Martin Bauer | Veranstaltungsbericht | 22.06.2023
„Good Luck!“
Bericht zu den „Walter Benjamin Lectures“ von Sally Haslanger am 14., 15. und 16. Juni 2023 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin
Auch in diesem Jahr hat das Centre for Social Critique an der Humboldt-Universität zu Berlin seine Vortragsreihe der Walter-Benjamin-Lectures wieder in perfekter Organisation ausgerichtet. Rahel Jaeggi und Robin Celikates, die das Zentrum leiten, hatten für drei Abende in den Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek eingeladen, wo die Philosophin Sally Haslanger vom 14. bis 16. Juni vor einem weitgehend studentischen Publikum ihre Überlegungen zum Thema „Agents of Possibility: The Complexity of Social Change” vortrug.
Seit 2014 ist Haslanger Ford Professor an der School of Humanities, Arts, and Social Sciences des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, einem Vorort von Boston, wo auch die nicht weniger berühmte Harvard University angesiedelt ist. Haslangers Aufstieg in den akademischen Olymp der USA begann 1985, als sie an der University of California in Berkeley mit einer Dissertationsschrift mit dem Titel „Persistence, Change, and Explanation“ promoviert wurde. Die damals dreißigjährige Philosophin hatte mit dem feingeschliffenen Besteck der analytischen Philosophie einige der vertrackten Probleme thematisiert, die sich bei Aristoteles aus der Idee ergeben, Substanzen als Dinge zu fassen, die unter dem Wandel der Eigenschaften, die ihnen zugesprochen werden, persistieren, das heißt fortdauern. Eine Substanz scheint, so gesehen, wie ein Kleiderbügel zu sein, der sich über die Dauer seiner Verwendung nicht verändert, obwohl unterschiedliche Kleidungsstücke auf ihm hängen. Die Schwierigkeit, Dauer mit Wandel, Kontinuität mit Diskontinuität, zusammenzudenken, bezeichnet eine der harten Nüsse, die griechische Metaphysik der alteuropäischen Tradition vererbt hat. Allerdings war Haslanger, die sich in Berlin als „analytische Metaphysikerin“ und erst danach als „kritische Theoretikerin“ vorstellte, in ihrer akademischen Karriere beileibe nicht nur mit Versuchen befasst, solche Rätsel zu knacken. Schon bald nach ihrer Promotion entzündete die feministische Erkenntnis- und Wissenstheorie ihre Aufmerksamkeit. Zudem verfasste Haslanger eine Reihe von Aufsätzen, die das ideologiekritische Potenzial einer sozialkonstruktivistisch inspirierten Begriffsanalyse erschließen. In diesen Beiträgen stellt sich die feministische Philosophin die Aufgabe, sowohl gegen radikale Varianten des Sozialkonstruktivismus als auch gegen den Anti-Repräsentationalismus einer pragmatistischen Epistemologie, wie sie beispielsweise Richard Rorty vertreten hat, an „moderat realistischen Ontologien“ festzuhalten.[1] Mit diesem Projekt machte sich Haslanger, erwartbar, nicht nur Freund:innen im Feld avantgardistischerer Gender-Theorien und der Critical-Race-Theory. Eine lesenswerte Auswahl ihrer kontrovers aufgenommenen Aufsätze ist vor zwei Jahren in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik“ erschienen. Diese Aufsatzsammlung wird neben ihrer Kooperation mit Robin Celikates im Rahmen eines gemeinsamen Publikationsprojekts zum Thema „Ideologiekritik“ einer der Gründe dafür gewesen sein, Haslanger jetzt nach Berlin einzuladen, um einem Auditorium in Deutschland die Gelegenheit zu geben, ihre Version von Sozialkritik kennenzulernen.
„Agenten des Möglichen“
Allerdings stand Sozial-, als begriffsanalytisch verfeinerte Ideologiekritik keineswegs im Zentrum ihrer Vorträge. Nachdem Haslanger in der ersten Vorlesung ihre Ontologie des Sozialen vorgestellt hatte, waren die beiden weiteren Abende einer Eloge auf die Vorzüge zivilgesellschaftlichen Engagements in Gestalt von sozialem Aktivismus gewidmet. Die Philosophin plädierte dabei entschieden anti-etatistisch – der Staat ist ihr zufolge kein neutraler Akteur, vielmehr immer „parteiisch“, folglich „nicht vertrauenswürdig“ – für die Eigeninitiative von Akteur:innen, die sich idealerweise im Lichte selbstermächtigender Narrationen zusammentun, aufgekommenes Unbehagen kanalisieren, Missstände benennen und Forderungen aufstellen, um sich kraft der Organisation in lokalen wie überregionalen Netzwerken und Bündnissen, das Gehör zu verschaffen, dem sich unter Umständen inkrementelle Veränderungen des sozialen Lebens verdanken.
