Aaron Sahr, Felix Hempe, Hannah Schmidt-Ott | Veranstaltungsbericht |

Göttinger Splitter I: Montag

Bericht von der Eröffnungsveranstaltung des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen

Göttinger Splitter II: Dienstag

Göttinger Splitter III: Mittwoch

Göttinger Splitter IV: Donnerstag

Göttinger Splitter V: Freitag

Komplexe Harmonien

17:00 Uhr: Am Montagabend versammelte sich die soziologische Fachwelt in der Lokhalle in Göttingen. Der Dampfmaschinencharme des Veranstaltungsorts spiegelt das Flair der Arbeits- und Industriesoziologie, einem traditionellen Forschungsschwerpunkt der südniedersächsischen Metropole. Die Versammlung ist der Beginn einer Woche der Reflexion über „Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen“. Das Thema des 39. Soziologiekongresses soll uns, so erfahren wir von Matthias Koenig, dem Sprecher des Veranstaltungsteams, dazu herausfordern, das Ganze stärker in den Blick nehmen. Die Soziologie solle globale Verflechtung als Strukturmerkmal moderner Gesellschaften begreifen und damit globale Dynamiken in ihren Begriffsapparat aufnehmen – jedenfalls intensiver, als sie es bisher getan hat. Lokale Phänomene und Entwicklungen müssten mehr denn je im Kontext globaler Wechselwirkungen analysiert werden.

 

 

 

(Fotos: Stephanie Kappacher)

Eine große Aufgabe, die zum Glück nicht sofort angegangen werden muss. Denn der heutige Abend gehört zunächst der Musik. Das erwartungsvolle Geschnatter des Publikums vor dem Beginn der Veranstaltung findet nämlich ein jähes Ende, als Sascha Münnich zu singen beginnt. Wer nicht weiß, wie das klingt, wird auf YouTube fündig. Zum eingrooven eignet sich aber auch das hier eingebettete  Lied "Wölfe", interpretiert von Münnich. Wie danach mehrfach mit Stolz angemerkt wird, verdient Münnich sein Geld aber gar nicht primär mit dem Singen, sondern ist Professor der Universität Göttingen. Der Applaus ist von Johlen durchsetzt.

 

 

 

(Fotos: Stephanie Kappacher)

Nachdem die letzten Töne von Brother, I’m Hungry verklungen sind, werden von der Bürgermeisterin Helmi Behbehani zur Begrüßung weitere Vorzüge der gastgebenden Stadt (neben Sascha Münnich) aufgezählt. Sie lobt charmant deren räumliche Vorteile. In nur zehn Minuten soll man in der Innenstadt alles gesehen haben, was sich zu sehen lohnt! Die gesparte Zeit könne produktiv genutzt werden, nicht nur deswegen sei Göttingen auch ein vorzeigbarer Wissenschaftsstandort und eine künftige Startup-Hochburg, findet die Stadtoberste.

Im Saal wird es wieder dunkel. Die Chefin soll nun sprechen, das Kongressthema vertiefen, uns Richtung geben. Alle warten gebannt, die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) betritt die Bühne – und auch sie singt! Vom Piano begleitet präsentiert Nicole Burzan den französischen Chanson „Göttingen“ der Singer-Songwriterin Barbara. Das klang ungefähr so. Auch in den Nachgesprächen bestätigt sich der Eindruck breiter Überraschung – das hätte, in dieser Qualität, kaum jemand so erwartet. Burzan soll aber, wie Insider berichten, auch manchmal vor ihren Mitarbeiterinnen singen. So langsam ergibt sich also ein Muster neuer Schlüsselkompetenzen für Soziologiestudierende. Wird sich die Disziplin auch in den Präsentationsformen ausdifferenzieren, mit Chansons und Popsongs in die Öffentlichkeit wirken, nicht mehr nur in Textform? Der nächste Kongress hat hier jedenfalls schon jetzt große Fußstapfen zu füllen.

 

 (Foto: Stephanie Kappacher)

Ob Armin Nassehi singen kann, ist nicht überliefert, deswegen bekommt er seinen Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie noch für klassische Beiträge in Wort und Schrift, dazu noch einmal herzlichen Glückwunsch!

