Jennifer Stevens | Rezension | 03.12.2021
Facetten des Untergangs
Rezension zu „Apokalyptische Zeiten. Endzeit- und Katastrophenwissen gesellschaftlicher Zukünfte“ von Gregor J. Betz und Saša Bosančić (Hg.)

Corona-Pandemie, Flutkatastrophen, Waldbrände – die Apokalyptischen Zeiten scheinen endgültig angebrochen zu sein. Der von Gregor Betz und Saša Bosančić herausgegebene gleichnamige Sammelband geht auf den Jenaer Regionalkongress 2019 zurück und zeigt damit, dass sich die Soziologie schon vor der aktuellen Welle an Krisen und (Natur-)Katastrophen für Endzeitvorstellungen interessierte. Die Pandemie heizte die soziologische Beschäftigung mit Apokalypse(n) umso mehr an; so sind auch einige der Beiträge im vorliegenden Band erst nach dem Ausbruch des Corona-Virus entstanden. Die Aufsätze, die sich unter anderem mit der Prepper-Szene, dem Mythos vom Großen Austausch, anarchistischen, ökologischen und globalisierungskritischen Narrativen oder der Resonanztheorie auseinandersetzen, fragen allesamt nach der Aktualität von Endzeit- und Katastrophenwissen und untersuchen es auf seine spezifischen Bedingungen und Akteurinnen, seine Konstruktionsprinzipien und Wirkungsweisen (S. 17).
Nach einer kurzen Einleitung, in der die Herausgeber die politische Bandbreite von Endzeitnarrativen umreißen, den Apokalyptikbegriff systematisieren sowie in die Fragestellungen und Inhalte des Buches einführen, stellt der erste Beitrag eine Weltsicht vor, „bei der eine endzeitliche Naherwartung den Lebensstil der Anhänger umfassend und nachhaltig prägt“ (S. 27). Der Soziologe und Apokalyptikforscher Alexander-Kenneth Nagel untersucht die bisher wenig erforschte deutsche Prepper-Szene. Wissenssoziologisch und ideologieanalytisch nimmt er ihre apokalyptischen Bilder, Stile und Rhetoriken genauer in den Blick und konzeptualisiert Prepper als „Idealtypen spätmoderner ApokalyptikerInnen“ (S. 17). Viel inspirierender sind allerdings die kultursoziologischen Überlegungen, in denen Nagel en passant Parallelen zwischen Preppertum und Pietismus zieht: „Was dem Calvinisten die Heilsungewissheit, ist dem Prepper die Ungewissheit über das Wie und Wann der Katastrophe. Beide antworten darauf mit rastloser Tätigkeit und Akkumulation.“ (S. 39) Letztlich ergebe sich „das Bild einer neoliberalen Tiefengrammatik des Preppertums, in der sich Leitbilder von Eigenverantwortung und Autonomie mit sozialdarwinistischen Auffassungen verbinden“ (S. 41 f.) – eine These, deren Diskussion den Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen und Untergangsfantasien womöglich weiter aufklären könnte.
Leo Roeperts Aufsatz expliziert das Verhältnis von Antisemitismus, Rassismus und Untergangsvorstellungen, das die gegenwärtige soziologische Apokalyptikforschung bislang zu wenig ausgeleuchtet hat. In seinem Artikel klärt er über den strukturell bis offen rassistischen und antisemitischen Untergangsmythos auf, der rechtspopulistische und -extremistische Welt- und Geschichtsbilder grundlegend prägt. Im Zentrum seiner Analyse steht die auf Renaud Camus zurückgehende Erzählung vom ‚Großen Austausch‘, die sich aus dem antisemitischen Phantasma einer Elitenverschwörung speist und die ein rassistisches Deutungsangebot in gesellschaftlichen Krisen darstellt (S. 57). Roepert gibt damit den wertvollen Anstoß, die reaktionären Tendenzen von Untergangsfantasien und ihre antisemitische sowie rassistische Prägung weiter zu verfolgen und ihre historische Kontinuität ideologiekritisch zu untersuchen.