Von der reichen Fachliteratur zu derartigen Formen von Engagement, deren Voraussetzungen, Chancen und Schwierigkeiten, die in der jüngeren Vergangenheit aus der historischen Forschung zu sozialen Bewegungen, der soziologischen zu Netzwerken und Freundschaftsverbänden, auch aus der politologischen im Umkreis des Neo-Institutionalismus hervorgegangen ist, unterschieden sich Haslangers Darlegungen nicht in ihren Befunden. Der Unterschied lag im affektiven Aplomb, mit dem die Organisationsmanuale beworben wurden, die Haslanger für informativ hielt und einem aufnahmewilligen Publikum erläuterte. Sie entfaltete keinen strikten Argumentationsgang, vielmehr unterbreitete sie den Zuhörer:innen – unterstützt durch eine Unzahl auf die Leinwand des Saals projizierter Bild- und Zitatmontagen – ihre aus eigenen Erfahrungen als Aktivistin und theoretischer Reflexion gewonnenen Überzeugungen. Wie eine kritische Theorie aussieht, die Jaeggi als „Synthese von Aktivismus und Theoriebildung“ angekündigt hatte, wurde sinnfällig. Mitunter fühlte man sich wahlweise in einen pädagogisch gekonnten Volkshochschulkurs oder einen Workshop für angehende Aktivist:innen versetzt. Haslanger bot einen Auftritt, der gut inszeniert war, mit ihrer streckenweise erheblich beschleunigten Sprechgeschwindigkeit jedoch die Aufnahmekapazitäten derer überforderte, die gekommen waren, um aus den in englischer Sprache gehaltenen Vorträgen etwas zu lernen, das mehr als offensichtlich war.
Der US-amerikanische Feminismus, der Antirassismus der „Black Live Matters“-Bewegung und anekdotisches Material aus einer Initiative in Kenia, an der Haslanger in der Absicht mitwirkt, junge Frauen zu unterstützen, die ob ihrer Beschämung durch die einsetzende Menstruation und in Ermangelung der nötigen Hygieneprodukte ihren Schulbesuch abbrechen, lieferten Musterfälle des Aktivismus, für den sie eintrat. Die Mädchen aus ländlichen Regionen Kenias erwarben im gemeinsamen Gespräch die Fähigkeit, ihre Scham zu überwinden, sich miteinander bewusst zu machen, dass sie keine nur individuelle Verlegenheit quält, wurden sexuell aufgeklärt, begannen unter Anleitung, sich selbst Binden und Beutel für deren Aufbewahrung zu nähen, sodass sie schließlich trotz ihrer Regelblutung am Schulunterricht teilnehmen konnten. Angesichts eines so bestechenden Exempels durfte Haslanger mit der normativen Zustimmung all der Interessierten rechnen, die sich bei allenfalls geringem Schwund an drei aufeinanderfolgenden Abenden auf den Weg in die Staatsbibliothek gemacht hatten. Gegen Ende des letzten Vortrags, mittlerweile begrüßte Rahel Jaeggi den Gast als „gute Freundin“, lag ein Hauch von protestantischem Kirchentag über der Veranstaltung. Niemand hätte noch überrascht sein können, als eine durch ihre Ausführungen zur Kreativität des sozialen Aktivismus enthusiasmierte Haslanger die im Saal Versammelten zu eben den „Agenten des Möglichen“ erklärte, die zu identifizieren, der Obertitel ihrer Vortragsreihe ja in Aussicht gestellt hatte.
