Lucia Killius, Corinna Schmechel | Veranstaltungsbericht | 04.11.2017
Herausfordernd
Erste gemeinsame Konferenz der Fachgesellschaft Geschlechterstudien e. V. (Deutschland), der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (ÖGGF) und der Schweizer Gesellschaft für Geschlechterforschung (SGGF) "Aktuelle Herausforderungen der Geschlechterforschung", Universität Köln, 28.–30. September 2017
Sich Herausforderungen zu stellen, ist keine leichte Aufgabe, vor allem, wenn diese vielfältig sind und immer wieder neue Formen annehmen. Ihre erste gemeinsame Tagung brachte die Fachgesellschaft Geschlechterstudien e. V. (Deutschland), die Österreichische Gesellschaft für Geschlechterforschung (ÖGGF) und die Schweizer Gesellschaft für Geschlechterforschung (SGGF) vom 28. bis 30. September 2017 an der Universität zu Köln zusammen, um „Aktuelle Herausforderungen der Geschlechterforschung“ zu diskutieren.
Auf dem umfassenden Tagungsprogramm standen „Fragen der globalen Ungleichheiten, der kulturalisierten und ethnisierten Konflikte, der Fluchtmigration, der Belastung ökologischer Ressourcen und deren technologischer Gestaltung“, aber auch Fragen zu „Krieg und gewaltförmigen Auseinandersetzungen sowie der Diskriminierung und Anerkennung körperlicher und sexueller Vielfalt“. Die genannten Herausforderungen, denen sich „die“ Geschlechterforschung stellen wollte, waren demnach breit gefächert. Eine Übersicht über die Vorträge ließ bereits erkennen, dass die Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind, die wir der Systematisierung halber in „intern“ und „extern“ unterteilen wollen. Unter „internen Herausforderungen“ verstehen wir solcherlei Fragen, welche fach-/disziplin-interne Auseinandersetzungen und das (Politische? Feministische? Oder dezidiert unpolitische?) Selbstverständnis der Gender Studies/Geschlechterforschung sowie die Bewertung der eigenen Rolle in Gesellschaft und Akademie betreffen. Bereits hier offenbart sich jedoch die Verwobenheit von internen und externen Herausforderungen.
Nicht unpassend ist vor diesem Hintergrund der Tagungsort Köln gewählt, wie auch SUSANNE VÖLKER (Köln) in ihrer Begrüßungsrede feststellte: Die Stadt ist durch die dortigen Ereignisse in der Silvesternacht 2015/2016 zum geflügelten Wort geworden. Dabei lässt sich der Umgang mit „Köln“ unter beide der genannten Kategorien subsumieren: als externe Herausforderung aufgrund der damit hervorgerufenen medialen rassistischen Diskurse und als interne, wenn es um die Frage geht, wie die konkrete sexistische und sexualisierte Gewalt thematisiert werden kann, ohne die zuerst genannten Diskurse zu bedienen oder gar zu befeuern.
