Lea Liese | Rezension | 04.10.2021
Fact Checking allein reicht nicht
Rezension zu „Fake News und Desinformation. Herausforderungen für die vernetzte Gesellschaft und die empirische Forschung“ von Ralf Hohlfeld, Michael Harnischmacher, Elfi Heinke, Lea Lehner und Michael Sengl (Hg.)
Die Rede von Fake News hat spätestens seit dem Brexit-Referendum in Großbritannien und dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 Hochkonjunktur. Mittlerweile ist der populäre Begriff zum Reizwort akademischer Kontroversen geworden. Seine Problematik liegt in der doppelten Verwendung begründet: Mit dem Label Fake News sind nämlich auf der einen Seite die damit assoziierten kommunikativen und medialen Phänomene selbst gemeint, das heißt der strategische Einsatz bewusster Falschaussagen sowie das Leugnen von Fakten (etwa des Klimawandels oder jüngst der SARS-CoV-2-Pandemie). Auf der anderen Seite steht der Begriff – zum Beispiel wenn er instrumentalisiert wird, um den politischen Gegner öffentlich zu diskreditieren – für einen grundlegenden Wandel in der gesellschaftlichen Debattenkultur. Denn die oft unter dem Schlagwort des Postfaktischen subsummierten Kommunikationsmodi fallen nicht nur bei punktuellen Krisenereignissen auf fruchtbaren Boden, sondern sind zum permanenten Hintergrundrauschen demokratischer Sozialsysteme und deren Selbstbeobachtung geworden. Fake-News-Etikettierungen gehören inzwischen zur Normalität politischer und journalistischer Kommunikation und tragen entsprechend viel zum oft konstatierten Vertrauensverlust in demokratische Institutionen bei. Daher sind Kriterien für die Identifizierung von Fake News und Desinformationen – und Möglichkeiten der Sanktionierung – in einer multipolaren, dialogischen Öffentlichkeit entscheidend für den Fortbestand demokratischer Kommunikationsgemeinschaften. Die epistemologischen und sozialen Implikationen von Fake News und Desinformation sind also Teil der Herausforderungen, mit denen sich sowohl die global und digital vernetzte pluralistische Gesellschaft als auch die empirische Forschung, darunter nicht nur die Kommunikationswissenschaften, konfrontiert sehen.
Ambivalenz und Ambiguität des Gegenstands
Das Bemerkenswerte des vorliegenden Sammelbandes, der sich mit ebenjenen Herausforderungen für die vernetzte Gesellschaft und die empirische Forschung beschäftigt, ist, dass die interdisziplinären Beiträge Fake News und Desinformation sektionsübergreifend und selbstreferenziell immer wieder zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen. Die Autor*innen tragen der Mehrdeutigkeit des Gegenstands Rechnung, indem sie die beiden Begriffe durchweg in Anführungszeichen gebrauchen. Dass der Band die durchaus kontroversen begrifflichen Differenzierungen nicht aufzulösen versucht und auch die Grenzen der essayistischen und empirischen Annäherungen an das Phänomen – oder besser: System – Fake News kenntlich macht, beeinträchtigen die Lektüre nicht. Im Gegenteil: Unterschiede, Widersprüche und Grenzen in den Betrachtungsweisen zeugen vielmehr von einer Konsequenz, die im Umgang mit dem Thema häufiger zu wünschen wäre, nämlich die eigene Disziplin kritisch in die Pflicht zu nehmen.
Anstatt bei der diskursiven Verhandlung des Themas stehen zu bleiben, zeigt der Sammelband Lösungsansätze auf, indem er Einblicke in medienpädagogische und -praktische Maßnahmen gibt und diese evaluiert. Anlass für die Konzeption des Bandes gaben diverse empirische Projekte am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft der Universität Passau, in denen es um Wahrnehmung von Fake News sowie um Beurteilung der Glaubwürdigkeit von digitalen Quellen ging. Der Band verbindet also die beiden titelgebenden Komponenten – Herausforderung zum einen für die vernetzte Gesellschaft, zum anderen für die empirische Forschung – konkret miteinander.
