Stefanie Schüler-Springorum | Essay |

„Guernica Gaza“

Zur Diskussion über den Zyklus des palästinensischen Künstlers Mohammad Al Hawajri

Im Juli 1936 putschte eine Gruppe aufständischer Generäle gegen die demokratisch gewählte Regierung der seit fünf Jahren existierenden Spanischen Republik. Als dieser Staatsstreich aufgrund des massiven Widerstands vor allem in den urbanen Zentren, aber auch von Teilen des Militärs zu scheitern drohte, sicherte sich einer der Generäle, Francisco Franco, nach wenigen Tagen die Unterstützung der faschistischen Mächte Europas, Italien und Deutschland. Fortan beteiligten sich deutsche und italienische Truppen in Spanien fast drei Jahre lang an einem nicht erklärten Krieg unter dem Oberkommando und der Verantwortung der aufständischen Generäle um Franco. Den von Italien und Deutschland auf der iberischen Halbinsel geführten Luftkrieg nutzen beide Ländern dazu, ihre neu konstruierten Flugzeuge zu testen, wobei die deutsche Versuchsstaffel unter Wolfram von Richthofen zudem seit November 1936 damit beschäftigt war, in Andalusien systematisch mit Bomben und Wurftechniken zu experimentieren und deren Wirkung auf unterschiedliche Ziele zu analysieren. Dass dabei, ebenso wie beim Vormarsch durch Estremadura nach Madrid im Herbst und Winter 1936 immer auch die Zivilbevölkerung rücksichtslos mit ins Visier genommen wurde, belegen die überlieferten Dokumente, die Berichte und Kriegstagebücher ad nauseam.

Davon abgesehen bestand die – kriegsentscheidende – Haupttätigkeit der Legion Condor, so der Name des deutschen Luftwaffenkontingents vor Ort, in der direkten Unterstützung der nationalspanischen Bodentruppen. Da sich jedoch die franquistische Kriegsführung nicht immer, aber häufig genug, darauf beschränkte, feindliche Truppen und Städte so lange bombardieren zu lassen, bis Militär wie Zivilbevölkerung gleichermaßen zermürbt waren, und sich zudem viele Angriffe in der Nähe der Front häufig auf Knotenpunkte richteten, in denen sich fliehende Soldaten und Zivilisten mischten, lassen sich auch hier „legitime militärische“ und „zivile“ Ziele nur selten sauber voneinander unterscheiden.

Dies war auch in Guernica der Fall, einem kleinen Städtchen mit ca. 7000 Einwohnern, das zum Zeitpunkt der Bombardierung etwa 10 Kilometer von der Front entfernt lag und zudem überfüllt war durch sich zurückziehende baskische Truppen – es war also alles andere als eine rein zivile Idylle. Eine Munitionsfabrik wurde später als das eigentliche militärische Ziel angegeben, de facto aber hatte zumindest das deutsche Kommando vor Ort ein Interesse daran, die Bombenwirkung auf Städte zu testen, die denen in Osteuropa ähnlich waren. Nach neuesten Forschungen kamen bei dem Angriff ca. zwei- bis dreihundert Menschen zu Tode, also nicht knapp ein Drittel, wie der Abschlussbericht der Expertenkommission zur documenta fifteen behauptet,[1] sondern ca. fünf Prozent der Bevölkerung bzw. weniger, wenn man die unbekannte Zahl der ebenfalls anwesenden, flüchtenden Zivilisten und Milizen miteinrechnet.[2]

Ähnliches geschah nicht nur in Guernica, und nicht nur während des Nordfeldzuges, sondern in vielen kleineren spanischen Städten und auf zahlreichen Straßen – von den Großstädten Madrid und Barcelona ganz zu schweigen. Die ausschließliche Fixierung der Nachkriegserinnerung und -debatten auf Guernica lässt sich also weder mit militärischer Relevanz noch mit außergewöhnlich hohen Opferzahlen oder einem besonders rücksichtslosen Vorgehen erklären. Stattdessen kamen hier kollektive Ängste und Projektionen, banale Umstände und handfeste politische Interessen zusammen, um jenes Bild von „Guernica“ zu generieren, das bis heute – bar jedes historischen Wissens – die öffentliche Wahrnehmung dominiert.