Der Veranstaltungstitel der Jahrestagung, der ja die Thematisierung aktueller Herausforderungen verspricht, provoziert zunächst die Frage, was eigentlich „nicht aktuelle“ Herausforderungen der Geschlechterforschung wären. Möglicherweise handelt es sich bei einigen als aktuell bezeichneten Herausforderungen um Probleme, die – wenn auch anhand unterschiedlicher konkreter Gegenstände bearbeitet – die Geschlechterforschung immer schon begleitet haben? In der Auftakt-Podiumsdiskussion jedenfalls konstatierte MARIA MESNER (Wien) zur Position der „Geschlechterforschung im politischen Raum“, dass Gender beziehungsweise die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen, immer schon Reizthemen darstellten, weil sie Machtverhältnisse in Frage stellen würden. Als weiteren Grund führte ANDREA MAIHOFER (Basel) das (möglicherweise gewollte) Missverständnis an, das in der Annahme besteht, die Genderforschung habe überhaupt erst zur Pluralisierung von Geschlecht, Sexualität und Lebensformen geführt und befördere diese kontinuierlich. Ob es sich hierbei tatsächlich um ein grundlegendes Missverständnis handelt oder lediglich um die Überbewertung der Wirkmacht von Wissenschaft – die ja, geht man beispielsweise mit Foucault von Wissen als produktiver Machtform aus, tatsächlich zu einer Erweiterung des Denk- und Lebbaren beitragen kann – das wäre eine in diesem Rahmen zu weitgehende, wenn doch äußerst interessante und wichtige Frage. In der anschließenden, leider zu kurzen Diskussion mit dem Publikum wurde der Umgang mit aktuellen Angriffen auf die Geschlechterforschung thematisiert. Sowohl SVENJA SCHULZE (Generalsekretärin der SPD NRW, Deutschland) als auch Andrea Maihofer plädierten diesbezüglich für einen selbstbewussten Umgang: Schulze forderte dazu auf, die AfD gar nicht erst zum Thema zu machen und ihr so keine unnötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Zudem sollten die Gender Studies als selbstverständlicher Teil der Forschungslandschaft vertreten werden. Unterbelichtet blieb, so scheint uns, das Verhältnis und/oder die Differenzierung von Geschlechterforschung auf der einen und Gleichstellungspolitik / Emanzipationsbestrebungen / Feminismus auf der anderen Seite. Diese Leerstelle zeigte sich vor allem bei der Bewertung der Forschungsförderung im Bereich Geschlechterforschung, die zu großen Teilen an Gleichstellungsprogramme und -politiken geknüpft ist, die wiederum überwiegend auf einem binären Geschlechterverständnis basieren. Welche Implikationen, Gefahren oder Chancen für die Geschlechterforschung damit verbunden sind, blieb an dieser Stelle offen. Auch die Möglichkeiten des Umgangs mit rechten und rechtspopulistischen Entwicklungen wurden wenig diskutiert, was unter anderem dem zeitlich knappen Rahmen geschuldet sein mag.
In ihrer Keynote stellte SABINE HARK (TU Berlin) den massiven Legitimierungsdruck heraus, unter dem die Geschlechterforschung aktuell stehe. Sie werde von einflussreichen Akteur_Innen der Tagespolitik unter Vorwürfen der politischen Befangenheit und Unwissenschaftlichkeit angegriffen und darüber hinaus von Bevölkerungsteilen als bevormundender Eingriff in die intimsten und privatesten Bereiche der Beziehungs- und Familiengestaltung empfunden. Hark bezeichnete aktuelle Diffamierungskampagnen des „Anti-Genderismus“ als Regulierungspolitiken des Wahrheitsraumes zu Geschlecht – also als Politiken der Regulierung darüber, was über Geschlecht gewusst, gesagt und gedacht werden kann.
