Markus Holzinger | Rezension | 12.06.2018
Globalisierung war gestern
Bruno Latour hat da mal wieder was Neues im Angebot

Bereits vor einigen Jahrzehnten hat Bruno Latours Schrift „Wir sind nie modern gewesen“ für Aufsehen gesorgt. Das in Deutschland Mitte der 90er-Jahre erschienene, vergleichsweise schmale Buch lieferte eine Art Abrechnung mit der Epoche der Moderne. Insbesondere ging es Latour darum, sich mit gängigen Selbstbeschreibungen, also mit prominenten Theorien der Moderne, auseinanderzusetzen.[1] Die Moderne, so seine Grundthese, habe sich die Emanzipation der Gattung durch Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben. Eine technologisch avancierte Zivilisation sollte in der Absicht errichtet werden, Not und Mühsal abzuschaffen, folglich inneren wie äußeren Zwang endlich zu überwinden. Doch weit davon entfernt, dem Reich der Freiheit die Bahn zu brechen, habe die Moderne – hier überschnitten sich Latours Überlegungen mit Ulrich Becks Thesen zur „reflexiven Moderne“ – eine „Risikogesellschaft“ hervorgebracht, die im Gesamt ihrer Folgen und Nebenfolgen eine gravierende Störung des ökologischen Gleichgewichts verursache.
Was die Moderne Latour zufolge auszeichnet, ist eine strikte Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft. Tatsächlich ist es diese Differenzierung und die mit ihr behauptete Diskontinuität, die sich in den Selbstbeschreibungen der Moderne zu einem Dualismus verdichtet hat, der die Epoche als Ganze fundiert. Modern sein hieß und heißt, Natur von Gesellschaft zu trennen und der so definierten Gesellschaft die Aufgabe zuweisen, diese Natur wenn nicht zu überwinden, so doch zu bezwingen. Faktisch haben sich die Protagonisten des Modernisierungsprozesses allerdings, wie Latour zu zeigen versucht, im Gegensatz und Widerspruch zur eigenen Programmatik, mit einer Epi-Natur aus Nebenfolgen umstellt, die – zunehmend unverfügbar – allen Versuchen gesellschaftlicher Kontrolle trotzten. Die zu dominierende Natur widersetzt sich ihrer Beherrschung.
Gerade weil die Modernen nie wirklich modern gewesen seien, haben sie ein lineares, das heißt, unreflektiertes Modernisierungsgeschehen ausgelöst. In den gegenwärtigen Gesellschaften schlägt sich diese Entwicklung als das weit verbreitete Bewusstsein unabsehbarer Risiken nieder, denen nicht mehr beizukommen sei. Immer neue Materialien, Technologien, Ereignisse und Konstellationen offenbaren sich in ihrer Riskanz, immer mehr Neben-, Zweit- und Drittwirkungen treten als Ausflüsse linearer Modernisierung an die Oberfläche. So rückt die Erde im Zeitalter des Anthropozäns in den Mittelpunkt des Geschehens und seiner interpretativen Bearbeitungen.
Latours neue, zuweilen recht sprunghafte Veröffentlichung Das terrestrische Manifest ließe sich als eine Fortsetzung des Buches von 1991 verstehen.[2] Wiederum ist es der Modernisierungsdiskurs, den Latour einer harschen Kritik unterzieht. Konnte man „den Horizont der Globalisierung bis in die neunziger Jahre hinein noch mit den Vorstellungen von Fortschritt, Emanzipation, Reichtum, Komfort, sogar Luxus und nicht zuletzt Rationalität verbinden“ (S. 28 f.), so ist angesichts der heutigen Weltlage von derartigen Versprechen und Aussichten nichts übrig geblieben: „Die beste aller Welten ist zur schlechtesten mutiert.“ (S. 29) Die Akteure an der „Modernisierungsfront“ (S. 23), so Latour, hätten bereits in den 90er-Jahren die Entscheidung gefällt, „sich schleunigst von der gesamten Last der Solidarität zu befreien (daher die Deregulierung)“. Ihnen sei klar gewesen, „dass eine Art goldene Festung für jene Happy Few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen (daher die Explosion der Ungleichheiten); und dass der bodenlose Egoismus einer solchen Flucht aus der gemeinsamen Welt nur vertuscht werden konnte, indem sie die Ursache der verzweifelten Flucht schlichtweg negierten (daher die Leugnung des Klimawandels)“ (S. 27 f.). Folglich spiegelt sich in dem Buch Latours bodenlose Enttäuschung über die Eliten des allerjüngsten Fin de Siècle wider, die offenkundig weder willens noch vermögend waren, aus den Krisen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu lernen und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Die „reflexive Moderne“ hat, wie Latour resümiert, einfach nicht stattgefunden. Zwar mögen die Eliten hinreichend aufgeklärt gewesen sein, um den Warnruf der Klimatologen zu registrieren, doch waren sie sich zugleich einig darin, dass die Rechnung für all das zerschlagene Geschirr „die anderen zahlen müssen“ (S. 27).