Manfred Prischings essayistisch zugespitzte Momentaufnahme macht auf den Facettenreichtum apokalyptischer Narrative in der Corona-Krise aufmerksam. Seine Collage, bestehend aus Theorie-, Kollaps-, Kriegs-, Paradies- und darwinistischen Erzählungen, soll deutlich machen, dass der Begriff der „Apokalypse“, mit dem der globale Schrecken der Pandemie derzeit vielfach beschrieben wird, die gegenwärtige Situation nicht adäquat erfasst. Denn Prisching zufolge erleben wir lediglich „ein schaumgebremstes spätmodernes Apokalypse-Gefühl: Da war nur eine Schrecksekunde, aber nicht ein abgrundtiefes Erschrecken vor dem Drohenden.“ (S. 85). Mit positivem Bezug auf Spengler polemisiert Prisching gegen ein „spätmoderne[s] Normalbewusstsein“ (ebd.), das lediglich Unbequemlichkeiten, nicht aber „existentielle Tiefe“ (S. 86) meint, wenn es von der Apokalypse spricht.
Jonathan Eibisch bezweifelt die weit verbreitete Assoziation von Anarchismus und Apokalypse und fragt, inwieweit unterschiedliche anarchistische Konzepte der sozialen Revolution Anknüpfungspunkte für apokalyptische Narrative bieten. Er schlägt eine „politisch-theoretische, immanente Betrachtung“ (S. 93) folgender vier anarchistischer Geschichtsvorstellungen vor: die materialistisch-dialektische Befreiung nach Bakunin, die (r)evolutionäre Entwicklung nach Kropotkin, der mythologisierte eschatologische Bruch nach Sorel und zuletzt die prozesshafte strukturelle Erneuerung ausgehend von Landauer. Lediglich für Sorels Verständnis von Geschichte als mythologisiertem Klassenkampf existiert Eibisch zufolge auch eine apokalyptische Deutung, die in der anarchistischen Szene allerdings unterrepräsentiert ist (S. 101).
Im Anschluss an Martin Buber kommt Eibisch zu dem Schluss, „dass anarchistische Narrationen fast ausschließlich als nicht-apokalyptisch, sondern beispielsweise als prophetisch zu bezeichnen sind“ (S. 106). Weiter kontrastiert er Bubers prophetische mit der seiner Auffassung nach apokalyptischen Eschatologie des marxistischen Geschichtsverständnisses. Während beim anarchistischen Prophetismus Bubers die Menschen ihre Handlungsentscheidungen selbst träfen und Utopien parallel zur bestehenden Gesellschaft konkretisiert werden könnten, gehe die Marx’sche Einsicht in die historische Notwendigkeit mit einem apokalyptischen Determinismus einher, weshalb die Verwirklichung einer Utopie erst nach dem revolutionären Untergang der bestehenden Gesellschaft möglich sei (S. 93 f.). Meines Erachtens ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass das in der Forschung gängige Urteil über Marx als Apokalyptiker einer genauen Prüfung standhielte.[1]
Christian Hilgert und Björn Wendt wenden sich in ihren jeweiligen Beiträgen der gegenwärtig wohl präsentesten Apokalyptik, nämlich der ökologischen, zu. Dabei widmen sie sich vor allem ihrer politischen Funktion und Auslegung. Hilgert referiert zur politischen Resonanz ökologischer Apokalyptik eine historische und diskursive Studie, deren Untersuchungszeitraum von 1968 bis zum gegenwärtigen Klimaaktivismus reicht. Die These, die er dabei verfolgt, erinnert an Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Ausführungen zum Neuen Geist des Kapitalismus/: Auch die ökologische Apokalyptik führe tendenziell zu einer Entschärfung politischer Polarisierungen. Linke (Ausgebeutete/Ausbeutende, Unterdrückte/Unterdrückende) wie rechte Gegensätze (Volk/Migration) gerieten aufgrund der nun vorherrschenden Leitunterscheidung Mensch/Umwelt ins Hintertreffen: „statt der ‚Ausbeutung‘ von Menschen durch andere Menschen stand die ‚Ausbeutung‘ der Natur durch alle Menschen nun im Vordergrund“ (S. 120). Nicht zuletzt wegen dieser effektiven politischen Konfliktverdrängung seien ökologisch geprägte Apokalyptiken besonders attraktiv.
