Simon Schaupp | Nachruf |

Expansion, Emanzipation, Nachhaltigkeit

Ein Nachruf auf Georg Jochum

„Der Hauptwiderspruch unserer Zeit besteht nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen Natur und Kultur.“ Das war ein Satz, den Georg Jochum immer wieder in Diskussionen einbrachte; eine der Leitplanken seines Denkens. Jochum arbeitete als Wissenschaftssoziologe an der TU München und widmete sich zuletzt vor allem den gesellschaftlichen Naturverhältnissen. So war er Sprecher der Arbeitsgruppe „Nachhaltige Arbeit“ im „Deutschen Komitee für Nachhaltigkeitsforschung“; innerhalb des Zentrums Emanzipatorische Technikforschung (ZET) – in dessen Namen der Nachruf verfasst ist – zeichnete er für das Ressort „Nachhaltigkeit und Ökologie“ verantwortlich.

Abbildung Georg Jochum
Georg Jochum (Quelle: Zentrum für
Emanzipatorische Technikforschung)

2017 erschien Jochums „monumentale“[1] Dissertation „Plus Ultra“ oder die Erfindung der Moderne. Zur neuzeitlichen Entgrenzung der okzidentalen Welt. Die Schrift ist nichts weniger als eine Genealogie der okzidentalen Kultur. Jochum fasst die okzidentale Kultur über den Begriff der „Entgrenzung“, die er mit der Devise „Plus Ultra“ – „noch weiter“ – Kaiser Karls V. illustriert. Mit dessen kolonialer Expansion begann nach Jochums Rekonstruktion die Entgrenzung des alten abendländischen Westens. So entstand ein neuzeitlicher „Mythos des Westens“, von dem die eurozentristische Zusammenführung der globalen Welt in der Moderne ausging. Mit Kolumbus wird Jochum zufolge der Begrenzungsmythos der „Säulen des Herkules“ überwunden und durch einen Expansionsmythos ersetzt, der bis heute das zentrale Charakteristikum der Moderne sei.

Die ausgemachte Entgrenzung sei keine rein geografische, sondern werde durch Francis Bacons zweites – diesmal geistiges – „Plus Ultra“ komplementiert, nach dem nunmehr die empirische Wissenschaft die Welt buchstäblich durchdringen solle. Damit sei die okzidentale Rationalität untrennbar mit der Fähigkeit naturwissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung verbunden und die angebliche Überlegenheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes stelle fortan die legitimatorische Grundlage für den globalen Führungsanspruch ‚des Westens‘ dar.

Die Expansionsmaxime ist für Jochum eine der zentralen Ursachen für die sich zuspitzende sozialökologische Krise. In einem späteren Artikel interpretiert er die Corona-Pandemie und andere neuere Epidemien als nichtintendierte Nebenfolgen des expansiven Vordringens der technisch-kapitalistischen Zivilisation in Naturräume.[2] Die moderne Expansionsgesellschaft weise ein koloniales Naturverhältnis auf, das dem Anspruch der Nachhaltigkeit fundamental entgegenstehe.

Es wäre allerdings ein Missverständnis, Georg Jochums Haltung als antimodern zu bezeichnen. Während er stets für eine Politik der Selbstbegrenzung plädierte, schloss er eine Rückkehr zu vormodernen Zuständen kategorisch aus. Sein Schlüsselbegriff hierfür ist die Kategorie der „Emanzipation“. Verstanden als Überwindung von Abhängigkeiten und Herrschaftsverhältnissen baue auch sie auf der Maxime „Plus Ultra“, im Sinne einer aufklärerischen Überwindung alter Grenzen, auf. So ist das Projekt der Emanzipation, wie es in der Aufklärung formuliert wurde, oft partikular und geht mit der Etablierung neuer Herrschaftsformen einher. Insbesondere verweist Jochum auf die Naturbeherrschung durch technische Entwicklung, die den Menschen von den Zwängen der Natur befreite.

Allerdings offenbare die ökologische Krise die Schattenseiten jener Naturbeherrschung. Deshalb sei es notwendig, die Idee einer reflexiven Emanzipation zu verfolgen, die auch die Natur mit einbeziehe.[3] Im Kontext des ZET vertrat Jochum deshalb den Standpunkt, dass emanzipatorische Technikforschung eine emanzipatorische Technikpolitik unterstützen müsse, verstanden als eine positive dialektische Bewegung, die den Gegensatz zwischen Unterwerfung unter die Natur und technischer Naturbeherrschung überwindet.

Dass man auch Technik selbst im Sinne einer solchen positiven Dialektik nutzen kann, konzeptualisierte Jochum im Begriff der „Steuerungswende“.[4] Aufbauend auf seiner umfassenden Forschung zur Digitalisierung argumentierte er, dass im Zentrum des aktuellen technologischen Wandels die Entwicklung von kybernetischen Technologien der Steuerung stehe. Die neuen „Steuerungskräfte“ – etwa prädiktive Modelle auf Grundlage von Big-Data-Analysen – gerieten zunehmend in Widerspruch zu den „Steuerungsverhältnissen“, nämlich den Märkten. Denn die neoliberale Vorstellung, die Regulierung des vermeintlich freien Marktes sei durch keinerlei Planung ‚getrübt‘, erweist sich spätestens seit der digitalen Steuerung von Lieferketten, Arbeitsmärkten, Arbeitsprozessen und sogar Preisen als Fiktion.