Die Fülle des Halbwissens

Dieses diffuse Nichtwissen zeigte sich wieder einmal anlässlich der öffentlichen Debatte um den Zyklus „Guernica Gaza“ des palästinensischen Künstlers Mohammad Al Hawajri, der auch im Abschlussbericht des fachwissenschaftlichen Gremiums zur Begleitung der documenta fifteen im Hinblick auf seinen antisemitischen Gehalt untersucht wurde. Bald nach der Entfernung des Wandbildes von Taring Padi waren diese Werke in den öffentlichen Blick geraten, wobei „Blick“ ein wenig beschönigend klingen mag in einem Kontext, in dem es eine unheilvolle Direktverbindung von Twitteraccounts über die sogenannten seriösen Medien hin zur Staatsanwaltschaft gegeben hat. Letztere wurde, nach eigenen Aussagen, noch im Juni aufgrund der Medienberichterstattung zum Antisemitismus auf der Documenta aktiv und prüfte den Anfangsverdacht eines strafbaren Verhaltens; später kamen mehrere Anzeigen hinzu.[3]

Die Tatsache, dass Al Hawarji auf Einladung des schon vor der Eröffnung unter Antisemitismusverdacht gestellten palästinensischen Kollektivs The Question of Funding nach Kassel gekommen war, mag hierbei eine Rolle gespielt haben. Im Bericht des fachwissenschaftlichen Gremiums tauchen die Vorwürfe gegen The Question of Funding allerdings ebenso wenig auf wie die diese wiederlegenden Artikel des deutsch-israelischen Journalisten und Islamwissenschaftlers Joseph Croitoru.[4] In der Ausstellung des Kollektivs Eltiqa Group for Contemporary Art war Al Hawarji mit fünf Werken aus seiner Serie „Guernica Gaza“ vertreten, in der er bekannte Werke der europäischen Kunstgeschichte (von Delacroix, Millet, Chagall, van Gogh) verfremdend mit Fotos aus Gaza collagiert, auf denen israelische Soldaten oder Bomben eine friedliche, meist pastorale Landschaft und ihre Menschen bedrohen. Die Werke sind Teil eines größeren Zyklus, der zwischen 2010 und 2013 entstanden ist. Im sehr umfangreichen Begleittext zu diesen Werken reflektiert Al Hawarji ausführlich, was es bedeutet, als Künstler in Gaza zu leben und zu arbeiten, berichtet von seinen Produktionsbedingungen, zu denen auch gehört, dass man aufgrund der politischen Verhältnisse nicht einfach nur Blumen malen könne, sondern die umgebende Realität mit reflektieren müsse.

Die Reaktion der medialen Öffentlichkeit auf diese fünf Collagen war relativ einförmig: So beklagte der Kunsthistoriker Andreas Mertin in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen die dichotome Darstellung: „Die Botschaft lautet: Alles, was für Humanität steht, wird durch Israel zerstört. Ich glaube nicht, dass das Werk deshalb schon antisemitisch ist. Aber Israel wird hier als das Böse dargestellt. Damit ist der Gaza-Guernica-Zyklus exemplarisch für palästinensische Propaganda.“[5]

Andere sprachen von einer „mediokren Collage“, die „Israelis als Faschisten und Angreifer, die Palästinenser als Opfer und Märtyrer“[6] zeichne oder von einer „plumpe(n) Analogie zwischen der Auslöschung der Bevölkerung in der spanischen Stadt Guernica und der Siedlungspolitik Israels“[7] bzw. einer Täter-Opfer-Umkehrung: „Der Gaza-Guernica-Zyklus von Mohammed al Hawajri verdrehe den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern und dämonisiere Israel“, dekretierte zum Beispiel der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in der Jüdischen Allgemeinen.[8] In eine ähnliche Richtung äußerte sich im Nachgang zur Documenta der Leiter des Kunstressorts der FAZ, Stefan Trinks, in einer ARD Dokumentation zum Thema: „Es ist einfach historisch ein absolutes Verbrechen, die Vernichtung und Auslöschung von Guernica im Baskenland und die geplante Vernichtung dieses gesamten baskischen Volkes durch Franco und Hitler mit dieser Problematik im Gazastreifen in einem Titel zu vergleichen. Das geht weder kunsthistorisch wie historisch.“[9]