Dass zu den erfolgreichen Beispielen eines professionell organisierten sozialen Aktivismus auch die Anti-Abtreibungsbewegung in den Vereinigten Staaten und die Mobilisierung gegen eine Verschärfung der Waffengesetzgebung gehört, erwähnte Haslanger mit Bedauern, wiewohl nur beiläufig. Ansonsten ging sie mit keinem weiteren Wort auf die aktuellen Erscheinungen des sozialen Aktivismus ein, die etwa als Tea-Party-Bewegung die Republikanische Partei zur Speerspitze eines militanten Rechtspopulismus gemacht haben oder in Gestalt bewaffneter Milizen wie den „Oath-Keepers“ am Sturm auf das Kapitol in Washington beteiligt waren. Hierzulande würde der soziale Aktivismus von „Reichsbürgern“, „Pegida“ oder der soziologisch mittlerweile genauer begutachteten „Querdenker“ reiches Anschauungsmaterial für die gewissermaßen objektive Ambivalenz eines zivilgesellschaftlichen Engagements liefern, das sich an die Rezepte hält, die Haslangers kenntnisreiche Beschreibung detailliert ausbuchstabiert hatte. Dieser Zwiespältigkeit mochte sie so recht nicht ins Auge sehen.
Das Glück der kleinen Schritte
Viel rhetorischer Aufwand, sprich: eine gewisse Redundanz, war demgegenüber nötig, um höherfliegende Ambitionen zu ernüchtern, die Wandel womöglich als Disruption und Transformation wollen, vielleicht sogar eine Revolution anstreben, die den Kapitalismus abschafft: „Good luck!“ wünschte Haslanger mit ironischem Zungenschlag derartigen Phantasten. Sie warb für Inkrementalismus, für das bescheidene Glück eines Reformismus der kleinen Schritte. Es sei nicht auszuschließen, dass sich solche Schrittfolgen in der Summe letztlich als grundstürzende Bewegungen auswirken, die das soziale Leben in neue Bahnen lenken. Dass Männer den Müll entsorgen, sich im Haushalt einbringen, die Sorge um die Kinder, die Gebrechlichen, die Kranken, die Alten, wenn nicht tragen, so doch mitzutragen lernen, solche inkrementellen Veränderungen innerhalb der beklagenswert patriarchalen Verteilung unbezahlter wie bezahlter Sorgearbeit stellten für Haslanger minimale, eines zukünftigen Tages womöglich aber doch bahnbrechende Anfänge dar. Wie fundamental für „die soziale Reproduktion“ gerade der gesamte Bereich der Sorge-Arbeit sei, daran ließ sie nicht den geringsten Zweifel – eine fraglos berechtigte, gleichwohl leicht überdosierte Insistenz. Auch deutschsprachige Forschung zur Sorge-Arbeit, zu Fragen der Intersektionalität, zum migrantischen Bodenpersonal, zu den „verkannten Leistungsträger:innen“,[2] die in Deutschland nicht anders als in den Vereinigten Staaten private wie öffentliche Infrastrukturen versorgen und funktionstüchtig halten, hat in der jüngeren Vergangenheit stattliche Bibliotheken gefüllt.
Dass Thema „Sorge“ lieferte Haslanger darüber hinaus den Anlass, generell mit Bornierungen der Soziologie ins Gericht zu gehen, speziell mit einer Grundthese ihrer letztjährigen Vorgängerin bei den Benjamin-Vorlesungen. Gewiss war sich Haslanger mit Nancy Fraser, die 2022 unter globalem Blickwinkel die verschiedenen Physiognomien von Arbeit nachgezeichnet hatte, darin einig, dass eine klassisch marxistische Sozialwissenschaft das Phänomen sozialer Reproduktion sträflich verkürzt, wenn sie sich allein auf die Sphäre ausgebeuteter Lohnarbeit konzentriert. Als Feministin hatte Fraser herausgestellt, wie die Landnahmen des weltweit operierenden Kapitalismus ausnahmslos alle Erscheinungsformen unbezahlter Arbeit erfassen, also selbstverständlich auch die unbezahlte Haus- und Sorge-Arbeit von Frauen in der ersten, zweiten und dritten Welt. Dass dieses Gesicht von Arbeit unbedingt in jede Analyse kapitalistischer Selbstreproduktion einzuzeichnen sei, schrieb Fraser als Neo-Marxistin denen ins Stammbuch, die mit Blick auf die Lage der Frauen vormals lediglich einen Nebenwiderspruch ausgemacht hatten. Der Kapitalismuskritikerin aus New York lieferte die Beobachtung der fortschreitenden Kommodifizierung von Sorge-Arbeit sogar noch ein zusätzliches Argument für ihre zentrale Behauptung, ein sich selbst richtig verstehender Feminismus besitze – wie andere Emanzipationsbewegungen auch – in Wahrheit genuin antikapitalistische Stoßrichtungen.