Der große und teils unübersichtliche Komplex um Fake News und Desinformation kann auch Phänomene wie bullshit, Propaganda oder Verschwörungstheorien implizieren – muss es aber nicht. Damit das breite Spektrum inhaltlich wie formal darstell- und nachvollziehbar bleibt, unterteilt der Sammelband seine Beiträge in fünf Themenschwerpunkte: Phänomenologie und Geschichte von „Fake News“ und Desinformation (1), Anwendungsfälle und Einsatzgebiete von „Fake News“ (2), „Fake News“ erkennen – Glaubwürdigkeit einschätzen (3), Verbreitung, Folgen und Wirkung von „Fake News“ und Desinformation (4) und Maßnahmen zur Korrektur und Eindämmung von Falschnachrichten (5).
Die Macht der Bezeichnung
Die programmatische, das heißt alle Beiträge miteinander verbindende, Hauptlinie des Bandes besteht darin, dass er das demokratiegefährdende Potenzial von Fake News und Co. beziehungsweise des inflationären Labeling als solches klar benennt. Dementsprechend versucht keiner der Aufsätze, die rezenten Verschiebungen zu relativieren, indem er etwa Parallelen zu älteren medienhistorischen Phänomenen wie der Zeitungsente oder dem Grubenhund zieht. Insbesondere die erste Sektion, die ganz im Zeichen der bereits erwähnten phänomenologischen und terminologischen Herausforderungen steht, und die letzte Sektion, die Maßnahmen zur Korrektur und Eindämmung von Falschnachrichten reflektiert, machen die skizzierte Stoßrichtung deutlich.
Mit der Forschung am Fake News-Phänomen lässt sich eben nicht (bloß) allgemein beschreiben, dass Digitalisierung und Globalisierung Wissen pluralisieren, dass die Sensibilität für den Konstruktionscharakter von tradierten Wissensbeständen und deren medialen Repräsentationsformen zunimmt und dass Fakten unter permanenten Zeit- und Rechtfertigungsdruck geraten. Letzteres kann den Eindruck einer – zumindest temporären – Ununterscheidbarkeit von Wissen und Nichtwissen hervorrufen. Umso entscheidender ist es, zu betonen, dass nicht der fehlende Wahrheitsgehalt die neue Dimension von Fake News und Desinformation markiert, ebenso wenig wie erfolgreiche Kommunikation auf dem Wahrheitsgehalt der Aussagen gründet. Vielmehr führt das ideologisch aufgeladene, demokratie- und institutionenfeindliche Framing von politisch unliebsamen Fakten und Debatten als Fake News zur viel beschworenen Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge, was wiederum bei einem Großteil der Bevölkerung für Politikverdrossenheit sorgt. Der Band hebt somit sektions- und themenübergreifend zu Recht darauf ab, dass sich zwar einzelne Falschaussagen berichtigen lassen, dass solche punktuellen Faktenchecks aber bei weitem nicht genügen. Denn das durch das System Fake News verlorengegangene Vertrauen in Politik und Medien lässt sich dadurch längst nicht mehr wiederherstellen.
Wem und was kann man (noch) glauben?
Die zweite Sektion, die sich mit konkreten Anwendungsfällen und Einsatzgebieten von Fake News beschäftigt, greift den oftmals totalitären Charakter von Desinformation vertiefend auf. Unter anderem am Beispiel des syrischen Bürgerkrieges und des Ukrainekonflikts unterscheiden die hier versammelten Aufsätze zwischen Propaganda und Metapropaganda. Der Erfolg von Metapropaganda beruhe nämlich gerade auf ihrer unterschwelligen, aber ubiquitären Wirkung jenseits von simplen ‚Wahr / Falsch‘-Binärismen. Digitale Elemente, vor allem Social Media, nehmen eine entscheidende Rolle bei der Beeinflussung der Bevölkerung ein, wie der syrische Bürgerkrieg in besonderem Maße demonstriert.
