Stefan Kühl | Essay |

Gewalt in Menschenansammlungen

Zu den sexuellen Übergriffen während der Silvesternacht

Nach[1] den massiven sexuellen Übergriffen auf der Kölner Domplatte während der Silvesternacht hatte Bundesjustizminister Heiko Maas schnell eine Erklärung parat. Er sprach von einer „völlig neuen Dimension organisierter Kriminalität“.[2] Die Aussage des SPD-Politikers ist charakteristisch für ein fast reflexartiges Reaktionsmuster, das sich immer dann beobachten lässt, wenn es zu Gewaltdelikten durch eine Vielzahl von Personen kommt. In modernen Staaten mit einem funktionierenden Polizeiapparat und einem intakten Justizsystem sind solche Vorfälle eher selten. Umso größer ist nicht nur die öffentliche Empörung, sondern auch das Erklärungsbedürfnis, wenn plötzlich Hunderte von Personen gegen Gesetze verstoßen, indem sie andere verprügeln, sexuell nötigen oder ausrauben. Der Verdacht eines organisierten Vorgehens mag da – insbesondere für Politiker unter Rechtfertigungsdruck – nahe liegen. Aber wer diesen Verdacht äußert, bietet eine Erklärung an, die geeignet ist, mehr Fragen hervorzurufen, als sie beantworten kann: Wer, so wäre etwa mit Blick auf die Kölner Vorfälle zu fragen, soll die Diebstähle und Übergriffe organisiert haben? Wann und wo haben die Planungen dafür stattgefunden? Und wie sollen die Übergriffe in Köln mit denen in Stuttgart, Düsseldorf oder Hamburg koordiniert worden sein?

Das Phänomen der Massengewalt

Es gibt einen konkurrierenden Ansatz, der das Auftreten solcher kollektiven Gewalthandlungen erklären kann, ohne dahinter gleich das planmäßige oder koordinierte Vorgehen einer kriminellen Organisation oder anderer Akteure zu vermuten. Der französische Sozialpsychologe Gustave Le Bon hat darauf hingewiesen, dass sich in größeren Menschenansammlungen eine Eigendynamik entwickeln kann, aus der heraus es zu vielfältigen Formen von Übergriffen kommen kann.[3] Demzufolge werden die einzelnen Personen von der in der Masse entstehenden Dynamik förmlich mitgerissen, ja, sie scheinen sich in einem nahezu rauschartigen Zustand zu befinden.

Nun führen Massenansammlungen von Personen nicht automatisch zu Gewaltexzessen. Die meisten Rockkonzerte, Demonstrationen oder Volksfeste verlaufen, abgesehen von einzelnen isolierten Schlägereien oder sexuellen Übergriffen, gewaltfrei. Es gibt aber – darauf hat der Baseler Soziologe Axel T. Paul in einer neueren Arbeit[4] aufmerksam gemacht – in Menschenmengen Mechanismen, die Gewaltanwendung befördern. Massen seien mit Emotionen wie Angst, Anspannung, Verachtung und Wut aufgeladen, die sich in Gewaltakten entladen können. Die „Aufhebung der Normalität in der Masse“ verleite die Gewalttäter dazu, einem ersten erfolgreichen, das heißt nicht geahndeten Verstoß weitere folgen zu lassen.[5] In der Masse sei vieles möglich, was sonst verboten ist. In einer solchen besonderen Situation bildeten sich Normen, die von allen anwesenden Personen gestützt zu werden scheinen.

Die Besonderheit von Massen besteht demnach offenbar darin, dass sich Personen erst in der Situation vor Ort von der „physischen Anziehungskraft“ solcher negativen Emotionen mitreißen lassen. Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, der auch eine einsichtsvolle Studie über das Verhalten von Massen geschrieben hat,[6] berichtet in seinen Erinnerungen, wie er selbst bei Arbeiterdemonstrationen nach dem Ersten Weltkrieg „zu einem Teil der Masse“ wurde, „vollkommen in ihr aufging“ und „nicht den leisesten Widerstand“ gegen das verspürte, was die Masse unternahm.[7]

In der aktuellen Diskussion um die Ereignisse der Kölner Silvesternacht führt die Beschränkung auf bestimmte Merkmale der Tätergruppe – Migrationshintergrund, nordafrikanische Herkunft, männliches Geschlecht, jugendliches Alter, großer Alkoholkonsum – zu einer mangelnden Berücksichtigung des Umstands, dass sich solche Gewaltdelikte in sehr unterschiedlichen Situationen ausbilden können.[8] So weisen etwa die Pogrome gegen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Anfang der 1990er-Jahre, die mit Plünderungen verbundenen Rassenunruhen in Los Angeles 1992, die Ausschreitungen in französischen Banlieues im Jahr 2005, die Jugendkrawalle in London und anderen englischen Städten von 2011, die alljährlich wiederkehrenden Krawalle zum 1. Mai in Berlin und Hamburg oder spontane Massenschlägereien von Fußballfans mit der Polizei sehr ähnliche Muster auf.[9]