Gegen eine solche Politisierung feministischen Protestes legte Haslanger vehementen Einspruch ein. Schon weil das Patriarchat deutlich älter als der Kapitalismus sei, könne dessen Überwindung nicht identisch mit der Befreiung unterdrückter Frauen sein. Haslanger war daran gelegen, die jeweilige Eigenständigkeit unterschiedlicher Gestaltungen des sozialen Aktivismus gegen eine Gesellschaftstheorie zu verteidigen, die den Kapitalismus – so wie es Nancy Fraser getan hatte – gut marxistisch aus der übergreifenden Logik der Wertform versteht. Sie beschloss die Kritik an Fraser mit dem Kompromissvorschlag, das kapitalistische System einerseits als zeitgenössischen Kontext des sozialen Aktivismus anzuerkennen, dessen Entwicklungsdynamik andererseits aber aus einer Vielzahl heterogener und interferierender Logiken zu erklären. Im Klartext stellte sie damit Frasers Anspruch kalt, politische Ökonomie liefere den Generalschlüssel zum Verständnis gesellschaftlicher Gegenwarten. It’s NOT the economy, stupid!
Der „unbestimmte Sinn für Gerechtigkeit“
Was dem Reformismus der kleinen Schritte laut Haslanger seine etwaige Effizienz verschafft, ist die Verankerung im Lokalen. Daher pries sie noch einmal die altehrwürdige Maxime „Think globally, act locally!“. Eine bessere Aussicht auf Erfolg sichert sich Aktivismus unter normativer Perspektive, wie Haslanger in der Position einer „moralischen Realistin“ ausführte, wenn seine Protagonist:innen nicht auf universale Prinzipien Bezug nehmen, sondern auf regionale Zustimmungsbereitschaft für Werte. Weil sie konkret und situiert sind, ist ihre Partikularität kein Hindernis, sondern ein motivationaler Vorteil. Wer Haslangers moralischen Realismus teilt, geht davon aus, dass sich solche Werte menschlicher Kognition in der jeweiligen sozialen Wirklichkeit als quasi- empirische Erkenntnisgegenstände darbieten. Man muss sie nur ‚sehen‘. Für die dennoch fällige Frage, wer denn wann und unter welchen Gegebenheiten mit welchen Argumenten eine individuelle oder kollektive Lebensform für gut erkennt, und die sich anschließende Frage, ob ein solcher Lebensentwurf mit der ihn fundierenden Wertbindung unter lokaler wie globaler Hinsicht auch gerecht sei, stand in Haslingers Powerpoint-Kollektion leider kein Bild zur Verfügung.
Ersatzweise offerierte sie in der zweiten Vorlesung eine anthropologische These: Haslanger konstatierte, Menschen als solche seien mit einem „unbestimmten Sinn für Gerechtigkeit“ ausgestattet. Empirisch müsste es sich dabei um so etwas wie eine moralpsychologische Wünschelrute handeln. Sie schlägt angesichts gegebener Erfahrungen von Leid aus und sorgt damit für die situationsadäquaten Wertbindungen, die das lokale Aufbegehren gegen „ungerechte Praktiken“ motivieren. Man hätte gerne gewusst, wie eine Aktualisierung dieses unbestimmten Gerechtigkeitssinns konkret ausfällt, wenn sich zwei erhitzte Gemüter vor einer Abtreibungsklinik, deren Eingang durch Aktivist:innen blockiert wird, darüber streiten, ob Abtreibung „Mord“ sei.