Freilich geht Latour nicht nur mit den politischen Haltungen derer ins Gericht, die hätten Verantwortung übernehmen müssen. Nicht minder scharf fällt seine Kritik an den etablierten Vorstellungen darüber aus, wie die Globalisierung verlaufen und mit welchen Fortschritten zu rechnen sein würde. In diese Ideen, Latour fasst sie unter dem Label „Plus-Globalisierung“ zusammen, seien schlicht die überkommenen Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung eingeflossen, wie sie als die normativen Vorgaben der Modernisierungstheorie aus den 1960er-Jahren bereits geläufig waren. Insofern seien geradezu euphorische Erwartungen an den Horizont projiziert worden, was Zusammenarbeit und Solidarität, Wohlstand und Weltfrieden in jeweils globalem Maßstab angeht (S. 35 ff.). Dabei habe der Begriff „Globalisierung“ im Kern die Vorstellung vermittelt, „dass die Grenzen fallen“. Wo aber Mobilität, Dynamik und die Auflösung alles Festen zu den Kennzeichen einer zukünftigen Gesellschaft avancieren, büßen Grenzen – welcher Art auch immer – selbstverständlich ihre Funktion ein: „Alles setzt sich Richtung eines GLOBUS in Bewegung, der den gleichermaßen wissenschaftlichen, ökonomischen wie moralischen Horizont absteckte.“ (S. 35) Während die Globalisierungs-Euphoriker in ihrem „Globalisierungsgeschwafel“ (S. 21), wie Latour sagt, die Entstehung einer globalen Kultur unter westlicher Führung begrüßten und als Fortschritt feierten, hätten sie sich in Wahrheit hinter einem Begriff von Welt verschanzt, der nicht zuletzt deshalb inhaltsleer gewesen sei, weil ihm aller Bezug auf materielle Randbedingungen von Welt gefehlt habe (S. 35 ff.). In „der Globalisierung liegt nichts Globales. Global ist stets eine Menge Globalisierungsgerede, eine Menge heißer Luft.“[3] Unter der aufgeladenen Globalisierungsrhetorik, die während der 1990er-Jahre in den Modernisierungsdiskurs gleichsam wie ein trojanisches Pferd integriert wurde, verbarg sich am Ende nichts anderes als eine, wie Latour sagt, „extreme Ausprägung des ‚Neo-Hyper-Modernismus‘“ (S. 40 f.), will sagen: die Überzeugung, „dass eine einzige Sicht sich gegenüber allen und überall durchgesetzt hat“ (S. 21). Alles Lokale und Erdverbundene sollte im Prozess der Globalisierung verdampfen. Es galt als verpönt. „Im Schlachtruf ‚Modernisiert euch‘ ist nichts anderes gemeint als: Jeder Widerstand gegen die Globalisierung wird sofort mit Illegitimität geschlagen.“ (S. 23)
Die ökologische Krise des Anthropozäns erweist sich freilich immer noch als die fundamentale Krise der Moderne: „Klima, Bodenerosion, Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit, Habitatzerstörung“ (S. 19) seien deren besonders sichtbare Zeichen. Doch sind es keineswegs die einzigen Signale, die Zeugnis davon ablegen, dass sich „die Vorstellung des Bodens selbst“ (S. 13) verändert hat. Während die Weltgesellschafts- und Globalisierungseuphoriker noch meinten, Grenzen, Böden und Territorien spielten in einer globalisierten Welt keine besondere Rolle mehr, hat der Wahlsieg Trumps die Sachlagen mit höchster Signifikanz verändert: „Dass jene, die noch vor Kurzem den systematischen Abbau der Grenzen gepredigt hatten, diese nun wieder attraktiv finden, ist bereits ein Anzeichen für das Ende einer bestimmten Auffassung von Globalisierung.“ (S. 12) Außerdem hat Europa die massivste Migrationswelle seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Der Großteil der mehr als 1 Million Flüchtlinge flieht vor Krieg und Terror in Syrien und anderen Konfliktgebieten. (S. 19) Insofern muss die Rede von einer „Welteinheitszivilisation“, Latour zufolge, als phänomenales Eigentor einer weltabgewandten Globalisierungsrhetorik oder Weltgesellschaftsromantik bewertet werden. „Das Ideal einer gemeinsamen, auch vom bisher so bezeichneten ‚Westen‘ geteilten Welt gibt es nicht mehr. “(S. 11) Was jetzt anstünde, sei die Dringlichkeit geopolitischer Problemstellungen: „Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter der sozialen Frage; das 21. ist das Zeitalter der neuen geo-sozialen Frage.“ (S. 76)