Als Historikerin, die sich über mehrere Jahre intensiv mit dem militärischen Einsatz der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg befasst hat,[10] war ich zwar mit der historischen Genese des Unwissens zu diesem Thema vertraut. Im Kontext eines darauf aufbauenden Antisemitismusvorwurfs bekommt dies jedoch eine andere, im Zweifelsfall auch strafrechtliche Relevanz. Dass es sich dabei jedoch nicht um in der Hitze der Debatte schnell benutzte Diffamierungs-Bausteine handelte, sondern eher um ein generell verbreitetes, sedimentiertes Halbwissen über die deutsche Intervention im spanischen Bürgerkrieg lässt sich schnell belegen. Um nur ein Beispiel zu nennen: „Vor 60 Jahren flog Hitlers Luftwaffe den ersten Vernichtungsangriff der Geschichte gegen die baskische Stadt Gernika. Tausend Zivilisten starben” titelte die Taz am 25.4.1997.[11] An diesem Satz ist alles falsch, sogar das Datum. Und dass dies ein Problem von rechts bis links zu sein scheint, ist kein Zufall, wie der Blick auf die Überlieferungsgeschichte des historischen Ereignisses „Guernica“ belegt, die der britische Historiker Herbert Southworth schon 1977 ein Lehrstück in „Journalismus, Diplomatie, Propaganda und Geschichte"[12] genannt hat. Um dies zu verdeutlichen, werde ich zunächst kurz auf die Genese dieses „Lehrstücks“ eingehen müssen, um anschließend auf einige Verkürzungen im fachwissenschaftlichen Abschlussbericht hinzuweisen.

Ein Glied in der Kette der Bombardierungen

Die „Schrecken des Luftkriegs“ gehörten seit dem Ersten Weltkrieg zum Arsenal der populären Horrorszenarien, die das Denken über den kommenden Krieg in Europa beherrschten.[13] Berichte aus Spanien jagten in den 30er-Jahren vermutlich den Großstadtbewohnern in allen europäischen Ländern einen Schauer über den Rücken, nun konnten – oder mussten – sich auch noch so frontferne Zivilisten als potenzielle Opfer in einem nächsten Krieg imaginieren. Es war jedoch weniger die nationalsozialistische Propaganda als die Berichterstattung der demokratischen Länder, die dazu beitrug, eine hypernervöse Erwartungshaltung zu kreieren, die durch jeden Bericht aus Spanien weiter angeheizt wurde. In Paris und London sah man sich als kommende Gegner jener deutschen Luftmacht, die im Spätsommer 1936 am Beispiel einer weiteren europäischen Hauptstadt, nämlich Madrid, das durchexerzierte, was, so fürchtete man, das Schicksal aller Metropolen im kommenden Krieg sein würde. Dementsprechend konzentrierte sich die geballte Aufmerksamkeit der Medienvertreter auf den Luftkrieg in Spanien.

Die identifikatorische Phantasie der europäischen Beobachter wurde zusätzlich angeheizt durch öffentliche Drohungen der aufständischen Generäle, die an brutaler Deutlichkeit, und ja, auch an Vernichtungswünschen gegenüber den „Roten“ nichts zu wünschen übrigließen. Für unseren Kontext ist es jedoch wichtig zu betonen, dass dies ausgerechnet den Offizieren der Legion Condor „blödsinnig“ (Richthofen), ja kontraproduktiv vorkam.[14] Sie führten diesen Krieg ohne überbordende Emotionen, auch ohne großen ideologischen Überschuss: Es ging gegen „Rot“, wie zuvor in Deutschland und wie nach 1945 auch. Dennoch, die rhetorischen Grundlagen waren in London, Paris und Salamanca bereits gelegt, bevor die Nordoffensive begann, die, wie man zynisch formulieren könnte, die Erwartungen der medialen Öffentlichkeit voll und ganz erfüllte. Während die ersten Bombardierungen mit Hunderten von Toten, etwa von Ochandiano oder Durango, jedoch international keine weitere Aufmerksamkeit erregten, weil keine auswärtigen Korrespondenten vor Ort waren, änderte sich dies im Falle Guernicas.[15] Zwei Faktoren spielten hierbei eine Rolle: Zum einen die symbolische Bedeutung der Stadt für den baskischen Nationalismus, zum anderen, und mindestens ebenso wichtig, die Anwesenheit von drei englischen und einem belgischen Journalisten sowie einem baskischen Priester, der qua Amt als besonders glaubwürdiger Zeuge galt.