Hier schloss am nächsten Tag das – komplett von der Universität Wien besetzte – Panel zum Thema „Verstummen. Perspektiven der Legal Gender Studies“ unter Leitung von JOHANNA SCHLINTL sehr gut an. ELISABETH HOLZLEITHNER zeigte in ihrem Vortrag „Jetzt kann man das ja wieder sagen. Verstummen nach Trump“ auf, dass neue Sagbarkeiten stets auch Verstummen produzieren. So entstünde ein politisches Klima, das einerseits sexistisches oder rassistisches Verhalten legitimiere, und andererseits Betroffenen Äußerungsmöglichkeiten entziehe bzw. deren Äußerungen delegitimiere. Gleichsam wies sie auf entsprechende Widerstandskämpfe hin, beispielweise die „Pussy Hat“-Proteste und die „Women‘s Marches“ gegen Trump. Doch auch innerhalb dieser Widerstandskämpfe gibt es wiederum Kämpfe um Deutungshoheit, Zugehörigkeit und (Un)Sichtbarkeiten: interne und externe Herausforderungen überall. Dass solche Kämpfe um Sagbarkeiten unter anderem auch auf juristischer Ebene Konsequenzen entfalten, wurde am Fallbeispiel deutlich, welches ISABELL DOLL aus rechtswissenschaftlicher Perspektive analysierte. Anhand des Tatbestands der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz zeigte sie, wie die gängige Praxis in Gerichtsverfahren nach wie vor ein Verstummen der Opfer institutionalisiert. So erscheint es für Betroffene mitunter ratsamer, auf eine Anzeige zu verzichten, um Demütigungen und ein mögliches Sitzenbleiben auf Verfahrenskosten zu vermeiden, womit ihnen praktisch Grundrechte vorenthalten werden. Als weiteres aktuelles Beispiel für interne Herausforderungen im feministischen, politischen und akademischen Kontext zog indes MARIA SAGMEISTER den Diskurs um ‚Cultural Appropriation / Kulturelle Aneignung‘ heran. Sie machte die Paradoxie in der Konzeption des Phänomens deutlich, welche daraus entsteht, einerseits Kultur vor Ausbeutung und Aneignung schützen, ohne sie anderseits festschreibend definieren und bestimmten Subjekten als (il)legitim zusprechen zu wollen. Sagmeister erläuterte, wie sowohl durch das Phänomen selbst, das heißt durch Praktiken der ‚kulturellen Aneignung‘, als auch durch den entsprechenden Diskurs darüber vielseitige ‚Verstummungen‘ produziert werden. In der anschließenden Debatte wurde die Bedeutung der Unterscheidung von ‚Silencing‘ – also dem Zum-Verstummen-Bringen oder Unhörbar-Machen anderer – und dem selbstgewählten Verstummen als Kommunikationsverweigerung und politische Strategie deutlich.
Wie auch immer man sich zum Konzept der ‚Cultural Appropriation‘ verhält, feststeht, dass Rassismus und kolonialistische Denkmuster relevante interne Herausforderungen der Gender Studies darstellen. Die Arbeitsgruppe ‚Decolonizing Gender Studies‘ hatte sich diesen Aspekten verschrieben und dabei ganz bewusst den Begriff der Dekolonialisierung gewählt. MAISHA-MAUREEN AUMA (HU Berlin) wies auf die Gefahr hin, durch eine unkritische Übernahme bestimmter Diversity-Konzepte hierarchische und rassistische Strukturen zu verschleiern und letztlich eine De-Politisierung von Zugänglichkeitspolitiken zu betreiben. Dem zentralen Interesse der Veranstaltung, nämlich über konkrete Umsetzungen von theoretischen postkolonialen Erkenntnissen zu debattieren, konnte leider aufgrund des gewählten Formats nicht nachgegangen werden. Es zeigte sich einmal mehr, dass die Dekolonialisierung der Gender Studies (und der Akademie allgemein) nicht (nur) als separates Thema in einem geschlossenen Veranstaltungsrahmen behandelt werden kann, sondern jederzeit und überall präsent sein muss. Dies wurde beispielsweise im Panel zu „Transformationen in Körpern und Sexualitäten“ sehr deutlich, als die Leiterin MARILENA THANASSOULA (Köln) zum Abschluss darauf hinwies, dass alle Beitragenden des Panels unreflektiert und auch von der Zuhörer_Innnenschaft scheinbar unbemerkt ihren Analysen ganz selbstverständlich ein westliches und weißes Konzept von Sexualität und Körper(modifikation) zugrunde gelegt hatten.
Wenn auch nicht Dekolonialisierung, so war doch „Über den Tellerrand blicken“ das Ziel der von Nachwuchswissenschaftler_Innen gegründeten „AG Selbstverständnis“. Neben verschiedenen Vernetzungsmöglichkeiten wurden auch die aktuellen Herausforderungen und deren spezifische Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Nachwuchs der Gender Studies diskutiert. Durch den neoliberalen Umbau der Hochschullandschaft, Anfeindungen von „außen“ und eine oftmals prekäre Lebens- und Arbeitssituation besteht, so die einhellige Meinung des Plenums, umso mehr die Notwendigkeit, sich über Ländergrenzen hinweg auszutauschen und zu solidarisieren.
