Jens Elberfeld | Literaturessay |

Get woke, go broke

Literaturessay zu „Links ist nicht woke“ von Susan Neiman

Abbildung Buchcover Links ist nicht woke von Neiman

Susan Neiman:
Links ist nicht woke
Übersetzt von Christiana Goldmann
Deutschland
Berlin/München 2023: Hanser Berlin
176 S., 22,00 EUR
ISBN 978-3-446-27802-8

Ein junger Mann mit kurzem rotem Haar und Vollbart, abgetragenem T-Shirt und Gitarre vor dem Bauchansatz steht auf einer von Bäumen umrandeten Wiese. Er singt, voller Wut in der Stimme, über schlecht bezahlte Jobs, die grassierende Inflation, Obdachlosigkeit und Menschen, deren Geld nicht ausreicht, um sich satt zu essen. Verantwortlich macht er hierfür die Politiker:innen im fernen Washington, die sich für das Schicksal von Leuten wie ihm nicht interessieren. Das amateurhaft und gerade deshalb authentisch wirkende Musikvideo wurde am 8. August auf YouTube hochgeladen.[1] Drei Wochen später hatten es über 50 Millionen Menschen gesehen. Die Rede ist von Oliver Anthony, einem bis dato unbekannten Country-Folk-Sänger aus Farmville, Virginia, dessen Song „Rich men north of Richmond“ unmittelbar auf Platz 1 der Billboard-Charts schoss. Verstehen lässt sich der Erfolg nur vor dem Hintergrund der erbittert geführten culture wars. So erkoren glühende Trump-Unterstützerinnen wie Marjorie Taylor Greene, Protagonist:innen der AltRight und konservative Medien Anthony zur Stimme jener deplorables, auf die man in liberalen Kreisen herabschaue.[2]

Allerdings beziehen sich auch Stimmen der anderen Seite des politischen Spektrums auf Anthony. So rief der demokratische Senator Chris Murphy alle progressiven Kräfte auf, sich den Song anzuhören und sich vor allem der darin behandelten Probleme anzunehmen, um dies nicht dem politischen Gegner zu überlassen.[3] Damit bedient Murphy einen nicht nur in den USA geführten Diskurs, demzufolge die Linke ureigene Themen nicht mehr anspreche. Statt für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen und Politik für die breite Masse zu machen, konzentriere sie sich auf Minderheitenrechte und das Befinden einer urbanen, akademisch gebildeten Mittelschicht. Indem sie noch dazu dem Rest der Gesellschaft die eigenen Moralmaßstäbe aufzwinge, habe sie große Teile der Bevölkerung einschließlich ihrer Stammwähler:innenschaft vergrätzt und Populist:innen in die Arme getrieben. Dieses Deutungsmuster stellt ein zentrales Argument in den gegenwärtigen Richtungskämpfen linker Parteien und Bewegungen dar. In Deutschland verwenden es lautstark Sahra Wagenknecht und der Mitbegründer ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen“, Bernd Stegemann.[4] Frappierend ist, wie sie und andere dabei – ob gewollt oder nicht – in das Fahrwasser rechter Kulturkämpfer:innen geraten, die gegen denselben Gegner mobilisieren.[5] Letzterer wird seit mehr als zwanzig Jahren mit wechselnden Namen versehen. War es anfangs die „Politische Korrektheit“, traten in den 2010er-Jahren „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“ an ihre Stelle. Aktuell ist es der „Tugendterror der Woken“, gegen den Menschen unterschiedlichster Couleur ins Feld ziehen.

Begriffsklärung und diskursive Funktion

Der Begriff woke stammt aus den USA der 1930er-Jahre, Afroamerikaner:innen bezeichneten mit ihm schon damals Wachsamkeit gegenüber dem fortwährenden Rassismus. Größere Bekanntheit erfuhr er aber erst in Verbindung mit der Black-Lives-Matter-Bewegung. Allgemein beschreibt er ein politisches Bewusstsein für Diskriminierung und soziale Ungleichheit. Mittlerweile ist er auch diesseits des Atlantiks zum politischen Kampfbegriff mutiert, der gesellschaftliche Debatten prägt.[6] Die thematische Bandbreite reicht von geschlechtersensibler Sprache und der Umbenennung von Straßen über kinderbücherlesende Drag-Queens und den Ausbau von Radwegen bis zum Abschneiden der Fußballnationalmannschaft oder dem Menetekel eines Currywurst-Verbots in Kantinen. Bisweilen treibt der anti-woke Kampf bemerkenswerte Blüten, etwa wenn ein Journalist der BILD-Zeitung seinen Job quittiert aus Protest gegen die Tyrannei der sogenannten Woken im Hause Springer.[7] Wer oder was damit gemeint ist, bleibt gerade im deutschsprachigen Raum, wo sich kaum jemand selbst so bezeichnet, unklar.

