Jürgen Kaube, André Kieserling | Essay | 22.09.2022
Hass im Netz
Vorabdruck aus „Die gespaltene Gesellschaft“ von Jürgen Kaube und André Kieserling
Arm gegen Reich, Jung gegen Alt, Land gegen Stadt, Ost gegen West oder anhaltende Konflikte um Identitäts-, Glaubens- oder Genderfragen – die Spaltung der Gesellschaft scheint allgegenwärtig. Mit ihrem am 18. Oktober diesen Jahres bei Rowohlt Berlin erscheinenden Buch gehen Jürgen Kaube und André Kieserling dieser Diagnose auf den Grund und verfolgen das Ziel, Orientierung in einer unübersichtlichen Lage zu bieten. Wir veröffentlichen schon heute einen Vorabdruck aus der Neuerscheinung und danken den beiden Autoren sowie dem Verlag herzlich für diese Möglichkeit.
Die Redaktion
Eine andere Spaltungsdiagnose betrifft die zunehmende Verrohung und den zunehmenden Rechtsradikalismus auf manchen Plattformen der Onlinekommunikation. Es kommt zu Beleidigungen erheblicher Stärke, zu Aufrufen, sich vom «System» und seinen Vertretern abzuwenden, zu Gewaltandrohungen gegen diese Vertreter. Der Tatbestand selbst ist unstrittig, zu diskutieren sind seine vermuteten Ursachen und Wirkungen.
Die schlimmen Wirkungen werden im Begriff der Radikalisierung zusammengefasst. Man fürchtet, dass es nur eine Frage der Zeit sein könnte, bis auf die schrecklichen Worte, die Mitteilung von Verachtung und die Androhung von Gewalt, die dazu passenden Taten folgen. Die Ursachen werden vor allem in der Unzufriedenheit mit politisch zugemuteten Leistungskürzungen gesehen, und zwar bevorzugt von Linken, die diese Politik als neoliberal ablehnen, eigene Alternativen dazu aber seit Jahrzehnten ohne politischen Erfolg anbieten, und darum dem klassischen Bestand an Argumenten zugunsten einer stärkeren Umverteilung von oben nach unten nun eine weitere Überlegung hinzufügen. Danach ist der Verzicht auf den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaats nicht nur ungerecht, sondern gefährlich, da er dazu führe, dass sich zunächst das Reden und dann auch das Handeln der Betroffenen ins Rechtsradikale verschöben. Die Bedrohungen, die vom Kapitalismus und seinen Krisen sowie von der «Globalisierung» ausgehen, ließen, kurz gefasst, ein Bedürfnis nach Sicherheit aufkommen, das für autoritäre Politik empfänglich mache.[1]
Beiden Diagnosen liegt eine deutlich überintegrierte Sicht der sozialen Realität zugrunde. Beide verkennen das, was Niklas Luhmann einmal die Zusammenhanglosigkeit der politischen Rollen genannt hat. Machen wir uns dies zunächst am Beispiel der angenommenen Ursachen klar.
Natürlich ist es möglich, auf Enttäuschungen in der Rolle des Leistungsempfängers zu reagieren, indem man sich den Systemablehnern im Internet anschließt, und sicher wird man Leute finden, deren Protestbiographie diese Form hat. Aber die Rollen, um die es hier und dort geht, sind voneinander so verschieden, dass man den Rollenwechsel nicht als Normalfall erwarteten kann. So kann man das Grundsätzliche jener Ablehnung nicht gut damit begründen, dass einem die politisch beschlossenen Kürzungsprogramme nicht passen, denn dann läge es näher, sich auf den üblichen Wegen für ihre Änderung einzusetzen, als außerparlamentarisch gegen das Ganze zu opponieren. Überhaupt lässt sich radikale Ablehnung schlecht mit persönlichen Interessen begründen Der Ablehner muss vielmehr versichern, dass er Volk und Nation in unmittelbarer Gefahr wähnt, und genau so wird ja auch kommuniziert. Man kann schlecht sagen: Ich wurde arbeitslos und deshalb Anhänger der Rechten.