Dass sozialer Aktivismus, um in Gang zu kommen, Wertkonflikte weder zu befürchten hat, noch gar schlichten muss, war die sicherlich korrekte, jedoch abstrakte Auskunft, die Haslanger erteilte. Und en passant gab sie zu verstehen, Gerechtigkeit nicht wie Rawls als Fairness zu begreifen und Kontroversen zwischen Stimmen, die entweder für distributive oder prozessuale Gerechtigkeit optieren, für eher scholastisch zu halten. Im Einklang mit ihrer wertpluralistischen Ethik bekannte sich Haslanger zum Capability-Ansatz, also zu der Idee, dass sich legitime Ansprüche aus dem Haushalt humaner Bedürfnisse und Vermögen ableiten lassen. Gemeint ist, dass aus der Angewiesenheit von Menschen etwa auf schützendes Obdach deren Rechtsanspruch auf Wohnraum folge. In der sich an diesen Vortrag anschließenden Frage- und Antwort-Runde räumte Haslanger immerhin ein, die für diesen Ansatz grundlegende Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen sei eine knifflige Sache.
Eine Luhmann-Frage
Der soziologisch informierte und theoriehistorisch bewanderte Philosoph Martin Saar, der an der Frankfurter Goethe-Universität lehrt und zurzeit Fellow am Wissenschaftskolleg ist, stellte seiner Kollegin nach ihrer ersten Vorlesung eine hellsichtige Frage: Ob die Aufgabe einer Theorie des Sozialen nicht darin bestünde, gesellschaftliche Sphären zunächst zu unterscheiden, um sie schließlich wieder ins Verhältnis zueinander zu setzen? Da Haslanger das Soziale gerade als ein „sich selbst organisierendes, selbstreproduktives, adaptives, nicht-linear operierendes und stochastisches System“ definiert hatte, um im nächsten Schritt einzuschärfen, die Dynamik eines solchen Systems werde nicht durch eine einzige, sondern durch unterschiedliche Logiken determiniert (die des Kapitalismus, des Patriarchats, der „white supremacy“ etc. pp.), war es in der Tat ebenso naheliegend wie sachgerecht, dass Saar den Namen eines im Feld der Kritischen Theorie skeptisch beäugten Gesellschaftstheoretikers aufrief. Er hatte Luhmanns Theorie der Gesellschaft im Auge, das heißt eine soziologische Systemtheorie, in der Wirtschaft, Recht, Politik, Kunst, Wissenschaft und Religion als autopoietische Systeme unterschieden werden, sich zugleich aber wechselseitig irritieren, also miteinander kommunizieren. Gesellschaftstheorie ist nach diesem Entwurf Beobachtung von Kommunikation unter Hinsichten, die durch die Eigenlogik von Kommunikation innerhalb der sich voneinander unterscheidenden Subsysteme vorgegeben wird. Offenkundig begreift Luhmann Gesellschaft nicht als eine Substanz, die unter ihren verschiedenen Attributen, den Subsystemen, persistiert, sondern als einen sich selbst erzeugenden, kontinuierlichen Prozess. In ihm unterscheiden sich die Systeme von Umwelten, was impliziert, dass die unterschiedlichen Subsysteme füreinander Umwelten bilden: Religion ist eine Umwelt für das politische System, dieses Umwelt der Wirtschaft, die ihrerseits eine ihrer Umwelten im Recht hat. Die fortgesetzte Prozessierung derartiger Differenzen bewirkt den vielgesichtigen Wandel, aus dem Gesellschaft ihre evolutionäre Dauer gewinnt, also eine Identität, die als Nebenprodukt des anhaltenden Differenzierungsgeschehens stets Identität im Übergang bleibt. Einen Kleiderbügel, auf dem die Subsysteme hängen, kennt die moderne Gesellschaft Luhmann zufolge nicht.
Es versteht sich von selbst, dass ausgehend von den Differenzen zwischen System und Umwelt innerhalb einer solchen Theoriearchitektur nicht nur danach gefragt werden kann, wie sich ein Subsystem reproduziert, also wie sich Recht etwa im Gegensatz zu Religion durch besondere Modalitäten von Kommunikation formiert, sondern geradezu danach gefragt werden muss, darin bestand Saars Pointe, wie Gesellschaft als das soziale System sich ausdifferenzierender Subsysteme operiert, wie sich – anders gesagt – „Gesellschaft“ jeweils innerhalb von Gesellschaft reproduziert. Weil Luhmann nicht nur unterschiedliche Reproduktionslogiken rekonstruiert, sondern zugleich einen Vorschlag macht, wie sich das Zusammenwirken dieser Logiken, dieser Subsysteme, beobachten lässt, schafft seine Soziologie den Ort für eine Unterscheidung, die in Haslangers Sozialontologie nicht vorgesehen ist. Ihre Ontologie unterscheidet nicht zwischen Sozialsystem und Gesellschaft, was die Unklarheit zur Folge hat, wie und warum die heterogenen Logiken, die sie angesprochen hatte, überhaupt Logiken eines Systems sein können.
