgegenzusetzen. Bei Pascal ist dies die Religion, bei Houellebecq zwischenmenschliche Nähe angesichts von Schmerz, Krankheit und Tod. Im Zentrum der höchst komplexen Handlungsstränge des gegenwartsbezogenen Romans steht Paul Raison. Als Berater und Vertrauter des gebildeten und Frankreich zu Erfolg verhelfenden Wirtschaftsministers Bruno Juge – eine Anspielung auf den gegenwärtigen französischen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, ein Freund Houellebecqs, gehört der Spitzenbeamte der politischen Sphäre an. Der Roman spielt im Jahr 2027, Frankreich bereitet sich auf Neuwahlen vor, nachdem der amtierende Präsident – eine deutliche Anspielung auf Emmanuel Macron – seine zweite Amtszeit beendet hat. Die Demokratie ist an ihr Ende gelangt, der Premierminister soll zukünftig abgeschafft werden, um dem Amt des Präsidenten mehr Macht zu verleihen. Das dichte Netz von Intrigen und die mediale Inszenierung, die den Wahlkampf begleiten, werden eindringlich beleuchtet und mit bizarrer Ironie von Paul Raison kommentiert. Er ist der Sohn eines ehemaligen Geheimdienstagenten, dies ermöglicht Houellebecq den Politikroman mit einem Thriller zu verbinden. Denn Attentäter, denen der Geheimdienst auf der Spur ist, kündigen in verschlüsselten anonymen Video-Botschaften auf behördlichen und kommerziellen Webseiten Anschläge an, darunter auch die Ermordung des französischen Wirtschaftsministers. Der Vater Pauls eröffnet jedoch noch eine weitere Ebene des Romans, dessen Radius immer enger wird, indem er schließlich ganz ins Private führt. Als er Opfer eines Schlaganfalls wird, versammelt sich die Familie um ihn und findet wieder zusammen. Die tödliche Krebserkrankung Pauls eröffnet am Ende des Romans die Möglichkeit, dieser als liebendes Paar zu begegnen. In keinem seiner Romane hat Houellebecq die existentielle Verlorenheit seiner Protagonisten und ihr Bedürfnis nach Nähe und Vertrauen in vergleichbar anrührender Form ausgeleuchtet.

Der Roman setzt mit einer Reflexion über die Lesbarkeit von Zeichen im öffentlichen Raum ein. Graffiti in der Metro werden als mögliche Hinweise auf terroristische Attentate analysiert, merkwürdige geometrische Zeichen kombiniert mit einer nicht entzifferbaren Schrift drohen im Internet mit Anschlägen, die sich zum Teil auch realisieren. Houellebecq gilt als ein Seismograph, dem es scheinbar immer wieder gelingt, im wahrsten Sinne des Wortes Zeichen lesbar zu machen, ja Anzeichen für Erschütterungen in der Gesellschaft, wie das Attentat auf Charlie Hebdo oder die Gelbwestenbewegung in seinen Romanen zu antizipieren. Gelingt es ihm auch in diesem Roman? Blickt man auf die Gegenwart, in der Europa eine tiefe Zäsur erlebt, so scheint Vernichten zwar im Titel genau das zu beschreiben, was wir im Augenblick in der Ukraine erleben, aber die Fähigkeit Europas, seine Energien zu mobilisieren, wird von Houellebecq nicht vorhergesehen. Europa, das in dem 700 Seiten umfassenden Roman nur an wenigen Stellen erwähnt wird, ist keinesfalls der Zielpunkt des Romans. Doch die Europaskepsis des zweifellos reaktionären Protagonisten Paul Raison ist allgegenwärtig. Für ihn wurde mit dem Ersten Weltkrieg der endgültige Niedergang Europas besiegelt: „Paul glaubte nicht im Geringsten, dass England oder irgendeine europäische Nation gestärkt aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war. Für ihn schien im Gegenteil völlig klar zu sein, dass diese stupide Schlächterei den Ausgangspunkt der Endphase des Niedergangs von Europa bildete“ (S. 571).

„Wie alle Delegierten der Europäischen Union hatte der Mann nichts Nennenswertes zu sagen“

Die Schwäche des in die Bedeutungslosigkeit abgesunkenen Europa ist für ihn demographisch und geographisch bedingt und beeinflusst auch den Seelenzustand der wenig ernst zu nehmenden und von Amerika abhängigen Europäer. So ist er überzeugt, dass „ganz Europa zu einer entlegenen, alternden, depressiven und einigermaßen lächerlichen Provinz der Vereinigten Staaten von Amerika geworden“ sei (S. 507) Deshalb spielen die Vertreter der Europäischen Union im Weltgeschehen nur eine marginale Rolle: „Wie alle Delegierten der Europäischen Union hatte der Mann nichts Nennenswertes zu sagen“ (S. 45), konstatiert Paul bei der Begegnung mit einem Vertreter der Europäischen Kommission auf dem Flughafen von Addis Abeba. Das große europäische Engagement des noch amtierenden Präsidenten erscheint als eine Farce, hinter der der Wirtschaftsminister Bruno Juge seine protektionistische Wirtschaftspolitik verbirgt: „Bruno hatte nie gezögert, sich auf die europäischen Richtlinien zum freien Wettbewerb zu stützen, sei es bei der Vergabe öffentlicher Aufträge oder, wenn es ihm gelegen kam, bei der Verhängung von Zöllen auf Produkte, [...] er hatte sich in dieser wie in jeder anderen Beziehung als reiner Pragmatiker erwiesen und es dem Präsidenten überlassen, die Minen zu räumen, bei jeder Gelegenheit seine Verbundenheit mit Europa zu bekräftigen und die Lippen auf alle deutschen Kanzlerinnenwangen zu drücken, die ihm das Schicksal zum Küssen zugeteilt hatte.“ (S. 125) Der für seine europäische Gesinnung in ganz Europa angesehene Präsident – unschwer denkt man hier an Macron – erscheint als ein Schauspieler, dessen geschickte Inszenierung als charmanter Partner an der Seite der deutschen Kanzlerin und der Präsidentin der Europäischen Union es dem Wirtschaftsminister ermöglicht, eine protektionistische Wirtschaftspolitik zum Wohle Frankreichs zu realisieren. Da Frankreich „too big to fail“ (S. 231) sei, rechnet der Minister nicht mit Sanktionen und hat zu seiner Zufriedenheit Deutschland auf dem Automobilmarkt überholt.

