Sebastian Kohl | Rezension | 22.10.2019
Herrschaftslehren des Kapitals
Rezension zu „Capital et Idéologie“ von Thomas Piketty
Sechs Jahre nach Erscheinen seines Bestsellers „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ hat Thomas Piketty im September ein weiteres Buch als Fortsetzung dieses vorherigen unter dem Titel „Capital et Idéologie“ bei der Pariser Édition du Seuil publiziert. Die deutsche Übersetzung wird im Frühjahr 2020 wieder bei C.H. Beck herauskommen, dem Münchener Verlag, der mit der Veröffentlichung von Pikettys letzter Monografie einen alle Welt erstaunenden, nicht zuletzt auch kommerziellen Überraschungserfolg verbuchen durfte. Dass ein mit ökonomischen Fragen befasstes und komplexe statistische Materialien präsentierendes Sachbuch ein derart starkes Echo in annähernd globalem Ausmaß auslöst und fast zwei Jahre andauernde Vortragsreihen vor dicht besetzten Auditorien nach sich zieht – allein im Berliner Haus der Weltkulturen fanden sich zu einem Auftritt des französischen Ökonomen fast 3000 Interessierte ein –, dürfte so manchen Autor zu einem wohl verdienten Rückzug animieren. Nicht so bei Piketty, dem die Beschäftigung mit dem schier unerschöpflichen Thema ökonomischer Ungleichheit augenscheinlich zur Berufung auf Lebenszeit geworden ist. Seit 2013 hat er, unterstützt von einem großen Team weltweit verteilter Ko-Autoren, zahlreiche Working Paper erarbeitet und die „World Inequality Database“ (WID) weiter ausgebaut. Viele der aus diesen Arbeiten und fortgesetzter Forschung hervorgegangenen Resultate sind jetzt in das neue Buch eingeflossen, das mit den 1232 Seiten der französischen Ausgabe alle bisherigen Abhandlungen aus der Werkstatt Pikettys noch einmal an Umfang in den Schatten stellt.
Während das „Kapital im 21. Jahrhundert“ gewissermaßen den Unterbau der Entwicklung ökonomischer Ungleichheit von Einkommen und Vermögen für die Zeit vom 19. Jahrhundert bis in unsere Tage nachzeichnete und in dem Befund mündete, das Ungleichheitsniveaus der Belle Époque (U-Kurve) sei in die Gegenwart zurückgekehrt, erweitert „Capital et Idéologie“ den ursprünglichen Ansatz. Wie schon der Titel des jüngsten Buches zu verstehen gibt, konzentriert sich Piketty nun auf die Beschreibung der Ideologien, welche die Stände- und Kolonialgesellschaften, die Marktgesellschaften des 19. Jahrhunderts, die sozialdemokratischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts bis hin zum zeitgenössischen Hyperkapitalismus begleitet haben. Jede dieser Gesellschaften brachte eine ihr eigene Ideologie hervor, deren Aufgabe darin bestand (und besteht), die Ungleichheiten zu rechtfertigen. Die für kapitalistische Sozietäten spezifische Legitimation liefert die Eigentumsideologie. Mithin lautet die zentrale These des Buches, dass die im 19. Jahrhundert aufkommende und im ausgehenden 20. Jahrhundert wiederkehrende Ideologie des zu schützenden Privateigentums maßgeblich für die U-förmige Ungleichheitsentwicklung verantwortlich sei, während egalitärere Ideologien sozialdemokratischer Provenienz spätestens ab den 1970er-Jahren ihr Momentum eingebüßt hätten. Den wohl zentralsten empirischen Befund liefert gegen Ende des Buches die aufschlussreiche Beobachtung, dass linke Parteien in fast allen untersuchten Ländern nach 1945 zunächst vermehrt von Bildungs- und Einkommensarmen gewählt wurden, seit den 1980er-Jahren aber immer stärker von den Bildungs- und Einkommensreichen. Demgegenüber hätten sich die armen Wählerinnen und Wähler in das wichtigste Elektorat rechter Parteien verwandelt.
