Fabienne Décieux, Raphael Deindl | Rezension | 24.06.2022
Gemeinschaft als zentrale Ressource des Gegenwartskapitalismus
Rezension zu „Community-Kapitalismus“ von Silke van Dyk und Tine Haubner
In Anbetracht multipler Krisen, die sich in ihren jeweiligen Dynamiken wechselseitig beeinflussen und verschärfen, müsste der neoliberale Kapitalismus seine Hegemoniefähigkeit mehr und mehr einbüßen. Neben den fatalen wirtschaftlichen und sozialen Folgen, wie sie etwa im Kontext der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff. sichtbar wurden, zeigt sich die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus mittlerweile auch auf Ebene der Demokratie oder des Klimas, ebenso wie er sich in zunehmendem Maße auch im Bereich der sozialen Reproduktion niederschlägt. Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie wurde das Ausmaß der Reproduktionskrise in drastischer und zum Teil lebensbedrohlicher Weise ersichtlich. Doch wie Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem neuen Buch Community-Kapitalismus konstatieren, scheint der neoliberale Kapitalismus trotz all der genannten Verwerfungen nicht an sein Ende gekommen zu sein (Kapitel 1). Er stelle vielmehr abermals seine Flexibilität und ungeheure Wandlungsfähigkeit unter Beweis, indem er vom „jahrelang gepredigten sowie politisch exerzierten Individualismus“ abrücke und sich auf „die Suche nach gemeinschaftsförmigen Krisenlösungen und gemeinschaftsbasierter Solidarität – als neuer Ressource der Sozialpolitik“ (S. 8) – begäbe.
Die sozialstaatlich induzierte Neukonfiguration, die van Dyk und Haubner theoretisch wie auch empirisch mit dem Begriff des „Community-Kapitalismus“ konzeptualisieren, zeichnet sich durch die „Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage und die Verknüpfung von nicht regulär entlohnter Arbeit (im Folgenden: Posterwerbsarbeit) und Gemeinschaftspolitik aus“ (S. 9). Zu den unbezahlten beziehungsweise geringfügig entlohnten Tätigkeiten, die jenseits von Markt, Staat und Familie erbracht werden, zählen Ehrenämter, Freiwilligenarbeit, zivilgesellschaftliches Engagement, Nachbarschaftsprojekte, Pflegekollektive, Mehrgenerationenhäuser und vieles mehr. Der Rückgriff darauf wie auch die damit verbundene Ausbeutung sind ein wesentlicher Steuerungs- und Bearbeitungsmodus, mit dem der Staat Struktur- und Legitimationsprobleme im Gegenwartskapitalismus zu lösen versucht, wie die Autorinnen zeigen. Um etwaige Fehlinterpretationen zu vermeiden, weisen sie darauf hin, dass es ihnen nicht um eine pauschale Kritik an zivilgesellschaftlichem Engagement, Alternativökonomien oder neuen Formen der Solidarität und Selbstorganisation geht. Allerdings werde Freiwilligenarbeit in gesellschaftlichen Diskursen wie auch in weiten Teilen der Engagementforschung geradezu propagiert, ja unkritisch idealisiert und sakralisiert (vgl. S. 52). Dem widersprechen van Dyk und Haubner mit der zentralen These ihres Buchs: Sie formulieren „eine Kritik der politischen und moralischen Ökonomie des Community Kapitalismus, die […] auf Ausbeutung von Posterwerbsarbeit, der Informalisierung und Deprofessionalisierung von Arbeit, der Umdeutung der sozialen Frage in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften und der Überführung sozialer Rechte in soziale Gaben beruht“ (S. 11) und dabei neue Widersprüche und Fallstricke mit sich bringt.
Theoretische Einordnung in die Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung
Zentraler theoretischer Bezugspunkt für ihre Auseinandersetzung mit der zunehmenden Indienstnahme von Gemeinschaft(lichkeit) als zeitgenössische Antwort auf bestehende Sorgelücken und Versorgungsengpässe bilden dabei aktuelle Debatten und Befunde aus der kritischen Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung (Kapitel 2). Jedoch zeigt sich, wie die Autorinnen festhalten, dass die herangezogenen Debatten die Tendenzen der Verzivilgesellschaftlichung nichterwerbsförmiger Sorgetätigkeiten wie auch den Rückgriff auf gemeinschaftsbasierte Sorgepotenziale entweder de-thematisieren oder aber affirmieren. Die kritische Analyse ebendieser Entwicklungen stellt demzufolge ein auffälliges Forschungsdesiderat dar. „So wichtig diese Impulse [aus der Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung] sind, so sehr bleiben aber Struktur, Ausmaß und Bedeutung gemeinschaftsbasierter, zivilgesellschaftlicher Sorge jenseits von Markt, Staat und Familie bislang konzeptuell unbestimmt und empirisch unterbelichtet“ (S. 25), so van Dyk und Haubner.