Die neue Rolle eignet sich also gar nicht, um Enttäuschungen in der alten zum Ausdruck zu bringen, und das wird die Bereitschaft mindern, sie als Anschlussrolle zu wählen. Und so wie es Enttäuschte genug gibt, die keinen Rollenwechsel vollziehen, so gibt es auch Nichtenttäuschte in großer Zahl, die trotzdem pöbeln. Die Forschungen zu populistischen Parteien von rechts halten mit unterschiedlichem Erstaunen fest, dass sich ihnen nicht nur Zurückgesetzte im Osten, sondern auch baden-württembergische Diplomingenieure anschließen. Der Zusammenhang zwischen den Zumutungen einer demokratisch legitimierten Politik und dem massenhaften Auftritt von Systemgegnern ist insofern nicht so eng, dass man diesen auf jene zurückführen könnte. Das würde schon im Blick auf ältere Wirtschaftskrisen, etwa der siebziger Jahre, nicht funktionieren. Die Wendung von Teilen des Publikums ins Radikale ist nicht einfach die Wirkung einer Ursache, die man zusammen mit dieser blockieren könnte. Sie ist vor allem nicht der unausweichliche Effekt einer Politik, die Opfer verlangt oder Härten zumutet.
Sozialismus oder Barbarei? Es wäre schön, wenn es so wäre, denn dann könnte man den politischen Konsens im Grundsätzlichen kaufen und würde dafür nur die Beweglichkeit im Bereich der Sozial- und Finanzpolitik verlieren. In Wahrheit blockiert die Differenzierung der Publikumsrollen die Ausbildung solcher tauschförmigen Zusammenhänge. Weder sind die Empfänger von Wohltaten zu politischer Dankbarkeit verpflichtet, noch kann sich das Opfer von Kürzungen sogleich rächen. Dem politischen System beschert das einerseits die Möglichkeit, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen, und das ist für eine Entscheidungsinstanz, die es nicht allen recht machen kann, essenziell. Andererseits verliert es die Möglichkeit, das eigene Bestandsinteresse als Entscheidungskriterium zu verwenden. Aus dem verständlichen Bedürfnis, die Zahl der Systemablehner möglichst kleinzuhalten, folgt wenig, solange man nicht wissen kann, woran es liegt, ob jemand auf eine politische Zumutung in der einen oder anderen Weise reagiert. Das politische Problem mit den Systemablehnern ist denn auch viel ernster, als eine Zurechnung auf den Neoliberalismus es wahrhaben will. Es liegt gerade darin, dass man die Bedingungen nicht in der Hand hat, von denen ihr Aufkommen abhängt.
Die Vorstellung, wenn wir den politisch Entfremdeten nur mehr Geld geben, dann gewinnen wir sie zurück, beruht auf der irrigen Verallgemeinerung von Interaktionserfahrungen. Im Falle einer aufgebrachten Menge, die konkrete Forderungen stellt, kann man sich Ruhe durch Entgegenkommen ertauschen. Aber hier ist ja auch die Situation selbst schon als Verhandlungssituation definiert. Auf der Ebene des politischen Systems gibt es dazu keine Entsprechung. Die politische Wahl ist zum Beispiel gerade nicht als Tausch von politischer Unterstützung gegen politische Wunscherfüllung gedacht.
Der Rolle des rechten Haters fehlt es nicht nur an festen, zwingend zu durchlaufenden Zubringererfahrungen in anderen Rollen, es fehlt auch an problemlos erreichbaren Anschlussrollen. Es gibt Stufen der Radikalisierung, aber es besteht kein Zwang, die höchste oder auch nur die nächste davon zu erreichen. In der Regel bleibt es bei der ersten Stufe. Das liegt daran, dass die Rolle des Systemablehners eigentlich aus zwei Rollen oder Rollengruppen besteht, die ihrerseits in zwei Hinsichten deutlich differenziert sind. Sie unterscheiden sich im Grad ihrer Vereinbarkeit mit anderen Rollen ihres Trägers, und sie unterscheiden sich eben deshalb auch voneinander, und zwar ungefähr so wie Reden und Handeln. Etwas überspitzt könnte man von Rollen für Maulhelden und für Märtyrer sprechen. Grad und Art dieser Rollendifferenzierung können erklären, warum der Wechsel aus der einen in die andere Rolle nicht nur selten ist, sondern erlaubtermaßen verweigert wird.
Die erste Rolle, die der «Maulhelden», kann auf Plattformen, die sich auf den Ausdruck politischer Entfremdung spezialisiert haben, nach kurzer Sozialisationszeit von jedem übernommen werden, der die entsprechenden Symbole für generalisiertes Misstrauen zu handhaben weiß. Sie verlangt nur den Gratismut dessen, der sich in öffentlicher, aber der direkten Begegnung entzogener Kommunikation damit befasst, angebliche Verschwörungen aufzudecken, Morddrohungen gegen ihre vermeintlichen Drahtzieher auszustoßen und Umsturzpläne unbestimmten Inhalts und unbestimmter Trägerschaft zu ventilieren. Sie ist durch Unverantwortlichkeit der Kommunikation ausgezeichnet und darum wie geschaffen fürs folgenlose Dampfablassen.
