Norma Tiedemann | Rezension |

Fragile Errungenschaften

Rezension zu „Doppelcharakter der Demokratie. Zur Aktualität der politischen Theorie Franz L. Neumanns in der Krise“ von Felix Sassmannshausen

Felix Sassmannshausen:
Doppelcharakter der Demokratie. Zur Aktualität der politischen Theorie Franz L. Neumanns in der Krise
Deutschland
Berlin 2020: Metropol-Verlag
440 S., EUR 24,00
ISBN 978-3-86331-527-6

Es gärt in der Europäischen Union. Seit mindestens zehn zähen Jahren steckt der Staatenverbund in einer Krise – von Diskussionen über einen „Grexit“ in der Eurokrise, über den entmenschlichenden Umgang mit Flüchtenden bis zum sich jüngst entzündenden Konflikt, bei dem um einen vermeintlichen Grundpfeiler der Union gerungen wird: die Rechtsstaatlichkeit.[1] Und damit um die Einhaltung eines zentralen Elements moderner, liberaler Demokratien. Wie schnell die damit verknüpften Rechte, die vor Repression und differenzvernichtendem Autoritarismus schützen sollen, in Gefahr geraten, zeigt der globale Aufstieg antidemokratischer Kräfte in unter anderem Brasilien, Ungarn, Serbien oder den Philippinen. Auch die Polizeigewalt in den USA, Frankreich oder die Stärkung extrem rechter Netzwerke innerhalb der staatlichen Repressionsapparate Deutschlands[2] deuten auf die Fragilität hart erkämpfter Freiheitsrechte hin. Die Widersprüche der liberalen Demokratie, mit ihrer formalen Gleichheit bei gleichzeitig struktureller sozialer Ungleichheit, scheinen in Zeiten anhaltender Stagnation der Kapitalakkumulation besonders scharf hervorzutreten. Dass die aktuell zu beobachtenden Verfallserscheinungen demokratischer Regime keine durch exogene Schocks verursachten Krisensymptome sind, sondern im Kern der Sache selbst – der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Form der parlamentarischen Demokratie – liegen, ist eine grundlegende These in Felix Sassmannshausen 2020 im Metropol-Verlag (Berlin) erschienenen Buch „Doppelcharakter der Demokratie – Zur Aktualität der politischen Theorie Franz L. Neumanns in der Krise“. Der Politikwissenschaftler unternimmt darin den ambitionierten Versuch einer gesellschaftstheoretisch anspruchsvollen Untersuchung der Auswirkungen der globalen Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrise 2007 ff. „auf die juristische, institutionelle und ideologische Dimension der Demokratien in den Niederlanden und Deutschland“ (S. 60). Dem normativen Programm einer politischen Theorie im Sinne Franz L. Neumanns folgend, will er in seiner Dissertation jene Tendenzen aufspüren, die bestehende Freiheiten bedrohen und bislang nicht realisierte Potenziale gesellschaftlicher Autonomie behindern.

Das Buch besteht aus drei Teilen, die bei entsprechendem Interesse auch einzeln, ohne Konsultation der übrigen, gelesen werden können. Der erste Abschnitt (S. 90–191) widmet sich dem demokratie- und rechtstheoretischen Denken von Franz L. Neumann. Sassmannshausen zeichnet dessen sich wandelndes Verständnis von den sozialistisch-transformatorischen Potenzialen der Demokratie anhand seiner Biografie nach, die stark durch die dichte, kontrastreiche Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt war. Wichtige Marker sind dabei das Scheitern der Weimarer Republik, die Jahre des nationalsozialistischen Regimes und dessen eliminatorischen Antisemitismus sowie der Sieg der Alliierten und die folgenden Entnazifizierungsprogramme in der BRD. Neumann wurde 1900 geboren, 1933 ging er ins Exil, zunächst nach London, dann in die USA und starb bereits 1954 bei einem Autounfall. Er ist einer der wenigen aus dem Kreise des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die sich explizit mit Fragen der Rechts- und Staatstheorie befassten. Zentral für sein Denken war die Annahme, dass die Rechtsform aus einer über Vertragsverhältnisse vermittelten, warentauschenden Gesellschaft, deren Distinktionsmerkmal das Privateigentum an Produktionsmitteln ist, entsteht. Die Rechtsform zeichnet sich durch ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit wahrendem Gesetz und Freiheit vernichtender Gewalt aus, welches nie davor geschützt ist, ins Autoritäre zu kippen. Die Herrschaft des allgemeinen Gesetzes, im Gegensatz zu zum Beispiel Einzelfalldekreten oder gar völliger exekutiver Willkür, galt Neumann als notwendige Bedingung der Demokratie.

