Bastian Ronge | Rezension |

Geburtstagsgeschenk mit Ausblick

Rezension zu „Debating Critical Theory. Engagements With Axel Honneth“ von Julia Christ, Kristina Lepold, Daniel Loick und Titus Stahl (Hg.)

Julia Christ / Kristina Lepold / Daniel Loick / Titus Stahl (Hg.):
Debating Critical Theory. Engagements with Axel Honneth
USA
Maryland 2020: Rowman & Littlefield
330 S., 27,95 $
ISBN 978-1-78661-479-7

Axel Honneth ist nicht nur einer der bekanntesten – wenn nicht der bekannteste – Vertreter zeitgenössischer Kritischer Theorie, sondern auch einer der wichtigsten Philosophen der Gegenwart. Zu seinem siebzigsten Geburtstag haben seine ehemaligen Mitarbeiter*innen Julia Christ, Kristina Lepold, Daniel Loick und Titus Stahl einen Band herausgeben, der 2020 in der Reihe Essex Studies in Contemporary Critical Theory bei Rowman & Littefield erschienen ist. Der Titel „Debating Critical Theory. Engagements with Axel Honneth“ kann unter Umständen falsche Erwartungen wecken: Angesichts des Einflusses, den Honneth auf die Diskussionen innerhalb der Kritischen Theorie in den letzten Jahrzehnten hatte – erinnert sei hier nur an sein Buch „Kampf um Anerkennung“, mit dem er maßgeblich zur Etablierung eines ganzes Forschungsparadigmas beigetragen hat – könnte man vermuten, dass der Band diskutiert, inwiefern Honneth das von Horkheimer und Adorno ins Leben gerufene Projekt namens Kritische Theorie fortsetzt oder weiterentwickelt. Sicherlich wäre Honneths Werk bedeutsam und einflussreich genug, um es – ähnlich wie das von Jürgen Habermas – am Maßstab seines Einflusses auf die Tradition der Kritischen Theorie zu messen. So interessant eine solche kritisch geführte Debatte wäre, sie vertrüge sich nicht mit dem Gaben-Charakter des Buches, auf den der Untertitel anspielt: Tatsächlich dokumentiert der Sammelband „Engagements with Axel Honneth“ und zwar von achtzehn namhaften Philosoph*innen und Sozialwissenschaftler*innen, darunter langjährige Weg- und Denkgefährt*innen wie zum Beispiel Amy Allen, Seyla Benhabib, Raymond Geuss, Martin Saar oder Frederick Neuhouser. Naturgemäß fallen diese „engagements“ recht unterschiedlich aus: Während manche Aufsätze tatsächlich dem Charakter eines Geschenks entsprechend weniger Auseinandersetzung mit Axel Honneths Philosophie darstellen als vielmehr philosophische Auseinandersetzungen für Axel Honneth, setzten sich andere Beiträge ausführlich und ausdrücklich mit Thesen und Argumenten des Jubilars auseinander. Die Herausgeber*innen begegnen dieser Vielfalt pragmatisch: In einer sehr lesenswerten Einführung (vi-xiii) unternehmen sie einen konzisen Durchgang durch das Honneth‘sche Werk. So arbeiten sie vier Schlüsselbegriffe heraus, die ihrer Meinung nach grundlegend für das Verständnis seiner Philosophie sind (Kritik, Anerkennung, Soziale Freiheit, Fortschritt) und gruppieren die Beiträge des Bandes entsprechend in vier Sektionen.

Die erste Sektion zum Begriff „Critique“ versammelt Beiträge von Raymond Geuss, Rainer Forst, Sally Haslanger, Martin Saar, Didier Fassin und Robin Celikates. Die zweite Sektion ist dem Begriff der „Recognition“ gewidmet und beinhaltet Texte von Frederick Neuhouser, Martin Hartmann und Joel Whitebook. Unter dem Stichwort „Social Freedom“ finden sich Aufsätze von Bruno Karsenti, David Miller, Seyla Benhabib, Beate Roessler und Christoph Menke. Dem Schlüsselbegriff „Progress“ sind die Beiträge von Philip Kitcher, Christopher Zurn und Amy Allen zugeordnet. Das Ungleichgewicht bei der Verteilung fällt ins Auge: Die Sektion zu „Critique“ beinhaltet so viele Beiträge wie die Sektionen zu „Recognition“ und „Progress“ zusammen. Dass ausgerechnet zum Begriff der Anerkennung relativ wenige Texte vorliegen, in denen Honneth zudem kein einziges Mal direkt zitiert wird, erklärt sich aus dem bereits erwähnten Gaben-Charakter dieser Beiträge. Für die Rezension des Bandes ziehe ich daraus die Konsequenz, mich in der vorliegenden Besprechung auf zwei Aufsätze zu konzentrieren, die sich eindeutig und ausdrücklich mit Honneths Philosophie und den von ihm geprägten Konzepten auseinandersetzen. An ihnen zeigt sich auch, wie fruchtbar eine Debatte über Honneths Philosophie und ihren Einfluss auf die Tradition der Kritischen Theorie zu werden verspricht.