Piketty versteht „Ideologie“ somit nicht bloß als epiphänomenalen Überbau, vielmehr macht er sie als einen bedeutsamen Kausalfaktor für das Entstehen der kapitalistischen Ungleichheit sowohl in der Belle Époque aus als auch für deren Wiedererscheinen ab den 1970er-Jahren. Dabei definiert er Ideologie ausdrücklich nicht mit pejorativem Zungenschlag als „bloße Ideologie“. Für ihn handelt es sich um relativ kohärente Weltanschauungen, die gewöhnlich deskriptive mit normativen Elementen verbinden. Ihre Gehalte verdienen es folglich, sozialwissenschaftlich ernst genommen zu werden. Eine solche, die Ideologien als Kausalfaktoren in der sozialen Evolution anerkennende Sozialwissenschaft ist bei Piketty freilich nicht werturteilsfrei. Tatsächlich nimmt er selbst normativ Stellung, wenn das letzte Kapitel des Buches ein politisches Programm mit unmissverständlich sozialistischem Einschlag formuliert und das gesamte Unterfangen als egalitäre Kritik der Eigentumsideologie angelegt ist. In der Würdigung des kausalen Einflusses dieser Ideologie auf die langfristige Ungleichheitsentwicklung und in der Einbeziehung der nicht-europäischen Welt in die Analyse erkennt Piketty die zwei wichtigen Erweiterungen seines vorherigen Buches.
Obwohl zweifelsohne als ein Folgewerk gedacht, ist „Capital et Idéologie“ dank vieler Rückbezüge und einer instruktiven Einleitung auch unabhängig von seinem Vorgänger lesbar. Der rein technische Apparat zu Datenerhebung und -berechnung ist jetzt, anders als in der Buchveröffentlichung von 2013, nicht mehr im Text selbst pädagogisch aufbereitet, sondern in Online Appendizes auf Pikettys Webseite ausgelagert (http://piketty.pse.ens.fr/fr/ideologie), die dem Umfang des Buches kaum nachstehen. Die bereits erwähnte, umfassende Einleitung stellt nicht nur die Verbindung zum vorherigen Buch und generellen Befunden der Ungleichheitsforschung her, sondern präsentiert dankenswerterweise auch gleich einen groben Abriss von Pikettys Parcours. Insofern empfiehlt sie sich, um in rascher Lektüre einen Überblick zu gewinnen, der freilich damit bezahlt wird, dass die Aussagen dort sehr allgemein ausfallen. Danach gliedert sich die Darstellung in vier Teile – sie konzentrieren sich thematisch auf die Ständegesellschaft, die Sklaven- und Kolonialgesellschaft sowie auf den Übergang zu sozialdemokratischen respektive kommunistischen Gesellschaften; zudem steht das Wahlverhalten in diesen Gesellschaften seit 1945 zur Debatte. Über diese vier Abteilungen, die fast wie eigene, abgeschlossene Bücher für sich stehen, teilen sich nochmals 17 Kapitel relativ gleichmäßig auf, die ihrerseits in drei- bis zehnseitige Unterkapitel zerfallen. Je nach Sachinteresse lassen sich die einzelnen Teile problemlos unabhängig voneinander lesen, auch wenn Piketty Wert auf den inneren Zusammenhang legt und seine Darstellung mit Querverweisen anreichert.