Mithin handelt es sich bei woke um eine Chimäre, wenn auch um eine politisch wirkmächtige. Zum einen entstehen vermittels gemeinsamer Abgrenzung neuartige und überraschende Koalitionen zwischen Akteuren, die nicht viel gemein haben, etwa wenn sich christliche Fundamentalist:innen zusammen mit überzeugten Differenzfeministinnen gegen die in ihren Augen woke Agenda der queeren Bewegung stellen. Zum anderen dient die Bezeichnung zur Disqualifizierung und Delegitimierung konkurrierender Standpunkte und Sprecher:innengruppen, wodurch sich Grenzen des Sagbaren verschieben und der Raum des Politischen neu vermessen wird. Während rechte Wokeness-Kritik allenthalben als Teil eines Kulturkampfes dechiffriert wird, bleibt die linke Variante davon zumeist ausgespart.[8] Grund genug, sich dem einmal anhand ihrer zurzeit wohl bekanntesten Vertreterin zu widmen.[9]

Aufklärung oder Poststrukturalismus – ist das hier die Frage?

Die US-amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein Forums Susan Neiman hat mit Links ist nicht woke in diesem Sommer eine Streitschrift vorgelegt, die auf breites öffentliches Interesse stößt und fast durchweg positive Reaktionen hervorruft.[10] Im Unterschied zur liberalen, konservativen und rechten Kritik begegnet Neiman woken Aktivist:innen mit Sympathie.[11] Ihr Engagement beruhe auf zutiefst linken Empfindungen wie Empathie mit Ausgegrenzten und Empörung über Ungerechtigkeit. Allerdings orientierten sie sich an Theorien, die ihren Motiven zuwiderliefen und unter deren Joch sie litten, freilich ohne es zu merken. In Anbetracht des weltweiten Rechtsrucks sei das fatal. Daher ruft sie die woke Linke zur Umkehr auf und erinnert an das Scheitern der antifaschistischen Volksfront der 1930er-Jahre (S. 7–17, S. 149–166). In ihrem Buch will sie nun der Frage nachgehen, wie es zu der von ihr kritisierten Entwicklung kommen konnte.

Laut Neiman seien drei aus der Aufklärung stammende Prinzipien kennzeichnend für die Linke gewesen: Universalismus, Gerechtigkeit und Fortschritt, von denen sie jedoch seit den 1970er-Jahren Schritt für Schritt abgerückt wäre. Schuld daran trage Michel Foucault, der „Rattenfänger der Postmoderne“ (Hans-Ulrich Wehler). Sein Denken habe Disziplinen wie die Gender und Post-Colonial Studies nachhaltig geprägt und sei, ausgehend von den Universitäten, tief in unsere Kultur eingedrungen. Darum sei es notwendig, sich damit intensiver zu befassen.

In der Einleitung greift Neiman bereits etliche Themen und Thesen auf, die sie in späteren Kapiteln ausführlicher erörtert (vgl. S. 7–17). Ausgehend von ihrer biografisch beglaubigten Selbstverortung als lebenslange Linke äußert sie ihr Befremden angesichts diverser Phänomene des woken Zeitgeistes. Dazu zählt für sie das umstrittene Geschichtsprojekt „1619“ der New York Times ebenso wie der angeblich allgegenwärtige woke Kapitalismus. Davon ausgehend kontrastiert Neiman eine Linke, die sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufe und entschieden für soziale Gerechtigkeit eintrete, mit einer woken Linken, die sich nur für die eigenen Befindlichkeiten interessiere und bloße Symbolpolitik betreibe. Letzteres führe zur Entfremdung vom Rest der Gesellschaft und markiere einen Bruch mit den Ideen der Aufklärung. Ebendiesen Bruch führt Neiman auf die rechten Wurzeln der heute in der akademischen Linken wie auch bei den woken Aktivist:innen angesagten Theorien in der Nachfolge Foucaults zurück (vgl. S. 14–16).

Die derzeit modische Identitätspolitik bilde das Gegenstück zu ebenjenem linken Universalismus, da ihr ein vormodernes Stammesdenken zugrunde liege, das gleichbedeutend mit dem „Zusammenbruch der Zivilisation“ sei (S. 28).

Kapitel 2 beschäftigt sich zunächst mit dem Universalismus (vgl. S. 18–69).[12] Im lange Zeit unerschütterlichen Bekenntnis zu „internationaler Solidarität“ kommt für Neiman ein Axiom linker Politik zum Ausdruck, nämlich dass gemeinsame Überzeugungen wichtiger seien als geteilte Blutsbande. Die derzeit modische Identitätspolitik bilde das Gegenstück zu ebenjenem linken Universalismus, da ihr ein vormodernes Stammesdenken zugrunde liege, das gleichbedeutend mit dem „Zusammenbruch der Zivilisation“ sei (S. 28).[13] Zudem reduziere Identitätspolitik Menschen auf ihre Ethnie und ihr Geschlecht und verkenne dabei die faktische Vielfalt an Identitäten. Die Konzentration auf Äußerlichkeiten wie Hautfarbe und die damit einhergehende Essenzialisierung entspreche obendrein rechtem Denken.[14] Zwei Gründe führt Neiman für diese Entwicklung an.