Um die damit identifizierte Leerstelle zu schließen, analysieren die Forscherinnen infolge (Kapitel 3) die inhärenten Bedeutungshorizonte und positiven Alltagsbezüge, die dem Gemeinschaftsbegriff zugrunde liegen: wie unter anderem Unmittelbarkeit, Natürlichkeit, Nähe, persönliche Bindung, Solidarität, Harmonie, Homogenität, Interessengleichheit. Zudem rekapitulieren sie in diesem Kontext die „lange Diskursgeschichte der Gemeinschaft als Antipode der modernen kapitalistischen Gesellschaft mit ihren entfremdenden Effekten“ (S. 30). Mit Blick auf die jüngere Vergangenheit diagnostizieren die Autorinnen eine Wiederentdeckung der Gemeinschaft, wobei Gemeinschaft nicht mehr anhand essenzialisierender Bestimmungen, Zwangsförmigkeit und Schicksalhaftigkeit, sondern zunehmend als ein „freiwillig gewähltes Commitment“ (S. 36) wahrgenommen werde. So sei es gerade „diese Form der Gemeinschaft als gewählte Aufgabe, d.h. ihre konsequente De-Naturalisierung und Ent-Essenzialisierung, die erst die Voraussetzung dafür schaff[e], dass sie zum Gegenstand von (politischer) Steuerung und Aktivierung werden“ (S. 36) könne. Diese Verschiebung mache sie hochgradig anschlussfähig an die Prämissen des flexiblen Kapitalismus.
Empirische Befunde aus der Engagementforschung
Neben der theoretischen Einordung und Reflexion veranschaulichen van Dyk und Haubner ihre Diagnose des Community-Kapitalismus anhand empirischer Befunde, die aus einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt zum Thema „Schattenökonomie oder neue Kultur des Helfens? Engagement und Freiwilligenarbeit im Strukturwandel des Wohlfahrtsstaats" hervorgegangen sind. Die veränderten Konnotationen wie auch der damit verbundene Strukturwandel des Ehrenamts werden unter Rückgriff auf zentrale sozialstaatliche Entwicklungsprozesse historisch kontextualisiert (Kapitel 4). Vor diesem Hintergrund ist ersichtlich, inwieweit der Staat als zentrale Triebkraft – mithilfe diskursiver Strategien der Aufwertung, spezifischer Policy-Instrumente wie auch durch eine Politik des Unterlassen – gegenwärtig versucht, „freiwilliges Engagement an (neuen) Erfordernissen in der Daseinsvorsorge und Infrastruktur auszurichten“ (S. 44). Die Erschließung neuer nichtkommodifizierter Räume und potenzieller Trägergruppen erfolge dabei, so die Autorinnen, nicht unmittelbar über Zwang, wie dies beispielsweise im Bereich der Arbeitsmarktpolitik (Stichwort: Hartz IV) üblich ist. Dennoch treibe die staatlich propagierte wie auch in Teilen subventionierte Engagementpolitik die Informalisierung von Arbeit voran, wodurch die Grenzen zwischen formellen und informellen Tätigkeiten zunehmend verwischen. In der Folge käme es in vielen Bereichen zu De-Professionalisierung und Prekarisierung.
Ein Sektor, in dem die Krise der sozialen Reproduktion wie auch die damit verbundene sozialstaatliche Förderung und Indienstnahme informeller Arbeit als Stützpfeiler der sozialen Daseinsvorsorge besonders stark zum Ausdruck kommt, bildet van Dyk und Haubner folgend die Altenpflege (Kapitel 5). Hier zeige sich deutlich, wie und auf welche Weise informelle Hilfen von „sorgende[n] Gemeinschaften“ (S. 59) politisch forciert werde – etwa durch Mobilisierung von (Familien-)Angehörigen, Nachbar*innen, Freund*innen, freiwillig Engagierten, Langzeitarbeitslosen oder migrantischen Arbeitskräften. Aber auch außerhalb des Gesundheits- und Pflegesektors gewinnen, so der Befund, informelle Hilfs- und Unterstützungsstrukturen an Bedeutung: im sozialen Nahraum durch Caring-Community-Modellprojekte, auf digitalen Plattformen und Online-Nachbarschaftsnetzwerken oder letztlich durch unbezahlte Mehrarbeit und Überstunden in der Erwerbsarbeit (Kapitel 6).