Machen wir uns das an der Besonderheit dieser Plattformkommunikation etwas klarer. An sich bedeutet Öffentlichkeit den Kollaps der Rollendifferenzierung, die Aufhebung der Trennung von Partnern und Publikumskreisen. Beliebige Dritte können die öffentliche Kommunikation mitverfolgen, und das beschränkt die Möglichkeiten, sich nur einer einzigen Gruppe zuzuwenden, also etwa nur zu den Glaubensbrüdern, den Geschlechtsgenossen, den politisch Gleichgesinnten und so weiter zu sprechen. In diesem Sinne wirkt der Zwang zur Öffentlichkeit als Zwang zur sozialen Generalisierung von Darstellungen. Man orientiert sich, und wenn es im Modus der Heuchelei wäre, an Wertgesichtspunkten, die gesellschaftsweit institutionalisiert sind und denen niemand die Unterstützung versagen kann. Das stärkt den Glauben an die allgemeine Verbreitung der jeweils vorherrschenden Ideologie, etwa zugunsten der von ihren Gegnern so genannten Political Correctness.
Andererseits ist man an solche gefälligen Darstellungen auch nur in der Öffentlichkeit gebunden. Wer, sagen wir, aus der Talkshow in das Wahlkampfteam seiner Partei übergeht, muss den Unterschied der Sprechsituationen berücksichtigen. Würde alles publiziert, was über den politischen Gegner und die eigenen Leute gesagt wird, könnte das leicht die politische Karriere kosten. Wenn man kontroversere Darstellungen ausprobieren möchte, empfiehlt sich die vertrauliche Kommunikation, und natürlich wird das Netz massenhaft auch in diesem Sinne genutzt, was dann wieder attraktive Ziele für Hackerangriffe schafft. Man kann sich leichter ins Ungefällige hineinwagen und sich schließlich auf extremen Positionen wiederfinden, aber nur unter Verzicht auf ein breites Publikum.
Ein dritter Fall liegt vor, wenn diese Art der Hinterbühnenkommunikation zugleich öffentlich einsehbar ist, aber die Anonymität der Beteiligten den Zwang zur Generalisierung beseitigt. Es werden dann extreme Meinungen vor einer prinzipiell unbegrenzten Leserschaft ausgetauscht, aber das große Publikum übt keine mäßigende Wirkung mehr aus; es soll vielmehr gerade provoziert und erschreckt werden – so wie die Zuschauer einer extremistischen Demonstration.
Die Publizität des Haters soll die Anonymität seiner Teilnahme rechtfertigen, etwa mit dem Argument, der Arbeitgeber könne lesen, was gepostet wurde, und dem Schmäh- und Hassredner dann irgendwelche Schwierigkeiten machen. In der Debatte über ein anonymes studentisches Internettagebuch zur Kritik von Vorlesungen eines Berliner Politologieprofessors – kein Fall von Hetze, sondern von Polemik – wurde in diesem Sinne argumentiert. Die Anonymität schütze die Studenten davor, Objekt strafender Maßnahmen zu werden, etwa schlechte Zensuren durch den Angegriffenen zu erhalten. Aber das ist nur die Ideologie der Namenlosigkeit. Ihre tatsächliche Funktion besteht darin, die Unverbindlichkeit der Kundgaben zu erhöhen. Die Anonymität schützt vor jeder Verantwortung, zu der Außenstehende einen ziehen könnten, und erleichtert es so, sich auf gewagte Positionen zu begeben. Aber sie führt auch dazu, dass die Beteiligten einander nicht erkennen würden, wenn sie es in anderen Rollenzusammenhängen miteinander zu tun bekämen, und dass es daher auch nicht bemerkt werden würde, wenn etwa der Ausländerfeind aus dem Netz zu seinen türkischstämmigen Nachbarn die besten Beziehungen unterhält. Es fehlt also nicht nur die externe Kritik an der abweichenden Meinung, sondern auch die interne daran, dass sie nicht konsequent genug vertreten wird. Beides mag, indem es ihr die Folgenlosigkeit sichert, die verbale Radikalisierung erleichtern. Nur zum Vergleich: Die Kommunikation auf Dating-Seiten ist demgegenüber sehr viel weniger von der Person getrennt, weil sie späteren Tests in der Interaktion standhalten muss.