LUCY SUCHMAN (Lancaster) fügte der Liste an Herausforderungen der Geschlechterforschung mit ihrer Keynote eine weitere hinzu, nämlich die Erforschung neuer Technologien: Das Zusammenspiel von Körpern und Maschinen zu ergründen sei demnach besonders dringlich, etwa im Bereich moderner Kriegsführung, wo basierend auf dem technisch vermittelten Situationsbewusstsein (situational awareness) Entscheidungen getroffen werden.
Im Abschlussplenum wurde schließlich die bereits erwähnte Kritik an der Separierung bestimmter Selbstreflexionen in ‚Einzelveranstaltungen‘ bezüglich der Reflexion des binären Geschlechterverständnisses erneut angebracht. Zwar würden geschlechtliche Seinsweisen jenseits oder zwischen dem binären Geschlechterkonzept in einzelnen Panels thematisiert, aber eben als auf einzelne Veranstaltungen begrenzte Phänomene und nicht als der gesamten Veranstaltung zugrundeliegendes Geschlechtsverständnis. Positiv hervorgehoben wurden die stets vorhandene Möglichkeit zur Thematisierung von Problemen sowie der generell wertschätzende und respektvolle Umgang auch mit kritischen Äußerungen.
Dem Anspruch der kritischen Selbstreflexion als „interner Herausforderung“ wurde also begegnet, das Sichtbarmachen der eigenen Ausschlüsse bleibt aber eine fortdauernde Aufgabe. In Bezug auf "externe Herausforderungen" muss der Umgang der Disziplin mit Angriffen gegen (die?) Geschlechterforschung(en) ebenfalls kontinuierlich neu ausgehandelt werden. Die Rolle der Geschlechterforschung im Kontext bedeutsamer gesellschaftlicher Fragestellungen, wie etwa aktueller Migrationskrisen, ließ sich während der dreitätigen Konferenz nicht klären. Das lässt die Frage und den Vorschlag aufkommen, ob über Alternativen zu klassischen Konferenzformaten nachzudenken wäre, die mehr Raum für zielführende Debatten zu solch umfangreichen Fragen eröffnen. Hier konstruktive Formate zu finden, ist sicher herausfordernd, aber auch vielversprechend.
Vortragende:
- Sabine Hark (Berlin): Kontingente Fundierungen. Über Feminismus, Gender und die Zukunft der Geschlechterforschung in neo-reaktionären Zeiten
- Lucy Suchman (Lancaster): Intervening with Feminist STS at the Interface of Bodies and Machines
- Almira Ousmanova (Vilnius): The Power of Images: Feminist Art as Political Practice
Arbeitsgruppen und Foren:
- „Decolonizing Gender Studies“, AG Selbstverständnis (D)
- „Dialog Space – Wissenstransfer zwischen Gleichstellungspraxis und Geschlechterforschung in der Wissenschaft“, BuKoF (D), CEWS (D)
- „Geschlechterforschung im Open-Access“, AG Publizieren, Gender Open, Open Gender Journal (D)
- „Musik, Theater, Film im Gender/Queer Fokus “, AG Gender & Musik, Theater, Film (A)
- „Qualitative Sozialforschung reloaded.“, Workshop von Diana Baumgarten, Nina Wehner (CH)
- „Über den Tellerrand geblickt – Perspektiven in und mit den Gender Studies im deutschsprachigen Raum“, AG Perspektiven (D-A-CH)
Das ausführliche Programm der Konferenz finden Sie hier.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Tanja Carstensen, Imke Schmincke.
Kategorien: Technik Rassismus / Diskriminierung Politik Feminismus Gender
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Von der Schwierigkeit, Probleme zu benennen
Zwei Essaybände fragen nach den Voraussetzungen intersektioneller Kritik
Vom Reformer zum Revolutionär
Rezension zu „Du Bois. A Critical Introduction“ von Reiland Rabaka
Die vielen Gesichter der Ungleichheit
Zwei Neuerscheinungen erörtern Potenziale und Grenzen der Intersektionalität