Martin Saar – Axel Honneths Nachfolger auf dem geschichtsträchtigen Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt – diskutiert in seinem Beitrag „Immanent Normativity and the Fact of Domination“ Honneths Gebrauch des für die Tradition der Kritischen Theorie grundlegenden Begriffs der immanenten Kritik (S. 51 ff.). Mit groben Strichen zeichnet Saar eingangs die Diskussion nach, die innerhalb der zeitgenössischen Kritischen Theorie zu einem „major theoretical concern“ (S. 51) geworden ist: Worin gründet und begründet sich die Kritik, welche Kritische Theorie an der Gesellschaft übt? Saar stellt fest, dass diese Frage noch vor einem „couple of decades“ (ebd.) im Grunde gegenstandslos gewesen wäre: Solange Kritische Theorie im „Marxist or late-Marxist theoretical framework“ verankert war und folglich die „exact forms of figures of domination“ (ebd.) bestimmen und benennen konnte, war ihre Kritik nichts anderes als „an implication of a sound social diagnosis“ (ebd.). Mit anderen Worten: Die Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie resultierte unmittelbar aus der gesellschaftstheoretisch fundierten, nämlich marxistischen Analyse der Gesellschaft. Erst mit dem Niedergang der marxistischen Gesellschaftstheorie als soziologischem Analysewerkzeug (inner- wie außerhalb der Kritischen Theorie), konnte die Frage nach der Berechtigung ihrer Kritik überhaupt virulent werden. Vor diesem Hintergrund rekonstruiert Saar überzeugend, wie Honneth im Anschluss an Habermas und mit Blick auf Foucault den Traditionsbegriff der immanenten Kritik nutzt, um den vermeintlichen Markenkern Kritischer Theorie zu bewahren und vor der Verwechslung mit anderen Formen der Kritik zu schützen: Kritische Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie immanente Kritik praktiziert, sprich die Stoßrichtung und Überzeugungskraft ihrer Kritik aus der sozialen Praxis selbst bezieht. Im Zentrum steht dabei der Begriff des Kampfes um Anerkennung, führt Saar aus. Denn: In den gesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung werden die normativen Geltungsansprüche sichtbar, auf die sich die Gesellschaftsmitglieder immer schon beziehen, auch wenn diese nicht explizit artikuliert und erkannt werden. Immanente Kritik á la Honneth zielt darauf ab, die normative Grammatik herauszuarbeiten, die in den sozialen Kämpfen durchscheint und auf diese Weise zur theoretischen Klärung und praktischen Realisierung der zu Grunde liegenden Normen beizutragen. Auf diese Weise, so die Annahme, kann sich die Gesellschaft von den verschiedenen sozialen Pathologien[1] befreien, die eine reinere Artikulation der Normen verhindern beziehungsweise das Resultat der unreinen, blockierten Artikulation sind.