Erstens sehe postkoloniale Aufklärungskritik im Universalismus ein Täuschungsmanöver, um Machtverhältnisse zu verschleiern und die koloniale Expansion Europas zu legitimieren. In Wahrheit hätten aber Aufklärer wie Voltaire und Rousseau die Kritik am Eurozentrismus erfunden.[15] Außerdem betont sie, dass es sich bei den aufklärerischen Prinzipien nicht allein um europäische handele. Aufgrund anthropologischer Gemeinsamkeiten gelten elementare Werte für alle, auch wenn sie nicht überall derart elaboriert ausformuliert worden seien wie von den Aufklärungsphilosophen hierzulande.[16] Ausdrücklich beruft sich Neiman dabei auf nichteuropäische Denker, die dem Westen das Recht absprechen, Prinzipien wie Universalismus exklusiv für sich zu reklamieren.[17] Überdies greift sie deren Kritik am Postkolonialismus zustimmend auf, er reduziere die Geschichte nichtwestlicher Gesellschaften fälschlicherweise auf die Epoche des Kolonialismus.

Zweitens habe das Opfer im 20. Jahrhundert den Helden verdrängt und sei zum neuen Subjekt der Geschichte erhoben worden. Dies habe einen Trend zur Selbstviktimisierung in Gang gebracht. Die Aufwertung des Traumas führe jedoch nicht zu sozialem Wandel, sondern zu einer Politik der Selbstdarstellung. Oder mit Neimans Worten: „Was als Empathie begann, schlug geradezu ins Krankhafte um.“ (S. 23)[18] Daran seien die woken Theorien nicht ganz unschuldig. Gerade die Standpunkttheorie ist Neiman ein Dorn im Auge (vgl. S. 59–62). Sie besage, Erkenntnis sei abhängig von der sozialen Stellung und schon der schiere Opferstatus reiche aus, um Autoritätsansprüche zu stellen.

In ihrer Darstellung zeichnet Neiman gleichwohl ein verklärtes Bild der Linken, in dem Ausgrenzung und Stigmatisierung nicht vorkommen. Anstatt die Beschäftigung mit woker Theorie einfach als ideologischen Irrweg abzutun, wäre es meines Erachtens angebracht, selbstkritisch zu fragen, ob nicht die Erfahrung von Rassismus und Sexismus innerhalb der Linken dies evoziert, ja unausweichlich gemacht hat.[19] So entstand das vermeintlich woke Konzept der Intersektionalität nicht zufällig in der Auseinandersetzung Schwarzer Frauen mit der mehrheitlich Weißen Frauenbewegung in den USA der 1970er- und 1980er-Jahre.[20]

Alsdann widmet sich Neiman der Gerechtigkeit und beginnt das dritte Kapitel ganz klassisch mit Platon. Sie erklärt Thrasymachos, der im ersten Buch der Politeia einen Kurzauftritt als sophistischer Kritiker des Sokrates hat, zum Archetyp der akademischen Linken, die im Anschluss an ihren Spiritus Rector Foucault nicht länger zwischen Macht und Gerechtigkeit unterscheide (vgl. S. 70–109).[21] Zwar gesteht sie Foucault zu, Bedeutendes zum Verständnis der Dezentralisierung und Verfeinerung von Machttechniken beigesteuert zu haben. Die Grenzenlosigkeit seines Machtbegriffs habe allerdings eine „Metaphysik der Verdächtigung“ (S. 78) hervorgebracht, die überall Machtverhältnisse erkenne und demaskieren wolle. Der eigentliche Kampf für Gerechtigkeit bleibe darüber auf der Strecke.[22] Noch schlimmer als die anhaltende Begeisterung für Foucault ist in Neimans Augen nur das Interesse vieler Linker an Carl Schmitt, von dessen „ätzende[r] Kritik“ (S. 90) am Liberalismus sie fasziniert wären.

Biologie und postmoderne Theorie teilten, so Neiman, das Hobbes’sche Modell eines Kampfes aller gegen alle, den Moral und Ethik allenfalls notdürftig zu übertünchen in der Lage seien.