Der erste Teil zeichnet die Ständegesellschaft und ihre Transformation in die kapitalistische Eigentümergesellschaft nach. Folglich geht es um die Geburt der liberalen Eigentumsideologie, die der Autor am Beispiel Frankreichs und der französischen Revolution so rekonstruiert, dass zugleich komparative Bezüge zum Vereinigten Königreich und Schweden ins Spiel kommen. Piketty stützt sich etwas eklektisch auf historiografische Sekundärliteratur zumeist französischer Geschichtswissenschaftler, zieht jedoch auch Primärquellen etwa aus Parlamentsdebatten und politischen Traktaten zu Rate. Der eigene Forschungsbeitrag in diesem Teil besteht in der Quantifizierung der drei Stände ab der frühen Neuzeit und die korrespondierenden Vermögens- und Einkommensschätzungen auf Grundlage minutiös ausgewerteter Erbschaftsarchive. Piketty skizziert, wie die Ständegesellschaft über mehrere Jahrhunderte hinweg permanent Ungleichheit schuf und als eine quasi-natürliche Ordnung legitimierte, obwohl Klerus und Adel je nach untersuchter Region einen verschwindend geringen Prozentanteil der Bevölkerung stellten, während sie, etwa im Frankreich des Jahres 1780, 40 bis 45 Prozent der Ländereien besaßen. Im neuzeitlichen Spanien verfügte allein die Kirche als Organisation über bis zu 30 Prozent allen Grundbesitzes. Der Anteil der oberen Stände an der Bevölkerung, insbesondere der des Klerus, nahm bis 1800 in allen untersuchten Ländern ab. Auch der Adelsanteil fiel in Nordwesteuropa auf weniger als 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung, im anders strukturierten Südosteuropa auf unter 10 Prozent. Ab dem 19. Jahrhundert bahnte die Eigentümerideologie der Entstehung der Eigentümergesellschaft ihren Weg, indem sie das Versprechen von Stabilität mit demjenigen der endgültigen Emanzipation von der alten sozialen Ordnung verband. Faktisch trug sie allerdings zur Genese extremer Ungleichheiten bei, die ihrerseits durch den Aufbau und die Etablierung eines zentralen Steuerstaates verfestigt wurden, der eine absolute Definition von Privateigentum konsekrierte. Das Zensuswahlsystem, das zumal im heute deutlich egalitäreren Schweden am restriktivsten ausgeprägt war, verhinderte, dass progressive Einkommens- und Vermögensbesteuerung eingeführt werden konnte. Folglich führte die zunehmende Vermögensungleichheit bis 1914 – die obersten 10 Prozent besaßen um die 90 Prozent der vererbten Vermögen – dazu, dass der Grad an Ungleichheit in allen untersuchten Ländern mindestens dem Niveau der alten Ständegesellschaft entsprach, wenn es nicht sogar überboten wurde.
Im zweiten Teil wendet sich Piketty einer Beschreibung großer Ständegesellschaften außerhalb Europas zu und geht deren Veränderungen im Zuge der Kolonialisierung nach. Damit reagiert er augenscheinlich auf den Eurozentrismusvorwurf, den das vorherige Buch auf sich gezogen hatte. Was nun ausgelotet wird, sind Extreme der Ungleichverteilung. War Schweden mit etwa 25 Prozent Einkommensanteil der obersten 10 Prozent seiner Bevölkerung das einkommensgleichste Land, so sind insbesondere Sklavengesellschaften wie etwa Saint-Dominique (Haiti) um 1780 die mit Abstand ungleichsten. Dort beliefen sich die Einkommen des obersten Dezils auf 80 Prozent – die übrigen Einkommen waren einzig zur bloßen Subsistenz der Sklavenwirtschaft nötig – und die Vermögen erreichten sogar 100 Prozent. Sklaven waren ohne Eigentum und hatten schlimmstenfalls noch Schulden. Demgegenüber fiel die Ungleichheit in den Siedlerkolonien Nordafrikas etwas geringer aus. Piketty unterstreicht in diesem Kontext, dass es der Eigentumsideologie, welche für die Befreiung der Sklaven hohe Entschädigungszahlungen an deren vormalige Besitzer forderte, zuzuschreiben ist, wenn die in der Sklavengesellschaft fundierte Ungleichheit auch nach der endgültigen Abschaffung der Sklaverei bis heute nachwirkt. Im Übrigen folgt Piketty den Thesen des in Harvard lehrenden Kapitalismushistorikers Sven Beckert, wenn er in der Trias von Kolonialisierung, Sklavenwirtschaft und Rohstoffausbeutung eine konstitutive Voraussetzung für den industriellen Aufstieg des Westens identifiziert. Und er macht wie Kenneth Pomeranz gerade in der Ausformung des zentralen Steuerstaates den Grund für die große Divergenz aus, die Europa von den asiatischen Ländern unterscheidet. Für Indien, China, Japan und den Iran weist Piketty nach, dass es gerade der Kontakt zum in der Modernisierung begriffenen Westen gewesen ist, der die dortigen ständischen Gesellschaften perpetuiert hat. Einen seltenen Lichtblick in dem ansonsten eher düsteren Panorama der Kolonialgeschichte liefert Piketty mit der Beobachtung sozialer Aufwärtsmobilität im postkolonialen Indien. Wie er anhand einer Analyse von Wahldaten – tatsächlich der einzige genuine Forschungsbeitrag dieses buchlangen zweiten Teils – zu belegen vermag, sorgte die positive Diskriminierung von Mitgliedern der unteren Kasten für eine, wenn auch verhaltene, Wahrnehmung vormals verwehrter Bildungschancen.