Wer auch immer wann genau welche Details über den Ablauf der Bombardierung erfahren oder geglaubt haben mag, sicher ist, dass die Fokussierung auf Guernica auch zur Folge hatte, dass die vorhergehenden und die nachfolgenden Angriffe auf Ortschaften und Städte im Norden kaum zur Kenntnis genommen wurden.[16] Einzig die baskische Tagespresse mit ihren Berichterstattern vor Ort beschrieb Guernica damals als das, was es war: Ein Glied mehr in der Kette der Bombardierungen und Zerstörungen, die die aufständischen Generäle über den Norden gebracht hatten – und man warnte, nicht zu Unrecht: „Gestern Durango, heute Guernica, morgen Bilbao!“[17]

Und übermorgen Barcelona, hätte man aus gesamtspanischer, aus republikanischer Sicht hinzufügen können. Dass man dies bis heute nicht tut und gerade die Angriffe nach Guernica – wie im übrigen auch die gesamte italienische Luftkriegsführung in Spanien – völlig aus der kollektiven Erinnerung verschwunden sind, lässt sich wiederum auf mehrere Faktoren zurückführen, unter anderem auf die spezifischen Interessen des baskischen Nationalismus, für den die Zerstörung der „heiligen Stadt“ bis heute der ideologisch überhöhte Beleg dafür ist, dass der Bürgerkrieg vor allem eins war: Der Angriff der spanischen Zentralmacht auf das freie Euskadi.[18]

Aber es mag noch einen weiteren, bis in die Gegenwart wirkmächtigen Grund geben. Es ist bis heute nicht ganz geklärt, inwieweit die „Mai-Ereignisse“ in Barcelona, also die Zerschlagung der antistalinistischen Opposition im republikanischen Lager, einen Einfluss hatte auf den Medienhype um Guernica. Es wäre zumindest denkbar, dass die Zerstörung des Städtchens, deren Dimension genau zu diesem Zeitpunkt, Anfang Mai, bekannt wurde, gewissermaßen ein „gefundenes Fressen“ für den sowjetkommunistisch gelenkten Teil der europäischen Presse war, um von den dramatischen Vorgängen im eigenen Lager abzulenken – und dass sie dementsprechend mehr Aufmerksamkeit erhielt, als dies vielleicht sonst der Fall gewesen wäre. „Guernica“ wurde so zum machtvollen und auch nach dem Krieg immer wieder bemühten Symbol für die Brutalität des Faschismus im Allgemeinen, das durch den Anschluss an die spezifisch nationalsozialistischen Verbrechen eine besondere, geradezu mythische Aufladung erhielt, deren Wirkmacht bis heute anhält, wie die Debatte um den inkriminierten Bilderzyklus und auch die Argumentation des Abschlussberichtes zeigen.

Ein „substanzloses Zitat aus der Kunstgeschichte“

Der Antifaschismus als zentrale Motivation, sich wissenschaftlich mit Guernica zu beschäftigen oder politisch darauf zu beziehen, hat auch die deutsche Auseinandersetzung mit dem Thema geprägt und scheint sich in den eingangs erwähnten medialen Verkürzungen widerzuspiegeln. In den ersten Jahrzehnten stand diese noch im Schatten des Kalten Krieges und erschöpfte sich in einem akademischen Schlagabtausch zwischen Historikern[19] der BRD und der DDR. Seit den 1970er-Jahren jedoch wuchs in Westdeutschland das öffentliche Interesse an dem Thema und die öffentlichen wie historiographischen Debatten drehten sich fortan um die Verantwortung, Motive und Opfer der Bombardierung der baskischen Kleinstadt. Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der deutschen Intervention in Spanien und dem fast dreijährigen Einsatz der Legion Condor rückte dadurch in den Hintergrund.