Wendt hingegen entdeckt, ausgehend von Ulrich Beck, den Ursprung der angstevozierenden und emotional aufgeladenen Dystopien des Klimadiskurses im Nichtwissen der Klimaforschung. Klimaaktivisten wie Klimaskeptikerinnen nutzten das apokalyptische Potenzial, allerdings in gegensätzlicher Hinsicht: Auf der einen Seite werde der vollständige Klimakollaps, auf der anderen Seite eine totalitäre ‚sozialistische Ökodiktatur‘ prophezeit. Wendt stellt der (Wissens-)Soziologie die Gretchenfrage, ob sie weiterhin „stille Beobachterin“ oder „eine kritisch-normative oder sogar transformierende Forschungsdisziplin“ (S. 155) sein wolle, und stößt damit hoffentlich eine kritische Selbstreflexion der soziologischen Apokalyptikforschung an.
Während Christine Unrau verschiedene Ausprägungen der Globalisierungskritik auf ihren apokalyptischen Gehalt untersucht, ohne sie dadurch abwerten zu wollen, betreibt Detlef Pollack genau dies in besonders polemischem Tonfall: Er ist darum bemüht, Hartmut Rosas „romantizistische[n] Denkgestus“ (S. 182) (das für Pollack größte Manko kritischer Gesellschaftstheorie) als apokalyptisch und vormodern zu denunzieren. Im Zug dessen bemängelt er die unzureichende Differenzierung und die falsche Relation,
„wenn Rosa den vom Kapitalismus ausgehenden ökonomischen und politischen Druck auf die alltäglichen Lebensverhältnisse für totalitärer hält als den Druck, den die staatssozialistischen Regime ausgeübt haben, oder wenn er erklärt, die spätmodernen Weltbeziehungen ähnelten den Weltbeziehungen im Nationalsozialismus“ (S. 183).
Pollacks über die marxistische und Kritische Theorie gefällten Urteile sind allerdings ähnlich pauschalisierend (S. 182). Er begreift jegliche soziologische Rede von Entfremdungserscheinungen als einen Übertritt wissenschaftlicher Kommunikationsgrenzen, weshalb er die soziologische Theorie mit seinem modernisierungstheoretischen und antikatastrophistischen Gegenentwurf wieder in ihre Schranken weisen will. Dies scheint mir gar zu einseitig, denn eine solche Darstellung ignoriert die widersprüchliche Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, indem sie die reflexiven Selbstkorrektur- und Begrenzungsstrategien der Moderne geradezu fortschrittsoptimistisch hervorhebt (S. 184 f.).
In der Gesamtschau überzeugt der Band, indem er die facettenreiche Debatte um Endzeit- und Katastrophenwissen umfangreich erschließt, und lädt zur weiteren soziologischen Auseinandersetzung mit den Apokalyptischen Zeiten ein. Gleichzeitig birgt der Versuch, die ganze Bandbreite der Diskussionen um und zu Apokalyptiken editorisch abzubilden, auch dramaturgische, thematische und begriffliche Schwierigkeiten, die der Sammelband nicht immer ohne Weiteres zu lösen vermag. So verwenden Autorinnen wie Herausgeber die Begriffe „Apokalypse“, „Katastrophe“ und „Dystopie“ durchgängig synonym. Solche Unschärfen hätte man durch eine ausführliche begriffsanalytische Beschäftigung und eine stärkere thematische Eingrenzung vermeiden können. Was bleibt, ist der Eindruck, dass wir es mit einem weiten Feld zu tun haben. Um den Zusammenhang, oder besser: die mannigfaltigen Verflechtungen von gesellschaftlichen Verhältnissen, Katastrophen und Untergangsvorstellungen besser zu verstehen, müssen wir diesen Acker dringend anständig vermessen. Gregor J. Betz und Saša Bosančić sowie die Autor:innen ihres Bandes haben dazu die ersten Schritte unternommen.
Fußnoten
- Hierzu kritisch Lothar Peter, Marx – ein Apokalyptiker der Moderne?, in: Alexander K. Nagel / Bernd U. Schipper / Ansgar Weymann (Hg.), Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik Frankfurt am Main / New York 2008, S. 125–149.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Ökologie / Nachhaltigkeit Rassismus / Diskriminierung Zeit / Zukunft
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