Der Roman suggeriert, dass sich Frankreich 2027 an den eigenen Interessen und der Weltpolitik orientiert und sich der europäischen Partner allenfalls bedient, oder sie – insbesondere Deutschland – als Konkurrenten betrachtet, die es auszustechen gilt. An die Stelle der europäischen ist aber eine globale Perspektive getreten. Dies wird in einer Passage im Roman besonders deutlich, in der die weltweite Reaktion auf die Torpedierung eines Boots mit Flüchtlingen als Medienereignis vor Augen geführt wird. Die im Internet mit technisch perfekten Animationen angekündigten Attentate nehmen ihren Ausgang zwar von Frankreich mit der fingierten Guillotinierung des Wirtschaftsministers, auch eine dänische Samenbank wird angegriffen, doch schließlich werden Anschläge in internationalen Gewässern auf große Containerschiffe verübt. Während zunächst allen Attentaten der nicht näher bestimmten Terroristen Warnungen vorausgehen, um den Tod von Menschen zu vermeiden, sterben schließlich 500 Flüchtlinge auf einem torpedierten Schiff im Mittelmeer. Ihr qualvoller Tod wird auf Filmen minutiös dokumentiert, die im Internet kursieren.

Der eigentliche Zielpunkt des Romans ist nicht seine zynische Europaskepsis als Teil eines dystopischen Weltbildes, sondern eine elementare Humanität und die Unmittelbarkeit menschlicher Begegnungen.

Die weltweite Reaktion auf dieses Unglück wird mit großem Zynismus als mediales Ereignis dargestellt, bei dem sich einmal mehr zeigt, dass die Bedeutung Europas in den Hintergrund rückt. Der französische Präsident, der einen Flugzeugträger für die Trauerfeier auf hoher See bereitstellt, nutzt ganz offensichtlich diese mediale Öffentlichkeit für Wahlkampfzwecke: „Das Flugdeck der Jacques Chirac glänzte hell in der Sonne; die Kamera führte einen langsamen Schwenk aus, um aus gleichbleibender Entfernung die erste Reihe der Staatsoberhäupter einzufangen – er erkannte den amerikanischen Präsidenten und seinen chinesischen Amtskollegen, die nebeneinander standen; der russische Präsident befand sich etwas weiter hinten. Der französische war so platziert, dass er bei der Kamerafahrt dem Betrachter immer am nächsten war und in allen Einstellungen im Vordergrund stand; aus PR-Sicht war das in der Tat ein voller Erfolg.“ (S. 468) Es fällt auf, dass die Repräsentanten der Europäischen Union bis auf Frankreich in dem Tableau eine Leerstelle bleiben. Es erschallt allerdings die von Paul Raison kommentierte Europahymne: „Alle Menschen werden Brüder, nun ja, das entspricht der Gemütslage.“ (S. 465) „Am nächsten Tag“, so räsoniert Paul „würde der Präsident ein paar mitfühlende und humanistische vielleicht sogar poetische und bemerkenswerte Worte über den europäischen Traum, das Leid und über das Mittelmeer sprechen, über das die Südwinde die Asche von Reue und Scham trügen. Wenige Tage danach würde der zweite Wahlgang stattfinden.“ (S. 476) Die Werte und die Präsenz Europas scheinen hier als reiner Dekor für eine Selbstinszenierung. In einer längeren Reflexion tritt im Zusammenhang mit der Trauerfeier der Begriff der Würde – im Französischen „Dignité“ – in den Mittelpunkt: „Wenn Menschen, die sich nachweislich in so ziemlich allen Fragen uneinig sind, zusammenkommen, um gewisse Wörter zu feiern – und das Wort „Würde“ ist hierfür ein perfektes Beispiel, dann haben diese Wörter jede Bedeutung verloren, dachte Paul.“ (S. 468) Das Nachdenken über die Sprache, über den inflationären Gebrauch gewisser Wörter in der zur Schau gestellten Betroffenheit, führt ins Herz dieses Romans, dessen eigentlicher Zielpunkt überraschenderweise aber nicht seine zynische Europaskepsis als Teil eines dystopischen Weltbildes ist, sondern eine elementare Humanität und die Unmittelbarkeit menschlicher Begegnungen. Und insofern hat Houellebecq vielleicht doch im Kern getroffen, was Europa im Angesicht von Zerstörung und Vernichtung gegenwärtig auch zu erleben scheint.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Europa Kunst / Ästhetik

Patricia Oster-Stierle

Patricia Oster-Stierle ist Professorin für französische Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Frankreich und seine Kultur stehen im Zentrum ihres wissenschaftlichen Interesses und ihres persönlichen Engagements. Sie war Präsidentin der Deutsch-Französischen Hochschule und ist Mitglied der Académie de Berlin.

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