Zuvor aber gibt es doch noch einen Redebeitrag von der Vorsitzenden, im gewohnteren Vortragsduktus, wobei man die Harmonien des Chansons fast noch zu vernehmen meint. Burzan verteidigt die Soziologie engagiert als multiparadigmatische Wissenschaft, die keinen privilegierten Zugang zu Fakten behaupten, sondern deren Kontextabhängigkeit durch das Hervorheben verschiedener Perspektiven sichtbar machen könne. Hier wird’s politisch, befindet sich die Soziologie doch gerade in einem Ausdifferenzierungsprozess. Mit der Akademie für Soziologie hatten sich ja diejenigen (streitlustige Geister würden hier ein „ehem.“ zwischenschieben) Kolleginnen und Kollegen von der DGS getrennt, die lieber nicht so multiparadigmatisch wären. Über diesen Fehdehandschuh wird auf dem Kongress wohl noch an der einen oder anderen Stelle gesprochen werden.

Burzan jedenfalls wünscht sich, dass sich die Paradigmen in der Soziologie nicht mehr entweder mit wechselseitiger Geringschätzung oder eklektischer Ignoranz der Differenzen begegnen (oder nicht begegnen), sondern im Gespräch bleiben und wohl so etwas wie Synergien der Multiparadigmatik erzeugen. Mehr Harmonie zwischen sich im logischen Sinne wechselseitig ausschließenden Axiomen ist also gefordert. Wie das jenseits der Oberfläche ausgestaltet werden soll, muss man sehen. Ob das Abfeiern der Pluralität die beste Antwort auf den Fehdehandschuh ist, auch. Die Band spielt noch einmal, Sascha Münnich singt und zerstreut solche Bedenken für den Moment.

Es bleibt aber politisch. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Politik- und Geschichtswissenschaft, deren Kongresse fast zeitgleich stattfinden, nutzen solche Auftakte gerne, um sich als staatstragende Wissenschaften zu inszenieren. Deswegen bitten die Politikwissenschaftlerinnen in diesem Jahr den ersten und die Historikerinnen den zweiten Mann im Staat, ihre jeweiligen Veranstaltungen zu eröffnen. Das ist, wie Vincent Lindner im SozBlog bemerkt, nicht der Stil der Soziologie: „Staatswissenschaft möchte die Soziologie nicht sein, die Bestätigung der eigenen Relevanz durch Repräsentanten der Herrschaft wird nicht gesucht.“ Deswegen spricht bei uns Bettina Gaus, ihres Zeichens Journalistin, also eine Vertreterin der vierten, korrektiven Gewalt unserer Gesellschaft. Wie wir ist sie also eher Stachel im Fleisch der Mächtigen als deren Lakai; so jedenfalls biegt man es sich ganz gut hin.

Tragend ist Gaus dann aber auch, einerseits als Vertreterin etablierter Presse, die ja nun in der Regel die Verhältnisse mehr stützt als sie untergräbt (was ja nichts Schlechtes sein muss). Andererseits aber auch, weil sie mit ihrem Beitrag den wahrscheinlich mit großen Teilen ihres Publikums geteilten Wertekosmos (mit-)trägt. Auch hier steht die Harmonie im Vordergrund, allerdings mit gezielt gesetzten Spitzen. Gaus‘ Vortrag ist unterhaltsam, klug, pointiert und changiert sympathisch zwischen Pessimismus angesichts der erstarkten gesellschaftlichen Rechten und einem Glauben an die Transformationskraft sozialer Bewegungen von Links.