Allerdings, so Jochum weiter, entstehe hierdurch weder eine neue zentrale Planungsinstanz noch führe der offensichtliche Widerspruch automatisch zur Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Er liefere aber durchaus die objektiven Voraussetzungen für neue Formen der bedürfnisorientierten und demokratischen Wirtschaftsplanung. Mittels digitaler Modellierung könne man die Produktion vom Steuerungsmedium Geld entkoppeln und sie stattdessen an menschlichen Bedürfnissen und ökologischer Nachhaltigkeit orientieren, sodass der Kapitalismus von seinem inhärenten Expansionszwang befreit würde.

Neben „Expansion“ und „Emanzipation“ war „Nachhaltigkeit“ ein Schlüsselbegriff in Georg Jochums Denken. Dabei gehörte er weder zu jenen, die sich – von der sozialökologischen Krise vermeintlich unberührt – auf die Rolle des reinen Beobachters von sogenannten Nachhaltigkeitsdiskursen zurückziehen, noch zu denjenigen, die den Begriff unkritisch zum Bezugspunkt einer normativ ausgerichteten Transformationsforschung machen. Stattdessen beleuchtete er sowohl die soziale Distinktionsfunktion nachhaltiger Lebensführung[5] als auch das Potenzial des Konzepts. Letzteres sah er vor allem darin, einen allgemein anerkannten Begriff auf radikale Weise gegen die Grundprinzipien der Expansionsgesellschaft in Stellung bringen zu können.

Dabei richtete sich sein Augenmerk vor allem auf die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer „nachhaltigen Arbeit“.[6] Gemeinsam mit seinen Kolleg:innen der gleichnamigen Arbeitsgruppe entwickelte er eine umfassende Forschungsagenda zur sozialökologischen Transformation der Arbeitsgesellschaft. Die Veränderung der Erwerbsarbeitssphäre, das Verhältnis von bezahlten und unbezahlten Arbeiten, die globalen Zusammenhänge der Arbeitsgesellschaften, die Bedeutung der Digitalisierung für nachhaltige Arbeit und die Governance von Arbeit – Georg Jochum erschloss und beackerte zahlreiche (arbeitssoziologische) Forschungsfelder. Darüber hinaus hat er viele bedeutende Beiträge zur Umweltsoziologie, Globalisierungstheorie sowie Wissenschafts- und Techniksoziologie geleistet, deren Rezeption teilweise noch aussteht.

Am 30. Januar 2022 ist Georg Jochum im Alter von 54 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung zuhause verstorben. Seine Gedanken waren wichtige Inspirationen für viele von uns im ZET und andernorts. Jenseits seiner inhaltlichen Beiträge war Georg Jochum auch ein besonderer Mensch. Trotz jahrzehntelanger prekärer Beschäftigung im Wissenschaftsbetrieb gab es kaum jemanden, der sich weniger von dessen problematischen Dynamiken anstecken ließ als er. Sein Denken und Handeln waren nie von wissenschaftlichen Moden geleitet, von Hierarchien geprägt oder an Karriereerfordernisse angepasst. Teilweise wirkte es sogar so, als seien ihm diese Kategorien gänzlich fremd. Stattdessen haben wir ihn als absolut integren und solidarischen Menschen kennengelernt, der nie davor zurückschreckte, inhaltliche Differenzen aufzuzeigen und konstruktiv zu bearbeiten. Georg Jochum hinterlässt eine Lücke als Wissenschaftler, Kollege und Freund. Seine originelle Denkweise und beeindruckende Persönlichkeit werden uns fehlen und in Erinnerung bleiben.

  1. Wolfgang Reinhard, Rezension über: Georg Jochum, "Plus Ultra" oder Die Erfindung Der Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), 2, S. 318–320, hier S. 318.
  2. Georg Jochum, Am Ende der Expansionsgesellschaft? Die Coronakrise als Menetekel für Grenzen der kolonialen Landnahme des Netzes des Lebens, in: Soziologie und Nachhaltigkeit (2020), S. 21–34; doi:10.17879/sun-2020-2938.
  3. Georg Jochum, Dialectics of Technical Emancipation. Considerations on a Reflexive, Sustainable Technology Development, in: NanoEthics 15 (2021), 1, S. 29–41; doi:10.1007/s11569-021-00387-7.
  4. Georg Jochum / Simon Schaupp, Die Steuerungswende. Zur Möglichkeit einer nachhaltigen und demokratischen Wirtschaftsplanung im digitalen Zeitalter, in: Florian Butollo / Sabine Nuss (Hg.), Marx und die Roboter. Vernetzte Produktion, Künstliche Intelligenz und lebendige Arbeit, Berlin 2019, S. 327–344.
  5. Georg Jochum, Auf dem Weg zur nachhaltigen Lebensführung? Zur Transformation des Naturverhältnisses des Subjekts, in: Georg Jochum / Karin Jurczyk / G. Günter Voß / Margit Weihrich (Hg.), Transformationen alltäglicher Lebensführung. Konzeptionelle und zeitdiagnostische Fragen, Weinheim 2020, S. 348–370.
  6. Georg Jochum et al., Nachhaltige Arbeit, in: Arbeit 29 (2020), 3–4, S. 219–233; doi:10.1515/arbeit-2020-0016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Arbeit / Industrie Digitalisierung Kapitalismus / Postkapitalismus Ökologie / Nachhaltigkeit Technik Wirtschaft

Simon Schaupp

Simon Schaupp ist Oberassistent am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse der Universität Basel. Er forscht zu Arbeit, Digitalisierung und ökologischer Krise. Zuvor war er Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft des KIT.

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