Der dritte Teil wendet sich chronologisch wieder auf das Jahr 1914 zurück, um von dort her die stärker eurozentrisch ausgerichtete Geschichte der „Großen Transformation“ zu rekapitulieren, die bis in die Dekade der 1980er-Jahre zu immer stärker nivellierten Gesellschaften geführt hat, und die freilich auch zum „Hyperkapitalismus“ der Jetztzeit überleitet. Piketty zeigt, dass es weniger Weltkriege und Wirtschaftskrise allein gewesen sind, die als Motor zur Entwicklung größerer innergesellschaftlicher Gleichheit gewirkt hätten. Nach seinem Urteil ist es eine bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert startende, dezidiert egalitäre und sozialdemokratische Gegenbewegung, die durch eine Reihe von Maßnahmen dazu beitrug, Ungleichheit abzubauen. Der zum Einsatz gebrachte Werkzeugkasten verfügte über progressive Einkommens- und Erbschaftssteuern – mit den höchsten Spitzensteuersätzen gerade in den angelsächsischen Ländern –, operierte mit Mietpreisregulierungen, setzte Verstaatlichungen und die Schaffung gemischter Ökonomien durch, etablierte schließlich und nicht zuletzt auch die Arbeitermitbestimmung. Zudem reduzierten staatliche Transferleistungen, das heißt Politiken der Redistribution, überall die Bruttoeinkommensungleichheiten deutlich. Was Piketty zudem hervorhebt, ist ein gerade auf lange Sicht deutlich erkennbarer Anstieg der Bildungsausgaben pro Bruttoinlandsprodukt. Es sei die Universalisierung der primären und sekundären Bildung – insbesondere der Aufholprozess Europas gegenüber den USA –, die nicht nur mehr Wachstum und größere Produktivität erzeugt, sondern auch zu einer besseren Gleichverteilung beigetragen habe. Dass gerade diese egalitären Gesellschaften die signifikanten Wachstums- und Produktivitätssprünge gemacht haben, ist für Piketty ein willkommener Beleg. Er widerspricht nämlich dem grundlegenden Mantra der Eigentumsideologie, wonach sich Wachstum allein auf Kosten oder sogar nur mittels steigender Ungleichheit einstelle. In Schweden sei, so Piketty, die sozialdemokratische Partei direkt, in Deutschland nur indirekt für diese Kehrtwende in der Ungleichheitsentwicklung verantwortlich gewesen. Freilich habe sich seit den 1980er-Jahren das Ende des sozialdemokratischen Momentums abgezeichnet, also der Niedergang der dafür typischen Steuer- und Bildungspolitiken. Tatsächlich waren die Sozialdemokraten selbst am Abbau fiskalischer Progressivität beteiligt. Auch die Bildungsausgaben sind aufgrund der Ausbildungslänge und der für die tertiäre Bildung anfallenden Kosten mittlerweile wieder extrem ungleich verteilt. Seit den 1990er-Jahren stagnieren sie zudem in den westlichen Ländern.
Mit Hilfe der Erweiterung der WID um Daten-Input aus (post-)sozialistischen Ländern ist Piketty in die Lage versetzt, auch die Auswirkungen der sowjetischen, osteuropäischen und chinesischen Varianten von Kommunismus als wirkmächtige Gegenbewegungen auf die Ungleichheitsverhältnisse in der langen Frist zu untersuchen. Dabei wird deutlich, dass die Sowjetunion wie sonst höchstens noch Schweden die niedrigsten Level von Einkommensungleichheit erreicht hatte: Das oberste Dezil erhielt hier lange Zeit 25 Prozent der monetären Einkommen. Indes stieg im post-sowjetischen Russland ab den 1990ern die Ungleichheit aufgrund ökonomischer Schocktherapien und der Geschäftspraktiken erfolgreicher Oligarchen auf zaristische Werte, während sich die Ungleichheit in China, zumal im Vergleich zu den Entwicklungen in Indien, deutlich moderater darstellte. Auch in Osteuropa stieg die Ungleichheit nach dem Fall der Mauer deutlich an, verharrte gleichwohl unter dem für Westeuropa üblichen Niveau, da ein bedeutender Teil der Unternehmensgewinne und Dividenden, die dort erwirtschaftet wurden, aufgrund der inzwischen etablierten Eigentumsverhältnisse nach Westeuropa abflossen. Das Ende des dritten Teils wendet sich dem Übergang zum Hyperkapitalismus der Gegenwart zu und wartet mit einem ganzen Bouquet verschiedener und neuer Themen auf. So konzentrieren sich Pikettys Sondierungen etwa auf den Zusammenhang von Ungleichheit und Klimawandel, um – wer wäre da noch erstaunt? – zu konstatieren, dass gerade die obersten Einkommensempfänger auch die überdurchschnittlich massiven CO2-Emittenten sind.