Der zweite Teil des Buches (S. 192–282) analysiert zwei Krisenbewältigungsmaßnahmen des Jahres 2009 – das Finanzmarktstabilisierungsgesetz in Deutschland und das Illiquid Assets Back-up Facility in den Niederlanden. Beide wurden vor dem Hintergrund der ausgegebenen Devise, dass sich kein zweites Lehman-Brothers-Debakel ereignen dürfe, beschlossen, um bestimmte Finanzinstitute (die Hypo Real Estate sowie die ING) zu stabilisieren und vor massiven Kreditausfällen zu bewahren. Dabei orientiert sich Sassmannshausen an Neumanns Überlegungen zu antiformalen Erosionstendenzen im Recht und erkennt in den ergriffenen Maßnahmen Anzeichen einer Einzelfallgesetzgebung beziehungsweise einer Generalklausel (S. 238). Zudem wird anhand seiner Darstellung deutlich, dass in den Niederlanden eine Exekutivierung der Krisenpolitik durch Nicht-Beteiligung des Parlaments stattgefunden hat (S. 270 ff.).

Der dritte und abschließende Teil (S. 283–387) versucht, die wichtigsten Legitimationsfiguren, die in Parlamentsreden sozialdemokratischer Politiker*innen artikuliert wurden, gesellschaftstheoretisch zu explizieren. Dies gilt Sassmannshausen als Ideologieanalyse, die er mit entsprechendem Rekurs auf die psychischen Verarbeitungsmechanismen einer komplexen und widersprüchlichen Moderne in Form pathischer Projektionen unterfüttert (S. 363 ff.). Als zentral in der Darstellung der Krisenursachen stellt der Autor eine zumeist latent antisemitische und antiamerikanische Externalisierungsmotivik heraus. Im Sinne einer Aufspaltung des Kapitalismus in eine vermeintlich „gute“ und vornehmlich national konnotierte „Realwirtschaft“ und eine amerikanische „böse Finanzwirtschaft“, in der omnipotente Banker ohne Blick auf das Gemeinwohl das Sagen haben und ihrer Spiellust und Gier freien Lauf lassen, projizieren die untersuchten Redner*innen die Ursachen der Krise auf „Amerika“ beziehungsweise eine identifizierbare Personengruppe (S. 302 ff.). Entgegen der zu Beginn des Buches vorgestellten marxistischen Erklärung der Krise, die auf die strukturellen Fallstricke einer kapitalistischen Re-/Produktionsweise (Fall der Profitrate, Überakkumulation, S. 82 ff.) abstellt, popularisieren sozialdemokratische Politiker*innen also die Vorstellung einer von außen hereinbrechenden Gewalt, die sie nun mit Blick auf „die Steuerzahler“ verantwortungsvoll und staatstragend zu managen hätten (S. 283 ff.).

Dem oftmals als Neumanns „Hauptwerk“ gehandelten Behemoth räumt der Autor wenig Platz ein und arbeitet sich stattdessen durch die Schriften zu Rousseau, der Rechts- und Demokratietheorie sowie der späteren Ideologiekritik (daher ist die Grafik auf dem Cover des Buches – eine Lithographie, die die biblisch-mythologischen Gestalten Leviathan und Behemoth zeigt – etwas irreführend). Zudem verortet Sassmannshausen die theoretischen Entwicklungen Neumanns konsequent in den Brüchen in dessen Biografie. Die Veränderungen seines Denkens werden also in klaren Zusammenhang mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen und Neumanns persönlicher, sich an diesen Umständen oft schmerzhaft reibender Lebensgeschichte[3] gebracht.

Entsprechend den Anforderungen, die das Abfassen einer Dissertation mit sich bringt, bemüht sich der Autor darum, seine gesellschaftstheoretischen Prämissen transparent zu machen. Das mag Leser*innen, denen die Lektüre marxistischer sowie älterer Kritischer Theorie nicht fremd ist, redundant erscheinen, ermöglicht anderen jedoch Zugang zu einem vielleicht neuen Modus der Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse. Gerade die zeitgenössische Demokratietheorie kommt, wie von Sassmannshausen im einleitenden Kapitel dargestellt, oft nicht über eine Untersuchung von Oberflächenphänomenen hinaus. Sassmannshausen siedelt seine Arbeit dagegen auf einem hohen Abstraktionslevel an und versucht die Tiefenstrukturen von demokratischer In-/Stabilität zu erhellen. Allerdings reüssiert er dabei nicht durchweg – viele Begriffe erhalten keine Arbeitsdefinition oder werden in changierender Bedeutung verwendet. Das trifft zum Beispiel auf die „pluralistische Gesellschaft“ zu: gelegentlich scheint der Begriff gesellschaftstheoretisch eine in Klassen gespaltene Gesellschaft zu beschreiben, mal verweist er deskriptiv auf das Vorhandensein verschiedener Interessen auch innerhalb einer Klasse und manchmal wird er normativ, als Gegenmodell zu einem potenziell totalitären Homogenitätsverständnis von Gesellschaftlichkeit, verwendet. Dasselbe gilt für den Begriff „Antagonismus“ oder den vermeintlich traditionell-marxistischen „Kollektivismus“, der, gerade an Stellen, an denen es um die Abgrenzung zu manchen marxistische Strömungen geht, von konkreten Referenzen auf diese als Kontrastfolie fungierenden Positionen profitiert hätte.

