Isabel Klein | Rezension | 21.04.2016
Feminismus, Kapitalismus, Kritik
Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Susanne Völker (re-)definieren den sozialwissenschaftlichen Kanon feministischer Kapitalismuskritik

Pünktlich zum Weltfrauentag stand auch 2016 der Feminismus als solcher in der Kritik, die dieses Mal von der Zeit-Online-Journalistin Meike Lobo formuliert wurde.[1] Lobo monierte unter anderem, der Feminismus sei destruktiv, schotte sich ab und sei inhaltlich entweder von vorgestern oder politisch überkorrekt. Für all jene, die sich mit feministischer Gesellschaftskritik gerne differenzierter auseinandersetzen möchten, hat der Verlag Westfälisches Dampfboot jetzt ein Buch mit dem Titel Feministische Kapitalismuskritik in der Reihe „Einstiege“ vorgelegt.
Dieser von Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Susanne Völker veröffentlichte Band ist bemerkenswert. Und zwar deshalb, weil sich die Soziologinnen nicht damit zufriedengeben, den Kanon der feministischen Kritik vorzustellen, sondern eine forschungsnahe, theoretisch informierte und epistemologisch komplexe Darstellung der bedeutendsten zeitgenössischen Ansätze zu Sozialkritik und -forschung erarbeitet haben. Die Autorinnen beschränken sich in ihrem Buch nicht auf eine arbeitssoziologische oder ökonomistisch verengte Kapitalismuskritik, sondern reflektieren die ganze Bandbreite aktueller (feministischer) Forschung. Allerdings, darauf sei hingewiesen, bevor der Inhalt des Buchs vorgestellt wird, scheint angesichts der Breite und Tiefe der besprochenen Forschungen der Titel des Bands wenig glücklich gewählt: Feministische Kapitalismuskritik suggeriert (leider) nach wie vor eine bestimmte Form der Kritik, die in wissenschaftlichen und feuilletonistischen (s.o.) Kreisen gerne als marxistisch verstaubt oder als Feminismus im Geiste der 1970er-Jahre missverstanden bis parodiert wird.
Dass feministische Kapitalismuskritik marxistisch sein darf, aber nicht sein muss, dass sie in der Tradition der zweiten Frauenbewegung steht, aber über deren Ansätze hinausgeht, beweisen die Autorinnen eindrucksvoll. Aulenbacher, Riegraf und Völker formulieren als Ziele dieses Einstiegsbands, feministische Kapitalismuskritik als breiten Forschungsstrang vorzustellen (1), in dem teilweise auch gegensätzliche Theorieschulen aufeinandertreffen (2) und aus denen diverse Forschungsfelder hervorgehen (3). Diese Forschungsfelder werden in drei Abschnitten vorgestellt, wobei jeweils eine der Autorinnen für einen Abschnitt verantwortlich zeichnet: Abschnitt A behandelt Kapitalismus als Herrschaftszusammenhang (Aulenbacher), Abschnitt B Gerechtigkeit, Arbeit und soziale Ungleichheit (Riegraf), und Abschnitt C widmet sich dem gelebten Kapitalismus und umkämpften Wandel (Völker). Vor allem im letzten Teil, der praxeologische Perspektiven behandelt, werden die Erwartungen an diesen „Einstieg“ meines Erachtens eindeutig übertroffen. Feministische Kapitalismuskritik präsentiert sich darin ebenso als methodologisches wie als epistemologisches Projekt.