Vor diesem Hintergrund geht Saar dazu über, Honneth mit Honneth zu kritisieren: Scharfsinnig beobachtet er, dass jener in einer seiner jüngeren Publikationen („Is there an Emancipatory Interest?, 2017) „the schema of immanent critique“ (S. 58) weiterentwickelt beziehungsweise dem von ihm bis dahin vertretenen „Hegelian-Parsonian“ (ebd.) Modell eine Alternative zur Seite stellt: das „ontologische“ Modell. Dieses basiert auf der Annahme, dass „between norm and domination, norm and power, norm and exclusion“ (ebd.) eine konstitutive Beziehung besteht, so dass eine neutrale Bezugnahme auf die Normen nicht möglich ist. Wenn Normen immer schon Ausdruck und Resultat von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen sind, dann kann Kritische Theorie nicht ihre defizitäre Artikulation und Verwirklichung kritisieren – sondern muss sich, so Honneth, in ihrer Kritik „by the point of view of those subjected to this domination“ (S. 57) informieren lassen. Saar argumentiert, dass Honneth mit dieser Aussage (manch einer würde es wohl Zugeständnis nennen), den Weg für eine neue und „different form of immanent critique“ (S. 61) ebnet, deren Umrisse Saar mit Rückgriff auf Foucault, Butler und den Neo-Spinozismus beziehungsweise Deleuzianismus skizziert. Geht man ontologisch von den „entangelements of the subject (of critique) with its objects, namely the social norms“ (ebd.) aus, kann das „object of critique” nicht außerhalb der kritischen Praxis liegen. Oder anders formuliert: „Critique [...] is nothing that refers to the reality of the social from somewhere else; it is part of the real“ (S. 63). Dass eine solche affekt-ontologische Bestimmung von immanenter Kritik nur noch eine „faint resemblance to the neo-Hegelian conception Axel Honneth has advanced so forcefully in recent years“ (S. 61) besitzt, ist Saar ebenso bewusst wie die Tatsache, dass die „introduction of ontological vocabulary into critical theory“ (ebd.) ein nicht ungefährliches Theoriemanöver ist. Dass Saar mit Honneth so weit über Honneth hinaus gehen kann, zeigt eindrucksvoll, welche weitreichende Konsequenzen sich aus der Honneth‘schen (Re-)Interpretation von Schlüsselbegriffen der Kritischen Theorie – wie in diesem Fall des Begriffs der immanenten Kritik – ergeben können: Plötzlich ist die hegel-marxistische Annahme der Existenz einer gesellschaftlichen Vernunft durch eine spinozistisch-nietzscheanische Ontologie der gesellschaftlichen Kräfte ersetzt, mithin Kritische Theorie zur Kritischen Praxis geworden, die nicht nur ohne jenen marxistischen Theorierahmen auskommt, der einst das Projekt der Kritischen Theorie fundiert hat, sondern ganz ohne Soziologie und soziologisches Wissen.

Konträr dazu kommt der französische Soziologe Bruno Karsenti mit Honneth zu dem Schluss, dass die kritische, hegelianisch inspirierte Sozialphilosophie nicht umhinkommt, sich mit empirischer Sozialforschung anzureichern. In seinem Beitrag „Ethical Life and Anomie. From Social Philosophy to Sociology of the State“ setzt er sich intensiv mit Honneths Opus magnum „Das Recht der Freiheit“ und dem darin entwickelten Konzept der sozialen Freiheit und der sozialen Pathologie auseinander, wobei ihn in erster Linie die Frage umtreibt, ob eine rein hegelianische Perspektive ausreicht, um das Verhältnis des Individuums zum Staat zu explizieren oder ob hierfür „a properly sociological one“ (S. 155) hinzugezogen werden muss. Das Erkenntnisinteresse an der Frage nach dem Staat beziehungsweise nach der Beziehung des modernen Individuums zum Staat ist nicht zufällig: Die Hegel‘sche Rechtsphilosophie selbst wirft die Frage auf, ob der moderne Staat der letzte, unaufhebbare Garant des Rechts auf Freiheit ist oder nur dessen historische Bedingung, die letztlich überwunden werden muss, um das Recht auf Freiheit vollständig realisieren zu können. „The strength of Honneth’s expression ,freedom’s right’ lies in the fact that it concentrates this ambivalence: in one and the same movement, the state constitutes our freedom as a right but implies that freedom can turn against the very same state” (S. 152). Vor diesem Hintergrund knüpft Karsenti in seiner Argumentation, der wegen ihrer Vielschichtigkeit und zum Teil auch Sprunghaftigkeit nicht immer leicht zu folgen ist, an ein klassisches Thema der marxistischen Gesellschaftstheorie an: der systematisch verzerrten Erscheinung der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Karsenti argumentiert, ohne hierbei auf die diesbezüglichen Diskussionen innerhalb der Hegel-Forschung einzugehen, dass der triadische Aufbau der Hegel‘schen Rechtsphilosophie (abstraktes Recht, Moral, Sittlichkeit) die widersprüchlichen Erscheinungsweisen der sozialen Freiheit in modernen Gesellschaften beschreibt. Die Sittlichkeit, das heißt die gelebten ethischen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder, stellt immer und überall das Fundament der Gesellschaft dar – allerdings bleibt diese Tatsache den Mitgliedern moderner Gesellschaften verborgen, weil sie in den Sphären des Rechts, der Moral und der Wirtschaft eine individualisierte beziehungsweise atomisierte Welt- und Selbstwahrnehmung einüben. Aus dieser Entstellung resultieren, so Karsenti, die „pathologies of freedom“ (S. 159), wie sie für moderne Gesellschaften charakteristisch sind: „At the levels of law and morality alike – but let us not forget economy – it is impossible for the actors not to lose sight of normality; in other words, on the these levels individualization is necessarily followed by its counterpart: de-socialisation. Therefore, freedom is necessarily conceived as the realization of a self-centred self, detached from the relational supports that in truth ware what enable it to assert itself.” (S. 159) Mit dieser innovativen Interpretation, die das Pathologien-Konzept als Folge des systematisch verstellten Blicks auf das gesellschaftliche Fundament (statt als Resultat einer blockierten Verwirklichung von bereits in der gesellschaftlichen Praxis latent vorhandenen Normen) begreift, aktualisiert Karsenti nicht nur einen Topos der marxistischen Gesellschaftsanalyse, sondern bringt auch die Soziologie und die Relevanz soziologischen Wissens wieder ins Spiel. Denn: Die systematische Fehlwahrnehmung von Sittlichkeit, die letztlich auch dafür verantwortlich ist, dass wir den modernen Staat fälschlicherweise als Nationalstaat oder Verwaltungsstaat wahrnehmen statt als ein „ideal stratum of practice“ (S. 167), welches die Realisierung sozialer Freiheit ermöglicht, lässt sich nur auflösen, indem wir mit Mitteln der empirischen Sozialforschung unsere „social experience of the state“ (S. 169) erforschen und auf diese Weise ein Wissen generieren, das uns dabei hilft, unsere Fehlwahrnehmung des Staates zu korrigieren. Für Karsenti steht daher fest, dass Honneths „normative reconstruction“ (S. 170) der modernen Gesellschaft, die er im „Recht auf Freiheit“ vorliegt, von sich aus in die Richtung einer (Re-)Soziologisierung der Hegel‘schen Sozialphilosophie weist (S. 170).