Freilich wäre es, wie Latour argumentiert, völlig fahrlässig, zu glauben, man könne zu den Gepflogenheiten einer überkommenen Tagesordnung zurückkehren, die „das Lokale“ oder „das Traditionale“ als verbindliche Bezugsgrößen schätzt. Solche Appelle dechiffriert Latour als Initiativen, die genau genommen nur „irgendeine alte Blut- und Boden-Ideologie“ kaschieren, gibt es das Lokale doch faktisch genau so wenig wie das Globale. Wer die Globalisierung als den lästigen Störfaktor des Lokalen, Regionalen oder Traditionalen identifiziert, vollzieht eine bestenfalls ohnmächtige Geste. Sie beschwört vermeintlich wirksame Immunisierungsleistungen herauf, die vormals dem Dasein innerhalb nationaler Container attestiert wurden. Dabei ist das Lokale in Wahrheit eine „nachträgliche Erfindung, ein Restterritorium. […] Was gibt es Unwirklicheres als das Polen von Kaczynski, das Frankreich des Front National, das Italien der Lega Nord, das zusammengeschnurrte Großbritannien des Brexit oder das wieder großartige America des Großen Schwindlers?“ (S. 40).
Konfrontiert mit der falschen Dichotomisierung von Lokalem versus Globalem, begibt sich Latour auf die Suche nach einem Dritten. Fündig wird er bei einem neuen „Politik-Akteur“, den er auf den Namen „das TERRESTRISCHE“ tauft (S. 51). Aber was soll das Terrestrische sein? Hier nun enttäuscht Latour seine Leserin, denn seine Antwort auf diese gewichtige Frage lässt sich nur erahnen. Vieles in dem neuen Buch bleibt – wie schon in dem älteren des Titels „Kampf um Gaia“ – leider im Ungefähren und Metaphorischen. Hinzukommen noch Verständnisschwierigkeiten, weil der Text in offenbar ganz unsystematischer Form abgefasst ist: Nichts wird hergeleitet oder Schritt um Schritt aus bereits Explizierten deduziert. Dennoch kann eine wohlwollende Lektüre vier Bedeutungskomponenten des Konzepts herauspräparieren:
Erstens: Das Terrestrische besitzt für Latour vor allem eine ökologische Dimension. Wie die Gaia-Hypothese[4] oder Isabell Stengers Kosmopolitik[5] gewinnt das TERRESTRISCHE dort an Einfluss, wo versucht wird, grundlegende Dichotomien der abendländischen Überlieferung zu dekonstruieren, nicht zuletzt die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. Die Umweltkrisen, welche die komplexen Wechselbeziehungen des Erdsystems erfahrbar machen, bringen eine neue Sensibilität für die Rückwirkungen menschlicher Eingriffe auf eine ERDE hervor, „die immer heftiger und gewaltsamer zurückschlägt“ (S. 29). Das Terrestrische stelle, im Unterschied zur Natur der Moderne, nicht mehr nur eine ausbeutbare Ressource für das menschliche Handeln dar. Es tritt dem erkennenden Subjekt vielmehr als agency gegenüber (S. 104), weil das menschliche Dasein und seine Umwelt ineinander verschränkt sind. Es bezeichnet jetzt mithin eine Instanz, die „selbst an der Geschichte teilzunehmen beginnt“ (S. 53). Unter dieser Perspektive stellt sich jedes menschliche „Habitat“ zunächst einmal als ein Gefüge unterschiedlicher Relationen dar, das mit den lebenswichtigen Ressourcen und deren Wirkkräften in symbiotischem Kontakt steht (S. 101 f., S.110).