Warum das sozialdemokratische Momentum überhaupt diffundieren und verschwinden konnte, ist die Frage, die Piketty im vierten Teil seiner Darstellung anhand weit ausgreifender, historischer Wahlforschung für die USA, Großbritannien, Frankreich, Brasilien und Indien beantworten will. Für diese detailliert diskutierten Länder, aber auch für ein Dutzend weiterer, hat Piketty die längst mögliche Zeitreihe post-elektoraler Befragungen zusammengetragen, die frühestens im Jahr 1940 starten und bis heute reichen. Der empirisch solide unterfütterte, sicherlich zentrale Befund dieses Teils wie vermutlich des Buches insgesamt lautet nun, dass ausbildungs- und einkommensarme Wählerinnen und Wähler bis in die 1970/1980er-Jahre signifikant stärker Linksparteien gewählt haben, während diese Wählergruppen seither vornehmlich für rechte Parteien votieren. Den spiegelbildlich umgekehrten Befund liefern die bildungs- und einkommensreichen Wählerschaften. Hatten sie zunächst eher rechts gewählt, so zeigen sie sich inzwischen deutlich höhere Affinitäten zu Parteien mit linker Programmatik. Dabei kann der Punkt des Umschwungs im Wahlverhalten durchaus auch zeitlich versetzt sein, hat sich das oberste Einkommensdezil in den USA doch bei den Präsidentschaftswahlen 2016 mehrheitlich demokratisch entschieden. Bis auf Japan aber bestätigen alle von Piketty untersuchten Länder diese tektonische Verschiebung.
Piketty erklärt diese Entwicklung mit der Behauptung, dass sich die traditionellen Arbeiterparteien dank erfolgreicher Bildungsaufsteiger in Parteien verwandelt hätten, die durch „linke Brahmanen“ geführt würden. Mithin hätten sich diese Parteiorganisationen entweder radikale, multikulturelle und egalitäre Positionen oder eher rechte, nicht-egalitäre und die Freiheit der Märkte verteidigende Positionen zu eigen gemacht. Einkommensschwache sähen sich jedoch weder durch multikulturelle, noch in marktliberalen Programmatiken angemessen repräsentiert. Demgegenüber differenziert sich das rechte Spektrum in die moderaten marktfreundlichen, inegalitären Parteien und die radikalen Anti-Immigrationsparteien aus, die ihrerseits durchaus einen egalitären Populismus vertreten können. Die sich damit abzeichnenden vier möglichen Lager spannen laut Piketty die neue ideologische Landschaft auf. Je nach Wahlsystem finden sich alle vier Optionen auf einzeln auftretende Parteien verteilt wie es etwa der Fall bei den vier höchstplatzierten Kandidaten der französischen Präsidentenwahl im Jahr 2017 gewesen war. Doch lassen sie sich auch in einem Zweiparteiensystem abbilden, wo sie sich unter einem breiteren ideologischen Dach versammelt finden, wie es von Parteien in einem solchen Wahlsystem in der Regel offeriert wird. Folglich wird der klassische Dualismus des politischen Systems, das heißt die links-rechts Unterscheidung, entweder um eine identitäre Position ergänzt oder – wie in manchen Ländern Ost- oder Südeuropas – vollständig ersetzt.