Saars Problematisierung ist von Belang, weil sich alle möglichen Theorien des Sozialen ersinnen lassen, ohne dass Merkmale des Sozialen, die in solchen Entwürfen aufgelistet würden, bereits eine Gesellschaftstheorie ergäben. Definierte Haslangers Vortrag Sozialitäten als „komplexe Systeme, die sich aus Netzwerken sozialer Beziehungen zusammensetzen, die ihrerseits in sozialen Praktiken fundiert sind“, so trifft ihre Begriffsbestimmung offenkundig auch auf eine ‚Gesellschaft‘ von Primaten zu. Überdies bleibt offen, was die Praktiken, aus denen sich solche Systeme aufbauen, zu sozialen Praktiken macht. Von daher bewegt sich Haslangers Definition im Zirkel. Sie setzt stillschweigend voraus, was doch zu klären wäre.
Man mag ihren Formalismus für einen methodologischen Vorzug halten, weil er Abstraktionshöhen sichert, auf denen sich bedarfsweise Vergleiche anstellen lassen, die erkenntnisfördernd sein könnten: Auch ein Schwarm von Mücken, der öffentliche Nahverkehr, ein global operierendes Unternehmen wie Amazon und Twitter oder Facebook sind komplexe, aus sozialen Relationen gefügte Netzwerke mit hoher Komplexität. Doch sollte nicht vergessen werden, dass sich die Kritische Theorie nach ihrem Selbstverständnis bisher nicht als formale Sozialontologie verstand, sondern als eine historische Sozialwissenschaft.
Dabei muss es natürlich nicht bleiben: Warum sollten gravierende Revisionen einer Theorieform abgewehrt werden, wenn sie überzeugen? Nur hatte sich, wie Rahel Jaeggi in ihrer Einführung zu Haslangers Vorlesungen eigens und zutreffend betonte, die Kritische Theorie als ein analytisches Unterfangen begriffen, das „nach der Vernunft in der Geschichte“ fragt. Und damit kommt sowohl ein Begriff von Gesellschaft als auch ein Begriff von Vernunft ins Spiel, für den die Historizität der Vergesellschaftungsmodalitäten ebenso irreduzibel ist wie diejenige von gesellschaftlichen Verständigungsverhältnissen, die Rationalität ihre Chancen gibt oder verweigert. Unter diesen Prämissen, die ideenhistorisch und ideenpolitisch auf Hegel wie Marx verweisen, ist es jedoch aussichtslos, nach der Vernunft oder Unvernunft netzwerkartig verschalteter Relationen fragen zu wollen.
„Cultural techné“
Wie Haslangers Ontologie des Sozialen in Kontakt mit Geschichte und deren möglicher Rationalität kommt, verriet der Titel des ersten Vortrags „Who’s in Charge here? Micro, Meso, Macro Interactions“. Nach ihrer Vorstellung bezeichnet das Soziale ein Gefüge von Relationen, dessen elementare Einheit „Interaktion“ ist. Sie verwandelt eine Relation in eine soziale Beziehung. Allerdings interagieren auch Wolken, Proteine und Elementarteilchen miteinander. Haslanger bewältigte die Komplikation, wie sich unter dem Horizont einer formalen, das heißt allgemeinen Ontologie von Relationen der besondere Gegenstandsbereich sozialer Relationen, also die Objekte von Sozialwissenschaft, hinreichend trennscharf spezifizieren lässt, im Handumdrehen. Sie bekannte sich zu einer Sozialwissenschaft in der Ära nach dem practical turn. Dementsprechend definierte sie Interaktion auf allen drei Ebenen, also in mikro-, meso- wie makrologischer Hinsicht, als „soziale Praktik“. Lästige Detailfragen, wie die nach den Unterschieden zwischen bloß informeller Interaktion (einem Abendessen), Interaktion in Organisationen (Sprechstunde bei der die Dissertation betreuenden Professorin) und der Interaktion in einem sozialen System (Urteilsfindung in einem Strafprozess), waren vom Tisch. Und die noch unangenehmere Grundfrage, ob sich ein holistisches Verständnis von Gesellschaft überhaupt entwickeln lässt, wenn die Natur des Sozialen Interaktion sein soll und sonst nichts, schien damit auch schon erledigt.