Daran anschließend wenden sich van Dyk und Haubner den Schattenseiten gemeinschaftsförmiger Unterstützung und Fürsorge zu (Kapitel 7). Auch wenn sich empirisch „zahlreiche Beispiele unproblematischen Engagements“ (S. 95) finden ließen, dürften die Probleme und Fallstricke nicht unberücksichtigt bleiben. Neben begrenzten Ressourcen und mangelnder Flächendeckung vieler Angebote zeigt sich dies laut den Autorinnen unter anderem an der partikularistischen Ausrichtung und paternalistischen Haltung vieler Freiwilliger. Die Untersuchungen zeigen, dass Freiwillige mitunter „die Sorge für Drogenabhängige, Obdachlose, Alte oder Demenzkranke ab[lehnen], weil diese Gruppen als entweder selbstverschuldet hilfsbedürftig […] oder die Sorge für sie als zu herausfordernd oder schlicht unattraktiv eingestuft wird“ (S. 100). Indem gemeinschaftsförmige Solidarität nicht mehr auf staatlich garantierten sozialen Rechten, sondern überwiegend „auf informellen Reziprozitätserwartungen im Rahmen persönlicher Abhängigkeiten und Sympathien“ (S. 101) beruhe, laufe sie stets Gefahr, scheinbar überkommene Abhängigkeits- wie auch klassenspezifische Ungleichheitsverhältnisse aufrechtzuerhalten.
Während zahlreiche Diagnosen von einer zunehmenden Ökonomisierung des Sozialen sprechen, plädieren van Dyk und Haubner hingegen dafür, den analytischen Blick auf die neuen Grenzziehungen und Verantwortungszuweisungen im Bereich der sozialen Reproduktion zu richten (Kapitel 8). Zentrales Merkmal des Community-Kapitalismus bilde dabei
„ein doppelter – sektor- wie auch subjektoirentierter – Zugriff auf zivilgesellschaftliche Ressourcen […], zum einen durch die Stärkung des sogenannten Dritten Sektors, zum anderen durch die Re-Adressierung der Subjekte im Sinne einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Staat und Bürger*innen“ (S. 113).
Die Akzentuierung von Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit
Der „community turn“ (S. 128) erweise sich als ein umkämpftes Projekt, was ihn letztlich für unterschiedliche Gegenbewegungen anschlussfähig mache (Kapitel 9). So lasse sich, van Dyk und Haubner zufolge, seit einigen Jahren ein Community-Boom ‚von unten‘ beobachten (Schlagworte: Commons, Konvivialismus, Solidarische Ökonomie, Care-Revolution), der auf Teilhabe und Solidarität im Kleinen, den Aufbau neuer sozialer Beziehungen und Fürsorgestrukturen sowie auf neue beziehungsweise alternative Formen des Wirtschaftens setze, sich dabei jedoch häufig auch durch einen ausgeprägten Anti-Etatismus und die Affirmation posttraditionaler Gemeinschaftlichkeit auszeichne. Durch die „eklatanten Mängel von Infrastruktur und Daseinsvorsorge sowie die Schwäche der (stark alternden) Zivilgesellschaft in ländlichen Regionen“ (S. 146) besetzen gelinge es außerdem zusehends rechten Kräften und Akteuren, das Feld der Gemeinschaft zusehends für sich zu besetzen, heißt es weiter.
Der Community-Kapitalismus, so halten van Dyk und Haubner fest (Kapitel 10), entfaltet seine Bedeutung dadurch, dass er dem erkennbaren Drang nach Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit nachkommt und diesen zur „zentralen Ressource der ausbeuterischen Krisenbearbeitung“ (S. 152) emporhebt. Auf diese Weise „gelingt es dem Kapitalismus wieder einmal, sich über seine Kriseneffekte erfolgreich zu reorganisieren“, so die Autorinnen (S. 152). Mehr denn je müsse es perspektivisch also darum gehen, Alternativen und Gegenentwürfe zum Community-Kapitalismus auszuloten, die eben nicht auf die Aktivierung zivilgesellschaftlichen Engagements und Freiwilligenarbeit setzen, sondern darauf abzielen, „die Gestaltung und Verwaltung sozialer Rechte, Infrastruktur und Daseinsvorsorge konsequent [zu] vergesellschaften“ (S. 159).
Mit ihrer Analyse des Community Kapitalismus leisten van Dyk und Haubner einen inhaltlich überzeugenden wie auch nachvollziehbaren Beitrag, mit dem sich die Transformation von Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat wie auch die Krise der sozialen Reproduktion begreifen lassen. Der kritische Blick auf die Wiederentdeckung der Gemeinschaft als zentrale Ressource der Sozialpolitik im flexiblen Kapitalismus bietet somit eine Grundlage nicht nur für weiterführende Forschung, sondern eben auch für notwendige politische Debatten und emanzipatorische Perspektiven in Bezug auf die Frage nach einer „nichtkapitalistischen Tätigkeitsgesellschaft der Zukunft“ (S. 160). In Anbetracht ungebrochener und zumeist unkritischer Lobeshymnen auf zivilgesellschaftliches Engagement und Gemeinsinn liefert das Buch auf anschauliche Weise wichtige Anhaltspunkte für eine zeitgemäße Kapitalismuskritik.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Arbeit / Industrie Care Kapitalismus / Postkapitalismus Sozialpolitik Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
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