Die fehlende Kontrolle der Masse

Weil solche kollektiven Gewalthandlungen in einem etablierten und stabilisierten Rechtsstaat selten vorkommen, ist die öffentliche Bestürzung, wenn sich derartige Vorfälle dann tatsächlich ereignen, besonders groß. Vor der Durchsetzung der modernen Staatlichkeit waren aus der Masse heraus verübte Gewaltdelikte im Rahmen von Volksfesten, Demonstrationen oder Hinrichtungen auch in Europa eher die Regel als die Ausnahme. In einigen afrikanischen Großstädten und in lateinamerikanischen Favelas kommen solche gewalttätigen Ausschreitungen – zum Beispiel in Form von Lynchjustiz oder Übergriffen gegen ethnisch definierte Bevölkerungsgruppen – häufiger vor, zumal wenn die Exekutive des Staates oder anderer Ordnungsgaranten, die mitunter auch bewaffnete Banden oder Mafiaorganisationen sein können, in einem Gebiet erodiert. Auch in Kriegssituationen kommt es infolge des Zusammenbruchs der staatlichen Exekutive immer wieder zu Massenvergewaltigungen von Frauen, zu Massakern an der Zivilbevölkerung oder zum Lynchen von Kriegsgefangenen. In Deutschland aber waren solche von Menschenmengen verübten Gewaltakte – jedenfalls in den letzten Jahrzehnten – eine eher seltene Ausnahme.

Derartige kollektive Gewalthandlungen ereignen sich offenbar nur dann, wenn es bei Massenveranstaltungen ein kleines Zeitfenster gibt, in dem eine größere Gruppe von Menschen den Eindruck gewinnt, dass die staatlichen Organe Recht und Ordnung nicht durchsetzen können. Das Gemeinsame der Übergriffe in Köln, der Rassenunruhen in Los Angeles und der Pogrome gegen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda besteht somit darin, dass es bei all diesen Ereignissen einen Punkt gegeben hat, an dem die allgemeine Stimmung kippte, weil die Masse der Anwesenden realisierte, dass Gewalttaten nicht unmittelbar unterbunden und geahndet werden würden. Insofern wird verständlich, warum solche Gewaltausbrüche – anders als zum Beispiel Mafiamorde, Wirtshausschlägereien oder Vergewaltigungen in der Ehe – immer mit einem Versagen der Polizei zu tun haben.

Die Bedeutung von Kleingruppen in Massen

Auffällig ist, dass solche sich aus der Masse heraus ereignenden Gewalttaten in den meisten Fällen nicht von langer Hand geplant sind. Aber ein Punkt darf nicht übersehen werden: Es gibt auch bei Massenansammlungen Personen, die schon über Gewalterfahrungen aus vergleichbaren Situationen verfügen. Nicht selten reisen betreffende Personengruppen – etwa bei Fußballspielen oder Demonstrationen – nur deswegen zu bestimmten Ereignissen an, weil sie sich Gelegenheit zur Gewaltausübung erhoffen. Ebenso lassen sich innerhalb von Massen Verdichtungen zu Kleingruppen beobachten, die sich gegenseitig in der Gewaltausübung bestärken.[10]

Aus dem Bericht des nordrhein-westfälischen Innenministeriums, der eine Aufschlüsselung der beobachteten und gemeldeten Straftaten auf der Kölner Domplatte und vor dem Kölner Hauptbahnhof enthält, kann man das Ausmaß und die Bedeutung solcher aus kleineren Gruppierungen heraus begangenen Straftaten erschließen.[11] Dem sich abzeichnenden Muster zufolge scheinen Frauen insbesondere durch Gruppen von augenscheinlich aus Nordafrika stammenden Jugendlichen bedrängt und dabei sowohl sexuell belästigt als auch beraubt worden zu sein. Das Muster legt den Schluss nahe, dass sich die Personen nicht erst auf der Domplatte spontan zu Straftaten zusammengefunden haben, sondern dass die Straftaten von Gruppen angezettelt wurden, deren Mitglieder sich schon vorher kannten.

In diesem Zusammenhang spielt auch die Verdichtung von Vorurteilen im Vorfeld der Übergriffe in der Silvesternacht eine zentrale Rolle. Wir wissen inzwischen, wie ungenau die Beschreibungen sind, die die Herkunft der Täter vage auf den arabischen und nordafrikanischen Raum zurechnet. Aus der Perspektive eines wenig weltkundigen Mitteleuropäers mögen vielleicht alle aus den Staaten des nördlichen Afrikas stammenden Menschen weitgehend ähnlich aussehen, aber inzwischen scheint sich abzuzeichnen, dass eine große Zahl der jugendlichen Täter aus Algerien und Marokko kommt.[12] Soweit wir bis jetzt wissen, besaßen die betreffenden Jugendlichen in ihren Heimatländern keine ökonomischen Mittel, geschweige denn Perspektiven, weshalb sie sich – in der Regel allein und ohne Familienangehörige – auf den Weg nach Europa gemacht haben, um dann feststellen zu müssen, dass sie hier wohl nicht werden bleiben können, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass ihre Asylanträge ‒ anders als bei Syrern oder Irakern ‒ abgelehnt werden.