Was Interaktionen, wie Haslinger explizierte, zu sozialen Praktiken macht, ist der Umstand, dass in ihnen (man denke wieder an Abendessen, Sprechstunden und Strafprozesse) „öffentliche Bedeutungen“ dazu dienen, Handlungen zu koordinieren.
Also brauchte Haslangers Ontologie Semantik um zu einer Ontologie des Sozialen zu werden. Hat irgendetwas überhaupt Bedeutung, muss es öffentliche Bedeutung sein, denn wie sollte Bedeutung wiedererkennbar sein, also über die Zeit hinweg gebraucht werden können, gehorchte sie nicht Regeln mit überindividueller Reichweite. Praxissoziologisch ist in diesem Zusammenhang die Annahme folgenreich, dass die durch den Gebrauch öffentlicher Bedeutung ermöglichten Praktiken stets nur Teilnehmer:innen haben, während Handlungen Urheber:innen voraussetzen. Dementsprechend folgt aus Haslangers Spezifizierung zwingend, dass uns erst die Teilhabe an Praktiken, eine gewisse Kompetenz im Umgang mit „öffentlichen Bedeutungen“ und Vertrauen auf deren Stabilität, in die Lage versetzt, Subjekte von Handlungen zu werden. „In charge“ sind wir also entweder als Teilnehmer:innen sozialer Praktiken oder als Handlungssubjekte, die aus der Partizipation an sozialen Praktiken geboren werden. Insofern sind soziale Praktiken für diese Sozialontologie außerordentlich wirkmächtige Medien der Subjektivation. Sie weisen Handlungsrollen zu, distribuieren folglich auch Gender-Zuschreibungen, Rassifizierungen, sozialen Status nach Logiken, die sich laut Haslanger im dynamischen System des Sozialen überlagern, ergänzen, wechselseitig verstärken oder gegenseitig neutralisieren. Ereignen sich derartige Überlagerungen, ist die Methode intersektionaler Analyse sozialer Praktiken das unverzichtbare Instrument, mit dessen Hilfe die Fabrikation sozialer Subjekte durchleuchtet und unter Umständen kritisiert werden muss.
„Klasse“, „Geschlecht“, „Rasse“ funktionieren dementsprechend als Prädikate, deren Verwendung soziale Praktiken anleiten, sortieren, ermöglichen, umgekehrt aber auch blockieren, entstellen, verkennen und denunzieren kann. Doch damit nicht genug. Haslanger zufolge filtern „öffentliche Bedeutungen“ zudem die Wahrnehmung der materiellen Bedingungen und Obliegenheiten, auf die Handlung als solche wie die Koordination von Handlungen in kollektiver Praxis angewiesen ist. Weil dies der Fall sei, interpretierte Haslanger „öffentliche Bedeutungen“ – soweit sie sich kontextuell und situativ zu distinkten Wahrnehmungs- und Handlungsschemata aggregieren – als epistemische Ensembles, für die sie den Neologismus „cultural techné“ geprägt hat.
Darunter sei, wie Haslanger in Berlin thesenhaft erläuterte, ein praktisches Wissen zu verstehen, das sich nicht nur teleologisch, nämlich unter dem Aspekt individueller oder kollektiver Handlungsziele, das Universum sozialer Praktiken erschließt, sondern sich auch in kollektiven Einstellungen, Überzeugungen und Handlungsmotivationen niederschlägt. Wenn Haslanger eher flapsig bemerkte, „cultural techné gone wrong“ sei Ideologie, wird zulässig, unter solchen Kulturtechniken näherhin bestimmte, in Akteur:innen verkörperte, ideologische Bewusstseinsformen zu verstehen. Untypisch für gängige Kritische Theorie schien Haslanger also mit einem zunächst gar nicht pejorativen, sondern lediglich deskriptiven Ideologiebegriff zu hantieren, der – ähnlich Karl Mannheims Wissenssoziologie – jeglichen Gruppen von Akteur:innen spezifische Bewusstseinsformen unter dem neutralen Rubrum „cultural techné“ zuspricht. Leiten derartige Einstellungen an, was Haslanger notorisch unscharf als „ungerechte Praktiken“ klassifizierte, sieht sie sich berechtigt, diese „cultural techné“ als Ideologie zu kritisieren.