Zweitens: Sicherlich geht es Latour wieder darum, eine Sozialontologie ins Auge zu fassen, die das „Mitsein“ nicht nur den Mitmenschen vorbehält, sondern all jene Wesen dieser Welt einbezieht, die das Sein des Menschen möglich machen (S. 110).[6] Der menschliche Akteur ist also in ein Pluriversum von aufeinander einwirkenden Nachbarschaften eingebettet. Nur durch die Symbiose mit anderen Wesenheiten kann er die eigene Existenz sichern. Indem das konkrete Beziehungsgeflecht zwischen der Natur und dem Menschen derart an Prominenz gewinnt, stellt sich erneut die Frage nach der Bildung von Kollektivität, die im Sinne Michel Serres‘ und gemäß Latour einen neuen „Symbiosevertrag“[7] impliziert. So stehen die „Erdverbundenen“, wie Latour sagt, in enger Verbindung zu ihrem „Lebensterrain“ (S. 101). [8] Was sie beschäftigt und umtreibt, ist das Problem, wie die Gesamtheit der Umweltbedingungen menschliches Handeln in seinen spezifischen Milieus hervorbringt, beeinflusst und verändert. „Die Erdverbundenen stehen tatsächlich vor dem sehr heiklen Problem herauszufinden, wie viel andere Wesen sie zum Überleben benötigen.“ (S. 101) Der „Erdverbundene“ schlüpft deshalb in die Rolle des Respondenten. Zwischen den Eingriffen der Menschen und den Reaktionsweisen des betroffenen Lebensraums ergibt sich eine Art dynamisches Rückkopplungsverhältnis (S. 101 f.). „Jedes Wesen, das einen Bestandteil eines Lebensterrains bildet, besitzt seine ihm eigene Weise, um zu orten, was lokal und was global ist, und um seine Verschränkung mit den anderen zu bestimmen.“ (S. 108) Entsprechend postuliert das „terrestrische Manifest“ eine Art Re-Politisierung der Natur im Rahmen einer „erdverbundenen“ Geo-Politik: „Politik war immer schon auf Objekte, Streitpunkte, Situationen, Materien, Körper, Landschaften, Orte ausgerichtet. Die sogenannten zu verteidigenden Werte sind immer Antworten auf Herausforderungen eines Territoriums...“ (S. 64).
Drittens: Mit wenigen Pinselstrichen entwickelt Latour in Anlehnung an Timothy Mitchell eine – wie man sagen könnte – materialistisch/ökologische Institutionentheorie (S. 74 ff.). Denn eine Rekonstruktion des bei ihm ins Auge gefassten Wechselspiels zwischen Mensch und natürlicher Umwelt lässt sich durchaus auch auf institutioneller Ebene vornehmen: Natürliche Ressourcen bringen spezifische Formen politischer und sozioökonomischer Organisation hervor. Mit Mitchell könnte man die westliche Demokratie beispielsweise als „carbon democracy“ bezeichnen, weil die spezifische Qualität ökonomischer Wertschöpfung, auf dessen Basis die Demokratisierung der sozialen Umstände inklusive des sozialen Aufstiegs breiter Bevölkerungsschichten überhaupt erst materiell möglich wurde, mit dem Energieregime fortgeschrittener Industriegesellschaften zusammenhing.[9] „Wenn das erste Europa sich von unten her erschuf – auf der Basis von Kohle, Eisen und Stahl – so wird das zweite sich ebenfalls von unten her erschaffen.“ (S. 118)
Viertens: Anders als viele Globalisierungstheoretiker meinten, ist die Gegenwart, wie Latour mit Nachdruck unterstreicht, keine Epoche des „Weltfriedens“.[10] Deshalb werden geopolitische Konflikte in Zukunft zum Kernbestand des Politischen zählen. (S. 104) Dementsprechend müsse, so Latour, eine politische Ökologie verdeutlichen, dass „wir nie aus dem Kriegszustand herausgetreten sind“.[11] „Die im Holozän lebenden MENSCHEN stehen im Konflikt mit den ERDVERBUNDENEN des ANTHROPOZÄNS.“[12] Infolgedessen sind es für die Betroffenen gar nicht die globalen, sondern die lokalen, territorialen Facetten geopolitischer Konflikte, die alle zukünftige Tagespolitik bestimmen werden. Die kommenden Kriege werden nicht zuletzt um Wasser und Zugang zu Ackerflächen geführt werden. Der Wassermangel wird zu militärischen Auseinandersetzungen um noch verbliebene landwirtschaftliche Nutzflächen führen. Selbstverständlich kann auch die Veränderung lokaler Ökosysteme massive Migrationswellen und heftige Gewaltexzesse auslösen, deren Konsequenzen globale Ausmaße annehmen. Der Darfur-Konflikt beispielsweise begann als eine ökologische Krise, die zumindest teilweise dem Klimawandel geschuldet war. „Wir verstehen nichts von ökologischen Problemen, wenn wir nicht zugeben, daß sie uns spalten. Um den Wunsch zu widerstehen, der Ökologie die Politik auszutreiben, müssen wir aufhören zu glauben, die Sicht auf Probleme sei einhellig, universell und global: Wenn wir nicht zuvor anerkennen, daß die Menschen sich als Kriegsparteien gegenüberstehen, wird kein Frieden möglich sein; wird keine REPUBLIK je errichtet werden.“[13]