Die undifferenzierte, aber medial schnell verbreitete Beschreibung der Täter als Flüchtlinge oder Asylbewerber kaschiert, dass die aus dem Maghreb stammenden Gruppen von Kleinkriminellen mit einer aus Syrien geflohenen Familie ungefähr so viel zu tun haben wie eine Bande sächsischer Krimineller mit einer gutsituierten Münchner Kleinfamilie. Zwar konnte es nur in der Masse zu den Gewalttaten von Köln kommen. Aber die Art und Weise der Gewaltausübung deutet – jedenfalls nach den vorliegenden Erkenntnissen – auf eine in bestimmten Milieus maghrebinischer Jugendlicher eingeübte Form der Kleinkriminalität als maßgeblich ausschlaggebende Ursache hin.[13] Die Tatsache, dass das in der Silvesternacht vorherrschende Gewaltmuster aus Belästigung und Raub schon vorher in anderen Städten wie Duisburg, Düsseldorf oder Köln in kleinen Gruppen eingeübt wurde, macht erklärbar, weswegen aus der Masse heraus nicht der Kölner Domschatz geplündert wurde, sondern in einer Vielzahl einzelner Straftaten Frauen sexuell bedrängt und ausgeraubt wurden.

  1. Dieser Artikel ist aus einem Werkstattgespräch an der Universität Bielefeld zur Gewalt während der Silvesternacht hervorgegangen. Jede Analyse zum jetzigen Zeitpunkt leidet grundsätzlich darunter, dass bisher nur begrenzte Informationen über die Täter und die Taten vorliegen. Der Bericht der Kölner Polizei für die Sondersitzung des Innenausschusses des nordrhein-westfälischen Landtags am 11. Januar 2016 erlaubt es aber immerhin, erste Erklärungsansätze auszuarbeiten. Diese können dann durch weitere Erkenntnisse präzisiert oder modifiziert werden. Für den ausführlichsten öffentlich zugänglichen Bericht siehe Ralf Jäger, Bericht des Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Übergriffe am Hauptbahnhof Köln in der Silvesternacht. Bericht für die Sondersitzung des Innenausschusses am 11. Januar 2016, Düsseldorf.
  2. Maas: Neue Form organisierter Kriminalität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Januar 2016.
  3. Vgl. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, Leipzig 1908.
  4. Vgl. Axel T. Paul, Masse und Gewalt, in: ders./Benjamin Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg 2015, S. 19–62.
  5. Ebd., S. 58.
  6. Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960.
  7. Vgl. ders., Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931, Frankfurt am Main 1982, hier zitiert nach: Paul, Masse und Gewalt, S. 21–22.
  8. Zu den Zurechnungsfragen in Bezug auf die Täter von Köln siehe Barbara Kuchler, Kölner Kurzschlüsse, in: Soziopolis.
  9. Siehe dazu u.a. die Fallstudien von Jack Katz, Epiphanie der Unsichtbarkeit. Wendepunkte bei Unruhen: Los Angeles 1992, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. 63–102; Thomas Klatetzki, "Hang 'em high". Der Lynchmob als temporäre Organisation, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. 147–172; und Ferdinand Sutterlüty, Kollektive Gewalt und urbane Riots. Was erklärt die Situation?, in: Paul/Schwalb (Hrsg.), Gewaltmassen, S. 231–256.
  10. Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich ein Teil der Empirie interpretieren mit Randall Collins, Violence. A Micro-Sociological Theory, Oxford 2008.
  11. Siehe Jäger, Bericht des Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Übergriffe am Hauptbahnhof Köln in der Silvesternacht.
  12. Siehe dazu u.a. Christoph Ehrhardt / Julia Schaaf, Hatten die Taten System?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Januar 2016.
  13. Zur nordafrikanischen Herkunft eines großen Teils der Täter vgl. bereits die frühen Aussagen des nordrhein-westfälischen Innenministers Ralf Jäger gegenüber dem Kölner Express vom 4. Januar 2016. Diese Einschätzung wurde durch die bislang vorliegenden Ergebnisse bestätigt.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Gewalt

Stefan Kühl

Professor Dr. Stefan Kühl ist Soziologe und Historiker. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für Unternehmen, Verwaltungen, Ministerien und Nichtregierungsorganisationen.

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