Und als sei dies nicht schon schlimm genug, werde die Idee der Gerechtigkeit zusätzlich durch Sozio- und Evolutionsbiologie in die Zange genommen, deren pessimistisches Menschenbild seit den 1980er-Jahren weite Verbreitung gefunden habe. Biologie und postmoderne Theorie teilten, so Neiman, das Hobbes’sche Modell eines Kampfes aller gegen alle, den Moral und Ethik allenfalls notdürftig zu übertünchen in der Lage seien (vgl. S. 94–109). Welche Vorzüge indessen ein foucault’scher Standpunkt haben könnte, der nicht alles als böse, sehr wohl aber als gefährlich betrachtet, diskutiert Neiman nicht ernstlich.[23] Ihr spürbarer Widerwille dürfte auch daher rühren, dass ihr moralphilosophisches Denken schlichtweg nicht vereinbar ist mit der – in der von ihr geschmähten akademischen Linken verbreiteten – politisch-intellektuellen Haltung, die Max Horkheimer folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: „Pessimismus in der Theorie. Optimismus in der Praxis.“[24]

Schließlich konstatiert Neiman in Kapitel 4, der Linken sei die Idee des Fortschritts abhandengekommen. Darunter will sie weder einen naiven Fortschrittsoptimismus verstanden wissen noch eine Reduktion auf technologischen Fortschritt, sondern die Überzeugung, eine Verbesserung der Lebensverhältnisse sei möglich (vgl. S. 110–148).[25] Abermals muss Foucault als Sündenbock herhalten, habe er doch die reaktionäre Botschaft verbreitet, in der Geschichte gebe es so etwas wie Fortschritt nicht, bloß raffiniertere Machtmechanismen. Sein pessimistisches Geschichts- und Menschenbild hänge mit der ausdrücklichen Weigerung zusammen, normative Urteile zu fällen. Laut Neiman könne es aber, bezugnehmend auf Kant, ohne Optimismus kein moralisches Handeln geben, und damit auch keine linke fortschrittliche Politik. Angesichts dessen empfiehlt sie Foucault respektive seinen heutigen Adepten eine „Banalitätskur“ (S. 119). Oder hätte ein Robert-François Damien, der für sein Attentat auf Ludwig XV. verurteilt wurde und dessen grausame Hinrichtung Foucault in Überwachen und Strafen beschrieb, vor die Wahl gestellt etwa nicht das moderne Gefängnis vorgezogen?[26] Banal muten wohl eher solche kontrafaktischen Suggestivfragen an.

Politische Streitschriften, und nichts anderes soll Neimans Buch sein, leben bekanntermaßen von Zuspitzungen und einer gewissen Portion Polemik. Dennoch ist es erstaunlich, wie souverän Neiman den Stab über Foucaults Arbeiten zum Neoliberalismus bricht – in denen sich der Kern seines reaktionären Denkens in aller Deutlichkeit zeige –, ohne auch nur ein Wort über das vielfältige internationale und interdisziplinäre Forschungsfeld der Governmentality Studies zu verlieren, das sich im Anschluss an sie entfaltet hat. Der entscheidende Punkt aber ist hier, dass trotziges Beharren auf der Fortschrittsidee blind zu machen droht für neuere, subtilere Machtmechanismen, auf die nicht zuletzt zeitgeschichtliche Untersuchungen zum Gefängnis und den Folgen der Strafvollzugsreform hinweisen – und zwar mithilfe von Foucaults Konzept der Gouvernementalität.[27]

Im Schlusskapitel wiederholt Neiman die zentrale Aussage ihres Buches, die woke Linke sei selbst „von einer Reihe von Ideologien kolonisiert worden, die eigentlich ins rechte Lager gehören“ (S. 149). Ungeachtet dessen stelle sich mit größter Dringlichkeit die Frage, wie mit der gegenwärtig grassierenden Wut in der Gesellschaft umzugehen sei, deren ‚reales‘ Fundament in der steigenden sozialen Ungleichheit und den prekären Lebensbedingungen von immer mehr Menschen liege. Momentan scheine es politisch nur zwei gleichermaßen schlechte Optionen zu geben: rechter Populismus à la Trump oder woke Identitätspolitik. Demgegenüber erneuert Neiman ihr flammendes Plädoyer für die Prinzipien der Aufklärung, auf die sich die Linke wieder besinnen müsse (vgl. S. 149–166).

Zur Kritik der Kritik

In dreierlei Hinsicht steht Neimans Buch paradigmatisch für die Debatte um Wokeness. Erstens erlebt die Auseinandersetzung um french theory und speziell Foucault eine Renaissance, die nun auch noch Schuld seien sollen am Aufkommen der Woken.[28] Neiman bewegt sich dabei inhaltlich auf dem Stand der 1970er- und 1980er-Jahre, als sich liberale Denker:innen Schulter an Schulter mit Anhänger:innen der Kritischen Theorie und des orthodoxen Marxismus gegen den Siegeszug ‚postmoderner‘ Theorien in den Geistes- und Sozialwissenschaften stemmten.[29] Aus dieser Zeit rührt ebenfalls ihr Vorwurf, es handele sich um reaktionäres Denken, dessen gesellschaftlichen Einfluss sie zwar behauptet, aber nirgendwo empirisch belegt. Stattdessen bedienen selbst Intellektuelle wie Neiman lieber unbesehen antiakademische Ressentiments, wie das einer vermeintlichen Dominanz des Kulturmarxismus an den Universitäten (vgl. u.a. S. 10–17, S. 127–129).[30] Hier zeigt sich die diskursive Funktion des wieder aufflackernden Streits um ‚Theorie‘: ein politisch heterogenes Spektrum zu vereinen.