Das Problem, das Haslanger sich mit dieser sozialkonstruktivistischen Epistemologie einhandelt, besteht in jenem Relativismus, den die frühe Kritische Theorie Mannheim vorhielt. Haslanger wird meinen, dagegen sei ihre Theorie gefeit, weil der „unbestimmte Sinn für Gerechtigkeit“, der zur humanen Grundausstattung gehöre, relativistischen Tendenzen einen Riegel vorschiebe. Die innere Wünschelrute liefert die Kriterien, die Werte situativ auswählt. Freilich bekräftigt Haslangers Votum zugunsten eines Aktivismus, der sich seine Wirksamkeit durch die lokale Festlegungen auf partikulare Werturteile sichert, den Verdacht, dass sie Mannheims Dilemma nicht entkommt.
Eine pragmatische Optimistin
Resümieren wir Haslangers Bemühen, eine Lanze für den Reformismus zu brechen, der auf inkrementelle Veränderungen aus ist, wie sie sozialer Aktivismus herbeizuführen vermag. Weil der Grundstoff des Sozialen aus Praktiken besteht, die aufgrund von Kulturtechniken, in denen sich öffentliche Bedeutungen verdichten, Handlungen koordinieren, kann sozialer Wandel nur darin bestehen, soziale Praktiken zu verändern. Um diese Interaktionen zu transformieren, ist es für sozialen Aktivismus unabdingbar, die öffentlichen Bedeutungen zu modifizieren, aus denen sich jede „cultural techné“ speist, folglich auch diejenige, die Haslanger als Ideologie inkriminiert, weil sie zu ungerechten Praktiken führt. Sozialer Aktivismus muss deshalb öffentliche Bedeutungen zugunsten gerechter Praktiken verändern, er muss – um das zeitgenössische Vokabular politischer Diskurse in den Vereinigten Staaten ins Deutsche zu übersetzen – Kulturkampf betreiben. Dass derartige culture wars kein müßiges Unterfangen sind, vielmehr mit realen Möglichkeiten spekulieren dürfen, hat seine letzte Ursache darin, dass Gesellschaften komplexe Systeme sind, deren evolutionäre Dynamiken zwar unvorhersehbar sind, jedoch selbststeuernde Einwirkung zulassen, weil – zumindest für Haslangers Wahrnehmung – kein gesellschaftsweit dominanter Hegemon existiert, sondern eine ungeregelte und unregulierbare Polykratie unterschiedlicher Systemlogiken. Zu ihnen, genauer gesagt: zu den innerhalb einer solchen Polykratie prinzipiell unterdeterminierten Interaktionsmustern, verhält sich das im Kern semantische Engagement eines sozialen Aktivismus parasitär.
Regeln, die den Gebrauch öffentlicher Bedeutungen vorschreiben, ohne ihn wasserdicht gegen subversive Variation und Devianz abschirmen zu können, lassen sich Schritt für Schritt so verändern, dass sich in the long run eine innovative „cultural techné“ konstruiert findet. Diese These zu einer – genau besehen – okkasionalistischen Kausalität des inkrementellen Reformismus vermochte Haslanger mit dem Werkzeugkasten ihrer Sozialontologie nicht zu begründen, sondern nur in Maßen zu plausibilisieren. Was eine gesellschaftstheoretisch bündige Analyse kompensierte, war Haslangers pragmatistischer Optimismus. Um ihn wäre es wahrscheinlich schlechter bestellt gewesen, hätte sich die Philosophin in der sympathischen Rolle der Aktivistin bereitgefunden, die eklatant asymmetrischen Machtverhältnisse innerhalb des globalisierten Kapitalismus, die in einer Reihe der an sie gerichteten Fragen mit Nachdruck ins Feld geführt wurden, für ein schwerer wiegendes Problem zu halten.
Fußnoten
- Sally Haslanger, Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik, herausgegeben und mit einem Nachwort von Daniel James, Berlin 2021, S. 61.
- Nicole Mayer-Ahuja / Oliver Nachtwey (Hg.), Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft, Berlin 2022.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Arbeit / Industrie Care Epistemologien Feminismus Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Philosophie Sozialer Wandel
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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