Dieser Anspruch wird auch gleich zu Beginn des ersten Abschnitts „Kapitalismus als Herrschaftszusammenhang und die Unterordnung des Lebens“ formuliert, in dem Brigitte Aulenbacher bedeutsame Theoretikerinnen und deren jeweils historisch und epistemologisch spezifische Perspektiven auf Kapitalismuskritik diskutiert. Die zentrale These zieht sich aber auch durch das gesamte Buch, dass der Kolonialismus wie auch die Geschlechtertrennung konstitutiv für die Herausbildung und das Wesen des Kapitalismus waren und heute noch in bestimmten Ausprägungen sind. Mit Verweis auf Autorinnen wie Silvia Federici, Gudrun Axeli-Knapp oder Regina Becker-Schmidt werden diverse theoretische Ansätze und deren politischer Ursprung gewürdigt, bis Aulenbacher dann im letzten Teil dieses Kapitels „Wider die Sorglosigkeit des Kapitalismus“ argumentiert. Mit Rückgriff auf Cornelia Klingers Begriff der „Lebenssorge“ stellt sie sozialphilosophische, historische und gegenwartsanalytische Perspektiven vor, die die „Sorg-losigkeit“ des Kapitalismus kritisieren. Gleichzeitig zeigt sie anhand von Modellen der Arbeitsgesellschaft auf, wie Vorstellungen von Reproduktion (vom Leibes- oder Liebesdienst bis hin zur Dienstleistung) und Produktion („Male Breadwinner“, „Adult Worker“) voneinander abhängen, deren Interdependenz aber systematisch durch die kapitalistische Herrschaftslogik verschleiert wird. Der erste Teil des Buches endet mit einem Interview mit der australischen Wissenschaftlerin und Aktivistin Ariel Salleh über die zentralen politischen wie wissenschaftlichen Begriffe des „Ecofeminism“.
Die These, dass Kolonialismus und Geschlechtertrennung in Form von unbezahlter Reproduktionsarbeit konstitutiv für die Entwicklung des Kapitalismus waren und sind, wird auch von Birgit Riegraf im nächsten Abschnitt „Gerechtigkeit, Arbeit und soziale Ungleichheiten“ aufgegriffen, aber aus anderer Perspektive beleuchtet. Riegraf veranschaulicht zunächst in einer komplexen, aber gut nachvollziehbaren theoretischen Argumentation, inwiefern die sozialphilosophische Debatte um Umverteilung und / oder Anerkennung (Nancy Fraser, Axel Honneth) stärker auf eine geschlechtersoziologische Perspektive zurückgreifen sollte. Auch in diesem Zusammenhang wird meines Erachtens deutlich, dass feministische Gesellschaftskritik gar nicht immer dezidiert feministisch sein muss. Umgekehrt kann aber die kritische Sozialforschung geschlechtersoziologische Perspektiven aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht ignorieren (ein Beispiel hierfür wäre die Wiederentdeckung von Rosa Luxemburgs feministischer Kritik an Karl Marx, die vor allem Klaus Dörre in den letzten Jahren prominent aufgegriffen hat, ohne dabei dezidiert feministisch zu argumentieren).
Anschließend werden die Erträge dieser sozialphilosophischen Debatte anhand verschiedener sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Modelle auf ihren Praxisbezug hin überprüft. Hier zeigt sich deutlich, inwiefern der „,Staat’ als Umverteilungs- und Gerechtigkeitsinstanz allmählich durch den ,Markt’ abgelöst wird“ (66). Solche realpolitischen Ereignisse werden dabei immer im Dialog mit wissenschaftlichen Theorien reflektiert: Staat, Gesellschaft, Wissenschaft und emanzipative Bewegungen verändern sich wechselseitig und aufeinander bezogen entlang der Diskussion um Umverteilung oder Anerkennung.
Das Zusammendenken großer theoretischer Debatten, politischer Strukturen und sozialer Praxen gelingt nicht nur an dieser Stelle überzeugend, sondern prägt das ganze Buch. So wird der Zugang zu den Forschungsfeldern erleichtert, weil sozialphilosophische Anschlüsse und empirische Anwendungen gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden.