Ähnlich wie Martin Saar scheint auch Bruno Karsenti am Ende seiner Auseinandersetzungen mit Honneth über Honneth hinauszugehen – allerdings in eine entgegengesetzte Richtung: Während Saar bei Honneth eine Immanenz der Normativität entdeckt, welche die ohnehin erodierte soziologische Fundierung von Kritischer Theorie gänzlich überflüssig zu machen droht, entdeckt Karsenti in Honneth einen Fürsprecher für die (Re-)Soziologisierung einer hegelianisch inspirierten, kritischen Sozialphilosophie. Dass beides mit Honneth möglich ist, zeugt nicht nur von der Vielschichtigkeit und Komplexität seines Werks, sondern zeigt auch, dass es ein wichtiges und dringendes Anliegen ist, ausgehend von Axel Honneths Philosophie über die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gestalt von Kritischer Theorie zu diskutieren. Der Band „Debating Critical Theory. Engangements with Axel Honneth“ trägt diese Debatte selbst zwar nicht aus, führt aber eindrucksvoll ihre Relevanz und Reichweite vor Augen.

  1. Der Begriff der „sozialen Pathologie“ ist sicherlich ein weiteres Schlüsselkonzept der Honneth‘schen Philosophie, das in der „Introduction“ Erwähnung hätte finden können.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Philosophie

Bastian Ronge

Dr. Bastian Ronge ist seit 2021 Fachmentor am Institut für Philosophie der Bergischen Universität Wuppertal. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Humboldt Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Sozial- und Wirtschaftsphilosophie.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Iris Dankemeyer

Dialektik des Ohrs

Rezension zu „Kritische Theorie des Hörens. Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns“ von Martin Mettin

Artikel lesen

Jakob A. Bertzbach

„Ich freue mich, wenn es regnet, denn …!“

Zur Erinnerung an Herbert Schnädelbach und seine soziale Sinnschärfe

Artikel lesen

Tobias Heinze, Judith-Frederike Popp

Arbeit an der Theoriepraxis

Literaturessay zu „Critique on the Couch. Why Critical Theory Needs Psychoanalysis“ von Amy Allen

Artikel lesen

Newsletter