Zweitens hegen die Kritiker:innen eine Vorliebe für binäre Denkmuster und haben zuweilen ein manichäisches Weltbild. Je nach politischem Standpunkt gilt Woke als Widerspruch zu bürgerlichen Werten, freiheitlich-demokratischer Grundordnung oder den Prinzipien der Aufklärung.[31] Daraus leiten sich weitere „asymmetrische Gegenbegriffe“ (Reinhart Koselleck) ab. Bei Neimans Abrechnung mit Identitätspolitik sind das neben Universalismus/Partikularismus noch modern/vormodern, Zivilisation/Barbarei und Individuum/Kollektiv. Die normativ aufgeladenen Unterscheidungen befördern gleichsam eine strikte Entweder-oder-Logik sowie damit einhergehend einen latenten Bekenntniszwang, den man aus Debatten um das Verhältnis ‚des Westens‘ zum Islam kennt.[32] Einen Standpunkt jenseits solcher Dualismen einzunehmen, kommt ebenso wenig in Betracht wie das alternative Denkmodell eines Sowohl-als-auch. Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Neiman dem ansonsten verteufelten Freund-Feind-Schema anheimfällt.[33]

Nichtintendierte Effekte und Paradoxien finden in Neimans Denken keinen Platz.

Das Denken in Binaritäten ist bei Neiman eng mit einem Geschichtsbild verknüpft, dessen Dreh- und Angelpunkt die Aufklärung ist. Das von ihr gezeichnete Bild resultiert aus der spezifischen Perspektive einer Philosophin, die sich auf Höhenkammliteratur und die Absichten einiger weniger Akteure konzentriert. Empirisch vorzufindende Diskrepanzen zwischen aufklärerischen Ideen und sozialer Wirklichkeit räumt sie argumentativ aus dem Weg, indem sie erstere als Ideale begriffen wissen will. Diese seien per se gut, nur noch nicht verwirklicht worden, womit sie die aufklärerischen Prinzipen gegen grundsätzliche Kritik zu immunisieren sucht. „Dass Jefferson und Kant manchmal Wasser predigten und Wein tranken, ist kein Einwand gegen die Predigt.“ (S. 31)[34] Nichtintendierte Effekte und Paradoxien finden in Neimans Denken keinen Platz. Ein Blick in die Geschichte lehrt anderes, wie sich am Konzept der Menschenwürde demonstrieren lässt, auf das sich Neiman bezieht.[35] Historisch betrachtet ist es nicht zu trennen von der zeitgleich aufgekommenen Frage, wer überhaupt alles ein Mensch ist und für wen das Prinzip wie weit gelten darf. Fragen, die angesichts des weltweiten Umgangs mit Geflüchteten offenkundig nicht an Aktualität eingebüßt haben.[36] Denn anders als Neiman nahelegt, sind Ambivalenzen und Widersprüche konstitutiv sowohl für moderne Gesellschaften als auch für die Aufklärung.[37]

Drittens stützt sich gerade die linke Wokeness-Kritik auf eine wertende Gegenüberstellung zweier Varianten von Politik. Demnach betrieben Woke bloße Symbolpolitik, die allein um Fragen der Identität kreise und insofern nur bestimmte Gruppen adressiere. Dies wird mit einer Politik konfrontiert, die sich den wirklich wichtigen Dingen annehme – womit in der Regel ökonomische Belange und Fragen sozialer Ungleichheit gemeint sind – und sich für das Wohl aller einsetze. Die Unterscheidung an sich ist keineswegs neu. Man findet sie sowohl in früheren politischen Debatten, wie der Rede von Haupt- und Nebenwiderspruch um und ab 1968, der Kritik an der sogenannten Pop- oder Differenzlinken der 1990er-Jahre oder Gerhard Schröders berüchtigten Verdikt über „das ganze Gedöns“. Sie taucht auch in der Wissenschaft auf, etwa in der Kontroverse zwischen Sozial- und Kulturgeschichte. Neiman nimmt eine solche Hierarchisierung politischer Themen und Problemlagen ebenfalls vor, wenn sie sich über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache mokiert oder darüber, dass Aktivist:innen ihre Pronomen ändern würden: Sei nur noch das Persönliche politisch, habe man alle Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel fahren lassen (vgl. S. 162 f.). Dabei ist es gerade ein in solchen Konflikten aufscheinendes „Unvernehmen“ (Jacques Rancière), in dem man das Wesen des Politischen sehen kann. Ferner hat Jürgen Martschukat jüngst darauf hingewiesen, das es bei Identitätspolitik um wesentlich mehr als Symbolik und Befindlichkeiten geht, nämlich um gesellschaftliche Teilhabe und existenzielle Bedürfnisse.[38]