Im letzten Teil dieses Abschnitts geht es u.a. im Kontext des Wandels der Arbeitsgesellschaft, der unter den Stichworten Subjektivierung, Entgrenzung und Prekarisierung diskutiert wird, um die „Globalisierung“ von Arbeitsbeziehungen. Anhand des Begriffs „Care Chains“ verweist Riegraf auf die Notwendigkeit feministischer Kapitalismuskritik, will man (Re-)Produktionsbeziehungen global betrachten. Als aktuelles Beispiel für diese Diagnose beschreibt Riegraf, wie die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung sowie die steigenden Karrierechancen von Frauen im globalen Norden dazu beitragen, dass die „Sorg-losigkeit“ des Kapitalismus geografisch nach Süden bzw. Osten ausgelagert wird, wenn die sprichwörtliche philippinische Haushälterin bei der Auswanderung ihre eigenen Kinder in der Heimat der Betreuung Anderer überlassen muss. Die vermehrt von Migrantinnen geleistete Pflege- und Sorgearbeit in europäischen Familien (Stichwort: „24-Stunden-Polin“) reproduziert die kapitalistische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, anstatt sie vermeintlich aufzulösen. Zwar ist die Forderung berechtigt, die feministische Kritik beständig zu „provinzialisieren“[2] (was im Übrigen, auch darauf verweist Riegraf, schon in den 1970er-Jahren der Bielefelder Subsistenzansatz geleistet hat, demzufolge nicht nur die unentlohnte Hausarbeit im kapitalistischen Westen, sondern vielmehr die mehrheitlich von Frauen im globalen Süden verrichtete unbezahlte Arbeit konstitutiv für die Herausbildung des Kapitalismus war und ist[3]). Gleichwohl ist dieses Kapitel problematisch, denn: Wer von den „Versorgungslücken“ spricht, die die Migrantinnen in ihren Herkunftsländern hinterlassen (obwohl deren Kinder in aller Regel nicht nur Mütter, sondern auch Väter haben), reproduziert selbst die dabei eigentlich kritisierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung des Kapitalismus. Leider wird dieser Umstand im Band nicht reflektiert, zumal sich Riegraf ausschließlich auf weibliche Migration bezieht.
Wie angekündigt halte ich den dritten Abschnitt „Gesellschaft im Wandel“ für den ergiebigsten Teil des Buchs. Susanne Völker stellt darin zunächst Praxistheorien und Epistemologien vor, denn: „Kapitalismus existiert nicht als statisch gegebener Strukturzusammenhang, sondern artikuliert sich in lebendiger, gegenwärtiger Praxis — diese unterliegt durchaus historischen Bedingungen, materiell-semiotischen Kräftefeldern und Diskursformationen“ (10). Sehr differenziert werden dann zentrale Einsichten und Paradigmen des u.a. von Pierre Bourdieu inspirierten und aktuell sehr lebendigen Forschungsfelds der Praxistheorie vorgestellt, die etwa von Irene Dölling, Robert Schmidt oder Andreas Reckwitz stammen. Konkret geht es um Lebensformen im Kapitalismus sowie speziell um den Eigensinn von Praxen inmitten der zuvor vorgestellten Strukturen. Allerdings, auch darauf sei hingewiesen, fehlt leider an einigen Stellen die Verknüpfung zwischen Praxeologien und feministischer Kapitalismuskritik, zwischen mikro- und makrosoziologischen Schulen. Dennoch ist ersichtlich, dass Geschlechtersoziologie und feministische Kritik eben auch immer interdisziplinär funktionieren. Die Autorinnen haben sich bei der Arbeit an dem Buch entschlossen, Forschungsfelder und Theorieschulen zusammenzudenken, die ihre Unverzichtbarkeit gerne damit begründen, dass sie sich voneinander abgrenzen. Kritische Kapitalismusanalyse ist, das zeigen die Autorinnen in sozialwissenschaftlicher Schärfe, nicht zuletzt eine methodologische Frage.
Thematisch werden in diesem Kapitel zunächst aus arbeitssoziologischer Perspektive Prekarisierung und Subjektivierung als postfordistische Phänomene eingeführt und mit empirischen Forschungen, beispielsweise zu widerständigen Praktiken von Angestellten, illustriert. Anhand einer von Gerko Egert u.a. durchgeführten Studie[4] zu (Nicht-)Männlichkeiten in Brandenburg veranschaulicht Völker darüber hinaus, wie kapitalistisch konstituierte Vorstellungen von Männlichkeit auch jenseits des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses in Krisenerfahrungen zwar reproduziert, aber auch in ihrer gelebten Praxis brüchig werden. Nach einem kleinen Exkurs zu den Gouvernementalitätsstudien, zum Postoperaismus und zu den sozialontologischen Überlegungen von Judith Butler und Isabell Lorey zur Prekarität[5] führt Völker ihre Überlegungen zur Eigensinnigkeit sozialer Phänomene im letzten Abschnitt des Bands wieder in die großen sozialphilosophischen Debatten zurück.