Die Fülle der im Buch aufgenommenen gedanklichen Fäden ist eine Herausforderung, die durch ein strengeres Lektorat hätte leser*innenfreundlicher gestaltet werden können. Argumentative Schleifen hätten abgeschliffen und mehr sprachliche Klarheit in die Menge des Materials, insbesondere in die Fußnoten, gebracht werden können. Hier finden sich oft assoziativ verkettete, als unmittelbar an die im Haupttext formulierten Aussagen anknüpfende Thesen(fragmente) und Nebendiskussionen. Die Leserin muss sich zudem damit zurechtfinden, dass der Text auf über 400 Seiten auf keine klare Pointe hinausläuft. Nichtsdestotrotz ist das Buch ein begrüßenswertes Plädoyer für eine gesellschaftstheoretisch gefasste Analyse des Krisenmanagements 2007 ff. und sticht durch seine detaillierte empirische Bearbeitung eines kleinen, aber wichtigen Ausschnitts der damaligen Krisenpolitiken hervor.

Sassmannshausen stellt abschließend (S. 394) fest, dass die Krisenmaßnahmen strukturell nicht oder nur teilweise demokratisch legitimiert waren, aber eine Einschätzung von Tiefe und Tragweite der Beschädigung von Parlamentsmacht und Rechtsform fehlt. Auch im historischen Vergleich stellt sich zehn Jahre nach einem Höhepunkt staatlicher Eingriffe zur Stabilisierung der Finanzmärkte und in Anbetracht heutiger Interventionen zur Eindämmung der Pandemie die Frage, ob es sich bei einer solchen Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien um eine Zäsur oder ein völlig gewöhnliches Ereignis in einer Demokratie im Kapitalismus handelt. Ab wann sind demokratische Grundlagen soweit und oft angegriffen, dass nicht mehr von Demokratie zu sprechen ist? Und welche gesellschaftlichen Kräfte sind es, die solche exekutiven Durchgriffe immer wieder abwehren und damit das fragile Projekt der Rechtsstaatlichkeit verteidigen? Aus Angst vor einer voluntaristischen Schlagseite wird die Relevanz von Handlungen und Akteuren in Sassmannshausens Darstellung von einem prononcierten Struktur- und Formüberhang erstickt. Gesellschaftliche Kämpfe, das Vor und Zurück im Kräfteverhältnis zwischen Klassen, scheint es nicht zu geben. Die Parlamentarier*innen, deren Reden untersucht wurden, erscheinen nur insofern als konkrete Menschen, als dass sie ein gesellschaftliches Verhältnis ideologisch artikulieren und zwar aufgrund der Zwänge der öffentlichen Legitimationsrituale im Parlament nur auf spezifische Weisen (nämlich komplexitätsreduziert und appellierend an emotionale und assoziative Muster). Das fragile Gleichgewicht, durch das liberale Demokratie die Revolution auf Dauer stellt,[4] wird durch die Ausblendung der konjunkturell je spezifischen Kräfteverhältnisse nicht als ein solches verstanden. Damit bleibt jedoch unklar, wo demokratische Resilienz ihren Ursprung haben kann, wenn sie nicht in der Form selber verortet wird. Das jedoch würde Sassmannshausens vorgeblich praxistheoretischer Perspektive auf Recht und Demokratie (S. 103) widersprechen.

Bis auf diesen, dem engen Zuschnitt auf die ältere Kritische Theorie geschuldeten, weißen Fleck, stellt das Buch die Aktualität von Neumanns Denken unter Beweis. Die Bedrohungen von Rechtsstaat und Demokratie liegen demnach sowohl in deren eigener Widersprüchlichkeit begründet, als auch in den sozialen Verwerfungen, die mit einer dauerhaft krisenhaften globalen Ökonomie einhergehen. Ihre Verteidigung bedeutet nach Neumann eine Verteidigung gesellschaftlicher und individueller Freiheit. Ob der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der EU ein geeignetes und ausreichendes Instrument dafür ist, darf jedoch bezweifelt werden.

  1. Reinhard Veser, Besser ein scharfes Verfahren gegen Verstöße, https://www.faz.net/aktuell/politik/eu-ungarn-und-polen-blockieren-rechtsstaatsverfahren-16979719.html (19.11.2020).
  2. Matthias Meisner / Heike Klefner (Hg.), Extreme Sicherheit: Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz, Freiburg 2019.
  3. vgl. z. B. Alfons Söllner, Ein (un)deutsches Juristenleben – Franz Neumann zum 80. Geburtstag, in: Kritische Justiz 4 (1980), S. 427–437.
  4. Alex Demirović, Demokratie – zwischen autoritären Tendenzen und gesellschaftlicher Transformation. Zur Kritik der politischen Demokratie, in: ders. (Hg.), Transformation der Demokratie – demokratische Transformation, Münster 2016, S. 278–302.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Politik Demokratie Kritische Theorie

Norma Tiedemann

Norma Tiedemann hat Global Political Economy studiert und ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Politische Theorie der Universität Kassel, wo sie für ihre Doktorarbeit über autoritäre Staatlichkeit und demokratische Gegenbewegungen in Südosteuropa forscht. Sie ist außerdem aktiv in der Initiative Uni Kassel Unbefristet, die sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft einsetzt.

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