Mitnichten soll das bedeuten, man könne oder dürfe sich der Thematik nicht kritisch annehmen.[39] Eine Art Gegenentwurf zu Neimans Schrift stellt die Studie des Tübinger Erziehungswissenschaftlers Markus Rieger-Ladich zum Privileg dar, die weder in plumpe Kritik verfällt noch die von woker Seite benannten Missstände von vornherein nicht ernst nimmt.[40] Stattdessen arbeitet Rieger-Ladich die inhärenten Widersprüche und ambivalenten Effekte des Konzepts heraus und schafft es so, den Raum für eine konstruktive Diskussion zu öffnen. Einen wichtigen Beitrag könnte dazu die Zeitgeschichte liefern, beispielsweise indem sie den Opferdiskurs historisiert oder die Aneignung psychotherapeutischer Konzepte wie dem des Traumas analysiert.[41] Politisch fällt auf, dass die linken Kritiker:innen mit viel Verve den woken Aktivismus bekämpfen. Umso lauter dröhnt ihr Schweigen, wenn es um konkrete Vorschläge für eine alternative Politik geht. Bei Neiman lassen sich diese darauf reduzieren, wieder mehr Aufklärungsphilosophie zu lesen. Vielleicht sollte man sich dann doch lieber an den britischen Musiker Billy Bragg halten, der Oliver Anthonys Song umtextete, nachdem er dessen Video gesehen hatte: „We know your culture wars are there to distract / While libertarian billionaires avoid paying tax […] If you’re selling your soul, working all day / Overtime hours for bullshit pay / Join a union“.[42]