Insgesamt liegt hier ein bemerkenswerter Einstieg vor. Indem sie sehr dicht, aber klar und verständlich argumentieren, beleuchten die Autorinnen die Komplexität und Vielfalt all jener Theorien und Forschungen, die unter dem Begriff „feministische Kapitalismuskritik“ zusammengefasst werden. Dabei nutzen sie aktuelle Beispiele, um Leser_innen ohne Vorkenntnisse den Einstieg zu erleichtern und komplexe Theorien zu illustrieren. Teilweise werden einzelne Thesen in mehreren Abschnitten und Kapiteln aufgegriffen, was aber ausdrücklich keinen Malus darstellt, sondern im Gegenteil den Anspruch des Buchs veranschaulicht: Die Themen und Thesen der feministischen Kapitalismuskritik sollen ja aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven analysiert werden können. Außerdem ermöglicht diese Redundanz, die drei großen Abschnitte getrennt voneinander zu lesen, die nur stellenweise aufeinander aufbauen. Dadurch eignet sich dieser Einstiegsband sehr gut für die universitäre Lehre.
Alle drei Autorinnen folgern ausdrücklich, dass Kapitalismus als Herrschaftslogik zu begreifen sei, in der sich die je spezifischen Wirkungen von Androzentrismus, Eurozentrismus und klassenbasierter Herrschaft miteinander verbinden. Ein solcher Komplex lässt sich aus unterschiedlichen theoretischen und empirischen Perspektiven erforschen, wobei es unabdingbar ist, die Komplexität, den historischen Wandel und die soziale Realität der Ungleichheit gleichermaßen zu berücksichtigen. Das Buch sei deshalb den Neugierigen, den Zweifelnden und den Überzeugten gleichermaßen ans Herz gelegt. Freilich scheint mir der Band weniger eine Einführung in die feministische Kapitalismuskritik als eine Einführung in die kritische Sozialforschung der Gegenwart zu bieten.
Fußnoten
- Meike Lobo, Die feministische Selbstdemontage. Der moderne Feminismus hat ein Problem: Viele Anhängerinnen diskutieren zu laut und zu wütend über Sprache, Mütter und Vorstandsposten. Kritik lassen sie kaum gelten, in: Die Zeit, 7. März 2016.
- Frei nach Dipesh Chakrabarty meint „provinzialisieren“ hier die politische sowie epistemologische Forderung an die europäische Wissenschaft, sich nicht mehr als Zentrum der Welt zu begreifen, sondern aus postkolonialer Perspektive Europa als „Provinz“ zu betrachten. Insbesondere People-of-Color-Feministinnen plädieren dafür, die Erfahrungen weißer, europäischer Frauen nicht als Maßstab feministischer Politik zu begreifen noch für alle Frauen zu generalisieren.
- Einen kurzen Überblick zum Bielefelder Subsistenzansatz gibt beispielsweise Andrea Baier in: Ruth Becker / Beate Kortendieck (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 3. Aufl., Wiesbaden 2010.
- Gerko Egert / Herdis Hagen / Oliver Powalla / Stephan Trinkaus, Praktiken der Nichtmännlichkeit – Prekär-Werden männlicher Herrschaft im ländlichen Brandenburg, in: Alexandra Manske / Katharina Pühl (Hrsg.), Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung, Münster 2010, S. 186–209.
- Isabell Lorey, Die Regierung der Prekären. Mit einem Vorwort von Judith Butler, Wien 2012.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Imke Schmincke.
Kategorien: Wirtschaft Gender
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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