Die Unverantwortlichkeit, die der Hetzer kraft Anonymität genießt, ähnelt der Unverantwortlichkeit, die das Wahlgeheimnis dem Wähler sichert, und diese Ähnlichkeit reicht bis in Deutungsalternativen hinein. Hier wie dort findet man Beobachter, die aus der Unverantwortlichkeit auf Authentizität schließen (weil es keinen Gruppendruck gibt), und hier wie dort gibt es die soziologische Deutung, die aus der eigentümlichen Folgenlosigkeit des Verhaltens für die anderen Rollen des Handelnden den Schluss zieht, dass es sich um einen Extremfall von Rollentrennung handelt, der die sozial bekannte Person des Handelnden als Regulativ des Verhaltens ausschaltet und also auch nicht deren authentischer Ausdruck sein kann.
Die zweite Rollengruppe für Systemablehner, die der «Märtyrer», sieht dagegen die eigene Beteiligung an der Vorbereitung und Durchführung derjenigen Aktionen vor, über die zuvor nur schwadroniert wurde, und ist mit unabsehbaren Risiken verbunden. Der Hater kann in den Untergrund gehen, um von dort aus Anschläge oder Entführungen zu planen, und er kann einflussreiche Systemrollen nur dem Anschein nach übernehmen und sie insgeheim zur Systemunterwanderung nutzen: Beides ist als illegales Handeln permanent von Aufdeckung bedroht. Das exponiert den Kämpfer durch ernsthafte Gefährdung und zieht nicht selten auch seine Familie in Mitleidenschaft.
Solche Aussichten würden auf die erste Rolle zurückwirken, wenn irgendeine Verpflichtung zum Konsequentsein in sie eingebaut wäre. Es gäbe dann, vereinfachend formuliert, nicht viel mehr Hater als Untergrundkämpfer oder als Verschwörer, die sich auf der rechten Marschroute durch die Institutionen von Polizei, Justiz und Armee bewegen. Das ist jedoch nicht der Fall, da die Anonymität der Hasskommunikation ihr die Eigenschaft nimmt, Selbstdarstellung zu sein und den Darsteller zur Fortsetzung zu verpflichten. Die Bereitschaft zum Martyrium kann auch in der Gruppe der Ablehner nicht als Normalfall gelten, weil das die Zahl ihrer Mitglieder zu stark reduzieren würde, und gerade deshalb mag es die besondere Achtung der Szene eintragen, wenn doch einmal einer sich dazu entschließt. Die erste Rolle des Ablehners ist daher auch mit der Fortsetzung eines ganz normalen und unauffälligen Lebens diesseits von Untergrundarbeit und Konspiration voll kompatibel. Sie kann jederzeit von Dampfplauderern und Sonntagsnazis übernommen werden.
Man darf also nicht unterstellen, dass man es in den Systemablehnern mit politischen Aussteigern zu tun hat, die allenfalls vor Bewaffnung zurückschrecken. Anzunehmen, dass der Ablehner keinesfalls zur Wahl einer erträglichen Partei bereit sein könnte, würde ihm schon zu viel Konsequenz zubilligen. Alles sähe dann so aus, als könnte die Entscheidung für oder gegen normale Mitwirkung am politischen System nur mit Verbindlichkeit für ganze Personen getroffen werden. Aber das ist ja gerade die Frage, und dass eine positive Antwort sich nicht von selbst versteht, zeigte immer schon der Protestwähler, der die Parteien am rechten oder linken Rande unterstützt, aber nicht aus Überzeugung, sondern nur aus Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien der Mitte, an denen er eigentlich hängt, sowie als Denkzettel und Signal an diese, mehr Alternativen zu schaffen.
Wer als Protestwähler radikale Parteien unterstützt, muss das nicht tun, weil er ihre Regierungsbeteiligung begrüßen würde. Gerade der Umstand, dass damit nicht zu rechnen ist, mag ihm die Wahlentscheidung zugunsten der Radikalen erleichtern. Umgekehrt wäre es für ihn kein Widerspruch, sich von der gewählten Partei abzuwenden, sollte sie wider Erwarten doch einmal in die Lage kommen, demnächst die Regierung stellen zu können. Wahlen in Frankreich folgen oft diesem Muster, indem nämlich Extremisten vor allem vor der Stichwahl, aber sehr viel weniger in der Stichwahl unterstützt werden, und ganz ähnlich gibt es in Deutschland ein Gefälle zwischen der landes- und der bundespolitischen Unterstützung für rechte Parteien, das erst seit den auch bundespolitischen Erfolgen der AfD abnimmt.