In der Kriegsberichterstattung streuten offizielle, also regierungsnahe Stellen, aber auch oppositionelle Vertreter*innen und Bürgerjournalist*innen Falschmeldungen. Westliche Medien wiederum ergriffen vornehmlich für die Oppositionellen Partei und verbreiteten das Material aus deren Social-Media-Kanälen teilweise ungeprüft – die dortigen Falschmeldungen passten jedoch in das Gesamtbild, das den politischen Tatsachenwahrheiten durchaus entsprach. Der Beitrag von Lea Sophia Lehner über den dispersen Einsatz von Desinformation und Propaganda in Sozialen Medien während des syrischen Bürgerkrieges sticht nicht nur aufgrund seiner eindrücklichen Quellenrekonstruktion heraus, er konkretisiert auch einen neuralgischen Punkt in der Fake News-Debatte: die Glaubwürdigkeit.
Dass der gesamte Band immer wieder um diesen Punkt kreist, zeigt vor allem die dritte Sektion. Die darin vorgestellten quantitativen Studien untersuchen die Problemsensibilität und Problemlösungskompetenz beim Einschätzen von Glaubwürdigkeit seitens der Rezipient*innen (wobei selbst die Digital Natives nicht gut abschneiden). Aber auch die Beiträge der vierten Sektion, die sich mit der Verbreitung und Wirkung von insbesondere rechtspopulistischen Fake News beschäftigen, greifen den Aspekt der Glaubwürdigkeit verstärkt auf, widmen sich dabei aber explizit dem deutschsprachigen Nachrichtenraum: Wie verbreiten vor allem rechte Bewegungen und Parteien in Deutschland Falschmeldungen im Netz? Bekanntlich bezeichnen gerade sie die großen Tageszeitungen und Leitmedien systematisch als „Lügenpresse“.
Innovativ ist an dieser Stelle der Beitrag von Nora Denner und Christina Peter, in dem die Autorinnen die Positionierungen und Thematisierungen deutscher Tageszeitungen in Bezug auf den Begriff „Lügenpresse“ analysieren. Ihre Auseinandersetzung macht deutlich, wie unkritisch die klassischen Massenmedien auf den Begriff, wie auch auf den damit ausgesprochenen Vorwurf, reagierten. Damit, so Denner und Peter, hatten und haben sie einen nicht unerheblichen Anteil an seiner Weiterverbreitung und Normalisierung, was das Vertrauen in die Presse weiter erodieren lässt.
Engagement für einen kritischen Umgang mit Medien und Informationen
Medienwissen, Medienbewertung und Medienhandeln, so scheint es, sind Schlüsselkompetenzen, um Fake News und Desinformation identifizieren und abwehren zu können, wenngleich sie sich auch damit nie ganz eliminieren lassen. Der Sammelband nimmt die Trias aus Politik, Wissenschaft und Journalismus in die Pflicht, in die politische Bildung und Nachrichtenkompetenz ihrer Rezipient*innen zu investieren. Alle drei Bereiche müssen außerdem permanente Selbstkritik üben. Denn insbesondere die quantitativen Studien haben gezeigt, dass die Rezipient*innen die Glaubwürdigkeit der Informationen, Portale und Organe (noch) nicht hinreichend bewerten können.
Ob moderne Demokratien stabil und in der Bevölkerung verankert bleiben, hängt jedoch maßbeglich von einer fundiert informierten Öffentlichkeit ab – dies kann heute niemand mehr bestreiten. Der vorliegende Band stellt vehement und eindrücklich unter Beweis, dass eine solche Informiertheit auf der Fähigkeit zur kritischen Nutzung von journalistischen Inhalten basiert. Und weil ein reflektierter Medienkonsum und die dabei gewonnenen Einsichten wiederum die Grundlage für die Teilnahme am demokratischen Prozess bilden, können – so das Resümee – Demokratien dauerhaft nur funktionieren, wenn die Bürger*innen in der Lage sind, mit Fake News und Desinformation eigenständig umzugehen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Bildung / Erziehung Demokratie Kommunikation Medien Politik
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