Sie spricht über die „gebrochenen Versprechen“ der Aufstiegsgesellschaft. Immer weniger Leute können ihrem Eindruck nach von Wirtschaftswachstum und Stabilität profitieren. Das dabei von ihr explizit adressierte „akademische Prekariat“ lacht etwas nervös. Sie kritisiert die Blasenbildung im politischen Diskurs, bei dem alle, auch die von ihr als links eingeschätzten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, lieber politisch unter sich blieben und die Diskussionsräume abschließen würden. Diese – also: wir – hätten es vorgezogen, sich in Debatten über Begrifflichkeiten zu verstricken, die bei großen Teilen der Bevölkerung einfach nicht dieselbe Resonanz erzeugen. Gaus spricht über die Entmachtung demokratischer Institutionen durch Finanzmärkte und über eine Politikerkaste, die ihre Bürger mit Fanfaren von Sachzwängen und Alternativlosigkeit zuerst verachtet hätte, bevor diese ihrerseits mit Politikverachtung geantwortet hätten. Sie warnt dennoch vor Politikbashing und SPD-Verhöhnung und zeigt sich überrascht darüber, dass bereits der Hinweis, man käme als nächstes auf die Sozialdemokratie zu sprechen, Gelächter in den Reihen der Soziologinnen und Soziologen auslöst. Wenn sich auch die professionellen Beobachterinnen und Beobachter gegenüber politischen Akteuren auf Positionen der Verachtung und Häme zurückzögen, so Gaus, wäre die Schließung kommunikativer Räume perfekt.

Am Schluss steht neben der Warnung vor einer neuen rechten Machtergreifung auch ein politischer Vorschlag, der wieder für mehr gesellschaftliche Resonanz zwischen den sozialen Kreisen sorgen soll: Subsidiarität, das heißt die Stärkung und Demokratisierung des Lokalen.  Nur so könne man dem Gefühl politischer Ohnmacht, für Gaus die Wurzel allen Übels, entgegenwirken. Damit hat sie freilich am Schluss ihrer lebendigen und fesselnden Rede ein ganzes Fass geradezu aufgerissen, das zu diskutieren wäre. Aber das ist das Privileg solcher Vorträge.

Durch den Hinweis auf das soziologisch-publizistische Milieu als politische Diskussionsblase schlägt Gaus außerdem einen Bogen zur kürzlich aufgeflammten Diskussion über den Sinn solcherart Großveranstaltungen mit ihren unzähligen übervoll besetzten Panels, hastigen Kurzvorträgen und viel Gerede „über alles und nichts“. Da ist etwas dran, nur zerstreuen sich solche Bedenken an den Abenden der Auftaktmessen. Man fühlt dort regelrecht, wie wenig es bei solchen Events um Forschungsergebnisse im engeren Sinne geht. Die vielen, selbstverständlich viel zu kurzen Vorträge werden uns in dieser Woche die Vielfalt soziologischer Arbeit vermitteln, also unser Wissen über die Disziplin vermehren, nicht so sehr unser Wissen über die Welt. Wer an einen solchen Kongress mit der Erwartung herangeht, hier würden die großen Würfe verhandelt, die wichtigen paradigmatischen Brüche eingeläutet oder eine Synopse des Forschungsstandes angeboten, der kann nur enttäuscht nach Hause fahren. Bei solchen Großveranstaltungen geht es um wissenschaftliche Disziplinen als Institutionen und Organisationen. Es geht darum, das Bewusstsein zu erneuern, in einer auf die eine oder andere Weise miteinander geteilten Struktur zu arbeiten; vielleicht sogar, hier und da, an denselben Problemen. Es geht darum, durch window shopping kurzer teaser die Leselisten der kommenden Monate zu füllen. Es geht um ein Klassentreffen, bei dem alte Kontakte aufgefrischt, neue geknüpft und Pläne für Netzwerke, Projekte, Sonderforschungsbereiche, Bücher und Tagungen geschmiedet werden. Die erste Gelegenheit dazu bieten die beeindruckend langen Warteschlangen am abschließenden Butterbrotbuffet. Brother, I’m Hungry!

(Aaron Sahr)

 

 (Foto: Stephanie Kappacher)

Podcast

 

(Felix Hempe & Hannah Schmidt-Ott)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: SPLITTER

Aaron Sahr

Prof. Dr. Aaron Sahr, Wirtschaftssoziologe, ist Gastprofessor der Leuphana Universität Lüneburg und Leiter der Forschungsgruppe „Monetäre Souveränität“ am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Soziologie des Geldes, Banken- und Wirtschaftstheorie, Kapitalismusgeschichte, Ungleichheit und Sozialontologie.

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Felix Hempe

Felix Hempe ist Soziologe und Stipendiat des Leo Baeck Fellowship-Programms. Er arbeitete von März bis Dezember 2018 am Hamburger Institut für Sozialforschung in der Redaktion der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. Zur Zeit promoviert er zu den späten Schriften Siegfried Kracauers.

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Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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