  1. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=sqSA-SY5Hro [11.10.2023].
  2. Der Song legt eine Interpretation als right-wing anthem stellenweise durchaus nahe. So beklagt Anthony überbordende Steuern, nicht die ungleiche Verteilung des Reichtums oder der Produktionsmittel. Statt den Ausbau von Sozialleistungen zu fordern, greift er das seit der Reagan-Ära beliebte Zerrbild eines Missbrauchs des Wohlfahrtssystems durch Afroamerikaner:innen auf. Ebenso finden sich Anklänge an Verschwörungserzählungen, wie Q-Anon. Schließlich gibt Anthonys Inszenierung als hart arbeitender, auf dem Land lebender weißer blue-collar worker aus dem Süden die perfekte Verkörperung jenes Amerikas ab, das für sich selbst reklamiert, die schweigende Mehrheit darzustellen, die von den Eliten an Ost- und Westküste vergessen worden sei. Vgl. Norbert Finzsch, Gouvernementalität, der Moynihan-Report und die Welfare Queen im Cadillac, in: Jürgen Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt am Main / New York 2002, S. 252–277; Till Kössler, QAnon, Kinderschändung und die Geschichte des Kinderschutzes [11.10.2023], in: Geschichte der Gegenwart, 2.5.2021.
  3. Vgl. Chris Murphy, What We Can Learn from Rich Men North of Richmond [11.10.2023], in: Chris Murphy’s Substack, 25.8.2023.
  4. Vgl. Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gerechtigkeit und Gemeinsinn, Frankfurt am Main / New York 2021; Bernd Stegemann, Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik, Berlin 2018. Einen ähnlichen Ton schlägt auch der ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck an.
  5. Dieser performative Effekt, der zur Perpetuierung eines im Kern rechten politischen Diskurses beiträgt, wird von den Autor:innen kaum einmal selbstkritisch reflektiert, auch nicht von Neiman.
  6. Über das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit haben die Debatten mittlerweile auch die Sozial- und Kulturwissenschaften selbst erreicht. Vgl. Ulrike Ackermann, Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt, Darmstadt 2022.
  7. Vgl. Ben Krischke, „Ich bin nicht bereit, für eine politische Bewegung und unter ihrer Flagge zu arbeiten“ [22.9.2023], in: Cicero. Magazin für politische Kultur, 11.8.2022.
  8. Vgl. Catherine Liu, Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät, übers. von Sarah Hauck, Frankfurt am Main 2023; Jan Feddersen / Philipp Gessler, Kampf der Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale, Berlin 2020.
  9. Nicht minder interessant dürfte es sein, zu erörtern, warum überhaupt so viele Bücher zu dem Thema auf den Markt kommen und wie sich die offensichtlich noch nicht gestillte Nachfrage erklären lässt, obwohl die diversen Publikationen doch immer nur dieselben Argumente wiederkäuen. Ein Grund könnte in ihrer Funktion liegen, politische Selbstvergewisserung und situative Vergemeinschaftung (etwa bei Lesungen) zu ermöglichen, denn für gewöhnlich handelt es sich bei Wokeness-Kritik um preaching to the converted.
  10. Inhaltlich greift Neiman viele Motive auf, die sie bereits früher diskutiert hat. Vgl. v.a. dies., Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten, übers. von Christiana Goldmann, Hamburg 2010.
  11. Liberale und Konservative sehen in Wokeness ein antiaufklärerisches, bisweilen extremistisches Projekt, in dem sich das totalitäre Erbe der Linken zeige. Vgl. Alexander Grau, Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung, München 2017; René Pfister, Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, München 2022.
  12. Viele Argumente des Buches und vor allem dieses Kapitels erinnern an Neimans Doktorvater John Rawls, dessen Gerechtigkeitstheorie in den 1990er-Jahren im Zentrum der Debatten um Kommunitarismus, Multikulturalismus und Fragen der Anerkennung stand. Vgl. hierzu das Soziopolis-Dossier Der realistische Utopist [11.10.2023].
  13. Auffällig ist, dass Neiman weder ein Konzept wie das des „strategischen Essentialismus“ (Gayatri Chakravorty Spivak) diskutiert noch ernsthaft der Frage nachgeht, ob nicht auch partikulare Kämpfe um Anerkennung mit Universalismus vereinbar sein können, wenn sie eine Inklusion bislang exkludierter Gruppen ermöglichen, wie zum Beispiel im Fall der Ersten Frauenbewegung.
  14. Als Beispiel für den rechten Charakter von Identitätspolitik nennt sie Benjamin Netanjahu und dessen Regierungskoalition (vgl. S. 27).
  15. Die heute zu Recht kritisierte Ideologie des Kolonialismus sei erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden und zwar infolge des Bedeutungsverlustes der Aufklärungsphilosophie (vgl. S. 55).
  16. So würden Mitgefühl und Schmerz zwei universale Empfindungen des Menschen darstellen, wie Neiman mit Bezug auf Rousseau ausführt (vgl. S. 30–32).
  17. Statt diesen würde man aber aus einem postkolonial induzierten schlechten Gewissen lieber tribalistischen Stimmen des Globalen Südens Gehör schenken (vgl. S. 62–65).
  18. Gegen Ende des nachfolgenden Kapitels plädiert Neiman demgemäß für eine Rehabilitierung des Helden in unserem postheroischen Zeitalter, was auch Thema ihres für 2025 angekündigten nächsten Buches sei.
  19. So zeigte sich beim „wilden Streik“ in Köln 1973 der Rassismus unter Arbeiter:innen und in den Gewerkschaften. Vgl. Jörg Huwer, „Gastarbeiter“ im Streik. Die Arbeitsniederlegung bei Ford Köln im August 1973, Köln 2013; Francesca Barp, Auf eigene Faust. 50 Jahre Streiksommer 1973 [11.10.2023], in: Soziopolis, 11.9.2023.
  20. Vgl. Keeanga-Yamahtta Taylor (Hg.), How We Get Free. Black Feminism and the Combahee River Collective, Chicago, IL 2017.
  21. Die Absage an die Idee der Gerechtigkeit gehe ferner einher mit einer „Verachtung der Vernunft“, wobei sie munter Foucault mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie mit Martin Heidegger in einen Topf wirft (vgl. S. 80).
  22. Mitnichten muss aus diesem Denken Nihilismus oder Apathie erwachsen, wie Neiman suggeriert. So finden sich unter den von ihr scharf angegangenen Theoretiker:innen sowohl welche, die sich wie Judith Butler oder Jean-Luc Nancy intensiv mit Fragen der Ethik beschäftigt haben, als auch solche, die sich wie die Althusser-Schüler Étienne Balibar, Alain Badiou und Jacques Rancière politisch engagierten.