Nun schlossen sich meist jüngere Historiker und Publizisten der „antifaschistischen“ Position an, während andere versuchten, die moralische Frage nach der grundsätzlichen Legitimität der Intervention dadurch zu umgehen, dass man untereinander und mit den spanischen Kollegen über Ziel, Verlauf und vor allem die Motive dieses einen Bombenangriffs stritt. Auf der politischen Ebene überboten sich die staatlichen Institutionen in ihrem Verhalten gegenüber der baskischen Stadt im gleichen Zeitraum an Peinlichkeiten und Würdelosigkeit. Dies endete erst mit einem 1997 öffentlich in Guernica verlesenen Schreiben des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, in dem er sich „zur schuldhaften Verstrickung deutscher Flieger“ bekannte und um „Versöhnung“ bat.[20] Die deutsche und italienische Mitverantwortung für die Toten des nie erklärten Bombenkrieges in ganz Spanien, für den Sieg Francos und seine Folgen ist jedoch bislang weder politisch noch gesellschaftlich auch nur ansatzweise aufgearbeitet worden.

Trotz der hier ausgeführten problematischen Fixierung ist „Guernica“ dennoch durchaus ein passendes Symbol für die Schrecken des Bombenkriegs im Allgemeinen – das sich jedoch weder in der Denunziation „faschistischen Terrors“ erschöpfen darf noch in der Eingemeindung von „Guernica“ in die Reihe spezifisch nationalsozialistischer Verbrechen, deren Gleichsetzung mit dem Vorgehen der israelischen Armee dann den Vorwurf des Antisemitismus begründen könnte:[21] Ja, sowohl die NS-Luftwaffe als auch die Legion Condor bombardierten zivile Ziele. Dies allerdings ist kein Alleinstellungsmerkmal des Nationalsozialismus, sondern dem Luftkrieg seit seiner Entstehung inhärent und zwar in jeder Armee der Welt.

Der fachwissenschaftliche Abschlussbericht bleibt im Falle des inkriminierten Bilderzyklus von Al Hawajri ambivalent, in dem er die Interpretationsmöglichkeiten des Konnexes zwischen Titel und Werk aufteilt in eine Variante, die „Guernica“ als historisches Ereignis betrachtet, und eine zweite, die sich lediglich auf „Guernica“ als Kunstwerk von Picasso bezieht. Im zweiten Fall handele es sich eindeutig nicht um Antisemitismus, im ersten Fall könnte, so der Abschlussbericht, dem im Titel des Zyklus enthaltenen Verweis auf die Bombardierung einer baskischen Kleinstadt insofern eine judenfeindliche Intention zu Grunde liegen, als dass dieser Angriff ein spezifisches nationalsozialistisches Verbrechen darstelle. Dies ist jedoch, wie gezeigt, schlicht nicht der Fall, da die deutschen Flieger zum einen auf Bitte und unter dem Oberbefehl Francisco Francos agierten, und zum anderen zivile Opfer, auch in großer Zahl, zum Wesen des modernen Luftkriegs gehören.[22] Und schließlich hat diese skrupulöse Aufteilung ohnehin wenig Sinn, da beides, das historische Ereignis und das Bild aufs engste miteinander verwoben sind.

Denn die hier beschriebene Geschichte der Mythologisierung der Bombardierung spiegelt sich interessanterweise in der Geschichte des berühmten Gemäldes von Picasso wider. Dieses entstand Anfang 1937 als Auftragsarbeit für den republikanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris und wurde erst nach seiner Fertigstellung, als Picasso die Nachrichten aus dem Baskenland erreichten, nach dem gerade bombardierten Städtchen benannt – weshalb sich auch keine visuellen Hinweise auf das historische Ereignis im Kunstwerk finden. Auf einer Bildpostkarte zu dem Gemälde wurde dessen intendierte Aussage folgendermaßen beschrieben: Pablo Picasso „wollte mit diesem Werk die Zerstörung der Welt ausdrücken, die von den Schrecken des Krieges überwältigt wird“.[23]