Insgesamt sind die Erkenntnisse, die aus Latours jüngster Schrift zu gewinnen sind, nicht eben revolutionär. Die Reflexionen entstammen im Wesentlichen dem Umkreis des Gaia-Bandes. Wer diese Monografie kennt, wird in Latours jüngstem „Manifest“ kaum Neues entdecken. Die Desillusionierungen des Globalisierungsdiskurses und die krisenhaften Erscheinungen, die der Autor anprangert, kann der Leser gut nachempfinden. Auch die – mittlerweile geläufigen – Reflexionen Latours über die Wechselseitigkeit von Mensch und Dingen gehören zum Grundbestand seines Œuvre. Sie können bis zu „Les Microbes“ aus dem Jahre 1984 zurückverfolgt werden, auch wenn manche Leser des Gaia-Bandes meinten, alles bei Latour sei neu.[14]
Man muss wohl hoffen, dass die philosophisch interessanten Aspekte von Latours Kosmopolitik[15] nicht einem „Alles-ist-ökologisch“- oder „Alles-ist-symbiotisch“-Geschwurbel zum Opfer fallen. Erste Kommentare, die in diesem Zusammenhang bereits zu lesen waren, stimmen einen freilich eher skeptisch. Was unser Autor der neuen ökologischen Bedrängung entgegensetzen will, nämlich ein Engagement an die konkrete Utopie einer politischen Ökologie, fällt in Latours entsprechenden Bekundungen allerdings deutlich weniger überzeugend aus als seine nach wie vor hellsichtige Analyse der Misere. Latour selbst räumt diese „Achillesferse“ (S. 105) seines Textes ein. Doch ist und bleibt „Das terrestrische Manifest“ ein Essay, weshalb der Autor die Lizenz dazu hatte, sich im Wesentlichen auf eine Darstellung seiner persönlichen Perspektiven zu kaprizieren.
Fußnoten
- Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, Berlin 1995.
- Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin 2018. Zahlen in Klammern verweisen nachfolgend auf diese Publikation, sofern kein anderer Text ausgewiesen wird.
- Bruno Latour, Ein vorsichtiger Prometheus. Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk, in: Marc Jongen / Sjoerd van Tuinen / Koenraad Hemelsoe (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München 2009. S.357–374, hier S. 367.
- Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017.
- Isabelle Stengers, Cosmopolitics I: The Science Wars, übers. von Robert Bononno, Minneapolis/London 2010.
- Siehe dazu auch: Bernhard Waldenfels, Sozialität und Alterität, Berlin 2015, S. 257 f.
- Michel Serres, Der Naturvertrag, Frankfurt am Main 1994, S. 69.
- Der Bezugspunkt Latours bleibt Michel Serres, der seinerseits bereits darauf hingewiesen hatte: „Tatsächlich spricht die ERDE mit uns in Begriffen von Kräften, Verbindungen und Interaktionen, und das genügt, um einen Vertrag zu schließen.“ Michel Serres, Der Naturvertrag, S. 71.
- Timothy Mitchell, Carbon Democracy: Political Power in the Age of Oil, New York / London 2011.
- Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 51–71, hier S. 54.
- Bruno Latour, Das Parlament der Dinge, Frankfurt am Main 2001, S. 272.
- Bruno Latour, Kampf um Gaia, S. 413 f.
- Ebd., S. 414.
- In der englischen Fassung von „Les Microbes“ argumentierte Latour bereits, dass jedes Lebewesen in seinem Milieu in ein Netz aus Relationen zu anderen Lebewesen eingesponnen ist: „There are not only ‚social‘ relations, relations between man and man. [...] In all these relations, other agents are present, acting, exchanging their contracts, imposing their aims, and redefining the social bond in a different way.“ (Bruno Latour, The Pasteurization of France, Cambridge, MA 1988, S. 35).
- Siehe dazu z. B. Markus Holzinger, Das naturwissenschaftliche Experiment als „Ereignis“. Zur Objekt- und Naturkonzeption bei Latour und Dewey, in: Hella Dietz / Frithjof Nungesser / Andreas Pettenkofer (Hg.), Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken. Vom Nutzen einer Theoriedifferenz, Frankfurt am Main 2017, S. 224–260.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Ökologie / Nachhaltigkeit Globalisierung / Weltgesellschaft Interaktion
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