Die Frage, ob einer das System zugleich ablehnen und es in den sinngebenden Prämissen für eigenes Handeln anerkennen kann, erscheint nur so lange absurd, wie man das längst schon erreichte Maß an Zusammenhanglosigkeit politischer Rollen nicht sieht. Wer einen Begriff wie «Eskalationskontinuum» ins Spiel bringt, um die Übergänge von Vorurteilen und Ressentiments zu parteipolitischen und schließlich kriminellen Organisationsformen der Systemfeindlichkeit zu beschreiben, bleibt die Antwort schuldig, wie sich denn die stark abnehmenden Gruppengrößen zwischen den Eskalationsstufen erklären lassen.[2] Ein anderes Beispiel für die durchaus nicht kontinuierlich aus Einstellungen folgenden Taten wären übrigens die raschen Wählerwanderungen von den etablierten zu den extremen Parteien und wieder zurück.
Die Rollen für Ablehner hängen also zusammen, weil die erste Rolle zu großen Teilen darin besteht, die Symbolik der zweiten zu konsumieren und dies zu genießen, aber sie sehen so Ungleiches und so ungleich folgenreiches Verhalten vor, dass ein Wechsel nur selten vorkommt. Er setzt offensichtlich soziale Anleitung voraus, und selbst die scheint vor allem bei isolierten und gestörten Personen zu fruchten. Es hängt dann von Unterschieden in der psychischen Verfassung der Beteiligten, also von einem gesellschaftspolitischen Zufall ab, wer diesen Schritt wagt. Die übliche Meldung, der Attentäter sei der Polizei als möglicher Gefährder bekannt gewesen, zeigt die Schwierigkeiten der Prognose, die sich daraus ergeben.
Was bedeutet diese Unterscheidung von redender und handelnder Systemablehnung aus der Sicht des abgelehnten Systems, sei es der politischen Ordnung, sei es der gesellschaftlichen? Es gibt einen hochselektiven Filter, der dafür sorgt, dass die Ablehnung normalerweise in expressivem Handeln stecken bleibt und Steigerungsmöglichkeiten nur innerhalb dieser Grenzen hat. Statt zu sprechen, kann man schreien, statt zu schimpfen, kann man fluchen, Beleidigungen gegen Politiker können durch Todeswünsche gegen Politiker ersetzt werden. Die Rollendifferenzierung ist zugleich eine Schwellendifferenzierung. Es gibt nicht eine einzige Schwelle, die den politisch Unauffälligen vom gewaltbereiten Fanatiker trennt, sondern es sind mindestens zwei Schwellen, von denen die erste extrem niedrig liegt und die zweite extrem hoch. Vielleicht kann man sagen, dass die niedrige Schwelle für Neugierige und Novizen den öffentlichen Ausdruck politischer Entfremdung so sehr erleichtert, dass man nicht fürchten muss, die Verbreitung solcher Einstellungen könnte unterschätzt werden. Eher schon könnte das Gegenteil zutreffen, und zwar vor allem dort, wo man die Funktion der Schwellendifferenzierung selber verkennt. Die «Anzahl ihrer wirklich treu ergebenen Unterstützerinnen und Unterstützer ist vernachlässigbar klein», heißt es in einer Studie zu extremistischen Bewegungen und ihrem Einsatz digitaler Technologien, die zugleich von «politischer Massenmobilisierung» spricht.[3]
Man wird einwenden wollen, dass der Hater radikale Parteien unterstützen kann. Das ist richtig. In diesen Parteien können sich dann Personen sammeln, die sich auf die radikale Position ansprechen lassen und verantwortlich für sie einstehen, und da die Unterstützung solcher Parteien ebenfalls durch unverbindliches Handeln erfolgt, gilt derselbe Zusammenhang von Anonymität und Enthemmung, von Rollenisolierung und Unwirksamwerden der sozialen Kontrollen auch hier. Es fällt leicht, rechte Parteien zu unterstützen, wenn man das für sich behalten kann, und das Wahlgeheimnis deckt auch diese Unverantwortlichkeit. Aber an den Empfängern der Unterstützung wiederholen sich die Probleme der Systemablehnung. Häufig handelt es sich um koalitionsunfähige Kleinparteien mit Pariastatus im Parlament. Auch ihr Handeln besteht dann im Wesentlichen aus Reden. Oder die Unterstützung gilt großen und regierungsfähigen Parteien, die dann sehr wohl auch handeln können, aber eben nicht so, wie geredet wurde.
Fußnoten
- Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I, Berlin 2018.
- Wilhelm Heitmeyer / Manuela Freiheit / Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II, Berlin 2020, S. 56 ff.
- Julia Ebner: Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren, Berlin 2019, S. 247, 173.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Stephanie Kappacher.
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