  23. Vgl. Michel Foucault, Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit, in: ders., Schriften, Bd. IV: 1980–1988, hrsg. von Daniel Defert / François Ewald, übers. von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Horst Brühmann, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2005, S. 461–498, insbes. S. 465. Ganz abgesehen davon, dass Neiman hier einem vertrauten Missverständnis aufsitzt, wenn sie den foucault’schen Machtbegriff vornehmlich repressiv und nicht in seiner Produktivität denkt.
  24. Max Horkheimer, Pessimismus in der Theorie. Optimismus in der Praxis, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 14: Nachgelassene Schriften 1949–1972, Frankfurt am Main 1988, S. 337. Foucault spricht in einem ähnlichen Sinn von „pessimistische[m] Hyper-Aktivismus“. Vgl. Foucault, Zur Genealogie der Ethik, S. 465. Ebenso unvereinbar scheint Neimans Denken überdies mit neueren politiktheoretischen Ansätzen des Post-Foundationalism, die sie mit keiner Silbe erwähnt.
  25. Im Anschluss bringt Neiman diverse Beispiele für tatsächlichen Fortschritt im 20. Jahrhundert, wozu sie unter anderem die Aufhebung der sogenannten Rassentrennung in den USA zählt oder die ihrer Ansicht nach erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung der Bundesrepublik. Letzterer hat Neiman ein eigenes Buch gewidmet. Vgl. dies., Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können, übers. von Christiana Goldmann, Berlin 2020.
  26. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1994, S. 9–12.
  27. Vgl. u.a. Marcel Streng, „Sozialtherapie ist eine Therapie die sozial macht“. Therapeutisierungsprozesse im westdeutschen Strafvollzug der langen 1970er Jahre, in: Sabine Maasen / Jens Elberfeld / Pascal Eitler / Maik Tändler (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ‚langen‘ Siebzigern, Bielefeld 2011, S. 265–290.
  28. Vgl. James Lindsay / Helen Pluckrose, Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt, übers. von Sabine Reinhardus und Helmut Dierlamm, München 2022. Just in diesen Tagen erscheint zudem ein neues Buch von Yascha Mounk, das sich ebenfalls in diesen Diskurs einreiht. Vgl. ders., The Identity Trap. A Story of Ideas and Power in Our Time, London 2023. Die deutsche Ausgabe folgt voraussichtlich Anfang 2024: ders., Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee, übers. von Sabine Reinhardus und Helmut Dierlamm (im Erscheinen). Zur erneuten Debatte um Foucault vgl. auch Phillip Sarasin, Feindbild Foucault [11.10.2023], in: Zeit online, 19.9.2023.
  29. Neiman bezieht sich primär auf eine TV-Diskussion zwischen Foucault und Noam Chomsky von 1971 sowie auf Michael Walzers Kritik von 1983.
  30. So ‚belegt‘ sie zum Beispiel das an US-Universitäten angeblich obligatorische enlightenment-bashing mit der Geschichte einer jungen Frau, der laut eigenem Bekunden während ihres Studiums ein verzerrtes und einseitiges Bild der Aufklärung vermittelt worden sei (vgl. S. 41 f. und bes. S. 129).
  31. Vgl. Alexander Marguier / Ben Krischke (Hg.), Die Wokeness-Illusion. Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet, Freiburg/Basel/Wien 2023; Julian Nida-Rümelin, „Cancel Culture“ – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken, München 2023.
  32. Bei Neiman zeigt sich dies vor allem darin, grundsätzliche Kritik an aufklärerischen Konzepten wie Universalismus oder Vernunft umgehend in das reaktionäre Lager der Gegenaufklärung zu verbannen. Ferner bedient sie sich apodiktischer Aussagen wie: „Die Realität von Fortschritt zu verneinen, heißt, die Wirklichkeit zu verneinen [...].“ (S. 146), und appellativer Ansprachen wie „Wollen Sie den Universalismus fallenlassen, weil er zur Verschleierung von Einzelinteressen missbraucht wurde?“ (S. 164). Neiman garniert solche Formulierungen mit dem penetranten Hinweis, anderenfalls rechte Positionen zu übernehmen oder ihnen zumindest zuzuarbeiten (vgl. S. 164 f.).
  33. Zu Neimans Kritik an Schmitts Theorie des Politischen vgl. S. 85–94.
  34. An anderer Stelle relativiert sie einzelne rassistische Äußerungen oder bringt als letztes Argument an, auch die Aufklärer seien nun mal Kinder ihrer Zeit gewesen (vgl. S. 57).
  35. Vgl. Habbo Knoch, Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte, München 2023. Selbiges gilt auch für die Menschenrechte, die zunächst exklusiv für männliche, bürgerliche und weiße Menschen galten, wovon die Schicksale einer Olympe de Gouges oder eines Toussaint Louverture beredtes Zeugnis ablegen.
  36. Als philosophischen Gegenentwurf vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt am Main 2002.
  37. Punktuell ist Neiman sehr wohl dazu bereit, Widersprüche anzuerkennen, etwa hinsichtlich der Geschichte der USA (vgl. S. 142). Allerdings kommt ihr nicht in den Sinn, daraus umfassende Konsequenzen für ihr Denken zu ziehen.
  38. Vgl. Jürgen Martschukat: „America’s original identity politics.“ Über historische Verflechtungen von Eigentum, „race“ und Identitätspolitik [11.10.2023], in: Geschichte der Gegenwart, 15.2.2023.
  39. Vgl. dagegen Jens Balzer, Ethik der Appropriation. Über kulturelle Aneignung, Berlin 2022; Saba-Nur Cheema / Meron Mendel / Eva Berendsen (Hg.), Triggerwarnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen, Berlin 2019; Massimo Perinelli, Triggerwarnung! Critical Whiteness und das Ende der antirassistischen Bewegung, in: Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität (2015), 51, S. 5–9.
  40. Vgl. Markus Rieger-Ladich, Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument, Stuttgart 2022.
  41. Vgl. Svenja Goltermann, Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne, Frankfurt am Main 2017, insbes. S. 171–244.
  42. Bragg sei der Geist Woody Guthries erschienen, dem Ahnherrn einer linken Folkmusik aus der Zeit der Great Depression, und habe ihm ins Ohr geflüstert, er solle Anthony helfen. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=qGNFR7pgxDY [11.10.2023].

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Kolonialismus / Postkolonialismus Macht Moderne / Postmoderne Philosophie Politik Rassismus / Diskriminierung Universität

Jens Elberfeld

Dr. Jens Elberfeld ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische Erziehungswissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der (Wissens-)Geschichte der Therapeutisierung, der Körper- und Sexualitätsgeschichte sowie der Genealogie des Selbst.

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