Das „Bild als Menetekel einer weltpolitischen Gefahr“: Das war die Strategie der spanischen Republik, die den Konflikt als Vorspiel zum Großen Krieg interpretiert wissen wollte, um so die Hilfe der Westmächte einzufordern; ein Wunsch, der sich weder 1937 noch 1945 erfüllen sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint es einigermaßen wohlfeil, dass das Bild nach dem Zweiten Weltkrieg, so der Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister, als „welthistorische Prophezeiung der Massenbombardements auf die Zivilbevölkerung von Coventry bis Hiroshima“ gelesen wurde. Für ihn ist die Einordnung dementsprechend klar: „Als politisch substanzloses Zitat aus der Kunstgeschichte, das keine Parteinahme mehr erfordert, begleitet das Bild bis heute die kriegerische Auseinandersetzungsform der Weltpolitik. Es wurde zum schematisierten Ausdruck einer prinzipienfesten, wirkungslosen Kritik innerhalb der medialen Bildkultur…zur kompensatorischen Ikone eines hypothetischen Friedenswillens, der sich seiner Aussichtlosigkeit bewusst ist“.[24]

Vor diesem Hintergrund scheint der Titel des inkriminierten Bilderzyklus tatsächlich auf bittere oder vielleicht auch zynische Weise sehr gut gewählt. Sein Inhalt verweist bewusst auf die europäische Kulturgeschichte, und Titel wie Inhalt zitieren Kriege, die gerade keine kolonialen oder nationalsozialistischen Vernichtungskriege waren. Wie man in diesem Kontext Francos Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung bezeichnen möchte, ist eine andere Frage, die man vielleicht denjenigen stellen sollte, die ihn nach 1945 bewusst an der Macht hielten.

Der Abschlussbericht, der sich neben der Auseinandersetzung mit „Guernica“ noch an einer bildimmanenten Deutung versucht,[25] bleibt auch hier bewusst vage und stellt fest, dass beide, eine antisemitische und eine nicht-antisemitische Lesart möglich sind, um dann jedoch implizit wertend anzuschließen, dass genau diese Zweideutigkeit „möglicherweise … intendiert“[26] gewesen sei. Es fällt schwer, diese Überlegung vom Kontext, in diesem Fall der Herkunft des Künstlers und der medialen Vorverurteilung zu trennen. Denn ausdrücklich betont das Gutachten, dass in den ausgestellten Werken „keine explizit antisemitische Bildsprache verwendet“ wird. Was übrig bleibt, ist letztlich ein auch in diesen Bildern zweifelsohne zu Tage tretendes Denken in einem radikalen Freund-Feind-Schema, in der „die Anderen“ die Täter sind, die das Böse an sich symbolisieren, und die „Eigenen“ gute, friedvolle und leidende Opfer. Diese diskursive Dichotomie wiederum ist keine Spezifik des Nahostkonflikts und noch nicht einmal des Nahen oder Fernen Ostens, sondern intrinsischer Bestandteil jeder kriegerischen, gewalttätigen Auseinandersetzung, wie wir zur Zeit wieder einmal auf unserem eigenen Kontinent feststellen können.

  1. Abschlussbericht des fachwissenschaftlichen Gremiums zur Begleitung der documenta fifteen, S. 54.
  2. Jordi Solé i Sabaté/Joan Villaroya, Espana en llamas, Madrid 2003, S. 91; vgl. auch Michael Alpert, Franco and the Condor Legion, London 2019, S. 125-132.
  3. HNA vom 29.6.2023.
  4. FAZ vom 31.1.2022.
  5. HNA vom 8.8.2022.
  6. NZZ vom 4.11.2022
  7. Dominik Kamalzadeh, „Documenta – die Naivitätsfalle – wie man an den eigenen Ansprüchen scheitert“, in: Der Standard, 25. Juni 2022.
  8. Jüdische Allgemeine vom 10.8.2023.
  9. www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/videos/der-documenta-skandal-video100.html
  10. Stefanie Schüler-Springorum, Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939, Paderborn 2010.
  11. https://taz.de/Vor-60-Jahren-flog-Hitlers-Luftwaffe-den-ersten-Vernichtungsangriff-der-Geschichte-gegen-die-baskische-Stadt-Gernika-Tausend-Zivilisten-starben-Gestern-weigerte-sich-der-Bundestag-ein-Bekenntnis-deutscher-Schuld-auch-nur-zu-debattieren/!1403370/ „Gernika“ ist die aktuelle, baskische Schreibweise, „Guernica“ die spanische, die auch im angelsächsischen Raum verbreitet ist. Aus Gründen der Einheitlichkeit benutze ich in diesem Text die zweite Schreibweise.
  12. So der Untertitel seines Klassikers: Herbert Southworth, Guernica! Guernica! A study of journalism, diplomacy, propaganda and history, Berkeley 1977.
  13. Die folgenden Ausführungen finden sich in einer ausführlicheren Fassung in: Stefanie Schüler-Springorum, Mythos Guernica. Projektion, Propaganda, Politik, in: Jörg Arnold/Dietmar Süß/Malte Thießen (Hrsg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttingen 2009, S. 84-100.
  14. Stefanie Schüler-Springorum, Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939, Paderborn 2010, S. 186.
  15. Claude G. Bowers, My Mission to Spain. Watching the Rehearsal for World War II, New York 1954, S. 343; vgl. auch Noel Monks, Eyewitness, London 1955, S. 89-117, vor allem S. 92.
  16. Vgl. z.B. den Bericht Richthofens an Kindelan, 9.8.1937 in: Archivo Histórico del Ejército del Aire (AHEA), A, Leg. 958/3; BA-MA, RL 2 IV, Bd. 3.
  17. Vgl. Carmelo Garitaonandia, Información y propaganda en torno al bombardeo de Guernica, in: Manuel Tuñón de Lara (Hg.), Gernika: 50 años después (1937-1987). Nacionalismo, República, Guerra Civil, San Sebastián 1987, S. 193-215, S. 201.
  18. Antonio Elorza, Guerra y Fueros en los orígines del nacionalismo vasco, in: Manuel Tuñon de Lara (Hg.), Gernika, 50 años despues. Nacionalismo, Republica, Guerra civil, San Sebastian 1988, S. 11-23, S. 13.
  19. Nach meinem Kenntnisstand waren nur männliche Kollegen an dieser Diskussion beteiligt.
  20. Wortlaut der Rede ist abgedruckt bei Michael Kasper, Gernika und Deutschland, Geschichte einer Versöhnung, Gernika 1998, S. 87.
  21. In diesem Kontext sei zudem darauf hingewiesen, dass auch Aba Kovner, Held des jüdischen Widerstands und israelischer Offizier, Schriftsteller und Israelpreisträger, schon 1948 das Vorgehen der israelischen Armee im Unabhängigkeitskrieg mit „Guernica“ verglich, vgl. Hannan Hever, From Revenge to Empathy, Abba Kovner from Jewish Destruction to Palestinian Destruction, in: Bashir Bashir/Amos Goldberg, The Holocaust and the Nakba. A New Grammar of Trauma and History, New York 2019, S. 275-292.
  22. Vgl. Klaus A. Maier, Guernica 26.4.1937. Die deutsche Intervention in Spanien und der „Fall Guernica“, Freiburg 1975, S. 39-54; noch detaillierter die Argumentation bei Southworth, Guernica! Guernica!, Kap. III.3; Rolf-Dieter Müller, Der Bombenkrieg 1939-1945, Berlin 2004; W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München/Wien 1999.
  23. Otto Karl Werckmeister, Picassos Guernica. Vom propagandistischen Auftragsbild zur politischen Ikone, in: Gerhard Paul, Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 1: 1900-1949, Göttingen 2009, S. 524-531, S. 527.
  24. Ebd., S. 530.
  25. Vgl. Abschlussbericht, S. 55-62. Ob man von einem 1976 in Gaza geborenen Künstler erwarten kann, dass er die biblische Geschichte von Ruth und Boaz kennt bzw. sie auf dem Bild von Millet wiedererkennt, ob ein sterbender oder toter Mann in den Armen einer Frau universell auf den toten Jesus und damit auf den antijüdischen „Gottesmord“-Vorwurf verweist, und ob tote Kinder in einer Gruppe von Leichen die „Kindermörder“-Trope herbeizitieren, all dies wäre zunächst einmal zu diskutieren.
  26. Ebd., S. 62.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Erinnerung Geschichte Gewalt Kolonialismus / Postkolonialismus Kunst / Ästhetik Öffentlichkeit

Stefanie Schüler-Springorum

Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum leitet seit 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Sie forscht zur deutsch-jüdischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, zur Geschichte des Nationalsozialismus und zur Erinnerungskultur in Deutschland und Spanien.

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