Im Fazit lässt sich festhalten, dass Piketty ein nicht nur flüssig geschriebenes, sondern in seiner formalen Anlage auch durchsichtig komponiertes Buch vorgelegt hat, das trotz seines einschüchternden Seitenumfangs gut lesbar ist. Er formuliert seine Überlegungen engagiert, verzichtet auf Jargon und richtet sich mit seiner Analyse ausdrücklich an ein breites Publikum, das er nicht zuletzt durch Veranschaulichungen für sich einnimmt, die sowohl aus Romanen Balzacs als auch aus TV-Serien wie „The Americans“ stammen. Selbstverständlich kommen aber auch die Soziolog*innen auf ihre Kosten: Natürlich zitiert Piketty die Klassiker, weder Max Weber noch Karl Polanyi bleiben unerwähnt. Der französische Ökonom vertritt einen moderaten Sozialkonstruktivismus – erzählt etwa, wie die Statistik der britischen Kolonialverwaltung in Indien den Gegenstand durch Performativitätseffekte erzeugt, den sie in der Gestalt eines Kastensystems angeblich doch nur abbildet. Dass Institutionen ernstzunehmen und in ihren Wirkungen sozialwissenschaftlich zu erfassen sind, ist Piketty mindestens so wichtig wie die Kritik an der Apologie von Ungleichheiten, die sich auf naturalistische Argumente meint stützen zu dürfen. Auch methodologisch bewegt sich Piketty auf der Höhe der Möglichkeiten, wenn er seine angebotenen Erklärungen stets reflektiert, um sie für die ausgewählten historischen Zeiten und Räume zu relativieren Die Breite des Zugriffes und der generelle Gestus mahnen an Werner Sombarts „Der moderne Kapitalismus“, ohne das je aus den drei Bänden dieses opus magnum zitiert würde. Mitunter macht sich der „overstretch“, den Piketty selbstkritisch einräumt, auf irritierende Weise bemerkbar, etwa wenn mehrere Jahrhunderte japanischer oder persischer Geschichte auf eine kursorische Darstellung von nur wenigen Seiten eingedampft werden. Gelegentlich franst das Buch auch aus, so wenn Piketty die alles andere als triviale Frage, wie die Verbrechen der japanischen im Vergleich zur europäischen Kolonisierung Asiens moralisch zu gewichten seien, zunächst aufwirft, um sie sonach unbeantwortet stehen zu lassen. Selbst wenn Piketty eine imposante Belesenheit unter Beweis stellt, dürfte der Erkenntnisgewinn für die sozialwissenschaftlich und historisch gebildete Leserin insbesondere angesichts seiner Ausführungen in den ersten zwei bis drei Teilen zuweilen eher bescheiden ausfallen. Umgekehrt werden Experten etwa im Feld der sozialwissenschaftlichen Wahlanalyse etwas befremdet feststellen, dass ein so datengetriebener Ökonom wie Piketty viele Einzelergebnisse dieser breit gefächerten Forschung zugunsten eigener Datenanalysen – die in der Tat in der historischen Tiefe und Länderbreite bisher einzigartig sind – unbeachtet lässt. Neuere Arbeiten zu den Wechselwählerschaften sozialdemokratischer Parteien werden ebenso wenig konsultiert wie die breite Literatur zum Phänomen des politischen Populismus. Gerade in Frankreich hat die Soziologie den Vorgang des „embourgeoisement“ der Arbeiterklasse und ihrer Vertreter, also deren Verbürgerlichung, nicht erst gestern thematisiert.
Wohlgemerkt legt Piketty keine Studie vor, die Forschungsliteratur auswertet und synthetisiert. Wie schon bei der vorherigen Veröffentlichung handelt es sich bei dem neuen Buch um einen stark datengetriebenen Forschungsbeitrag auf einer beeindruckenden quantitative Basis, deren Kennzahlen das Rückgrat vieler Analysen ausmachen: So charakterisiert der Bevölkerungsanteil der jeweiligen Stände die Ständegesellschaft, der Anteil der Sklaven an der Bevölkerung die Sklavengesellschaft und der Anteil von Kolonisatoren relativ zum kolonialisierten Volk die Kolonialgesellschaft; die Steuerkapazität pro Volkseinkommen misst das Entstehen der modernen Zentralstaaten und – schon im vorherigen Buch die zentralen Zahlen – die Verteilung von Einkommen und Vermögen (oder jetzt auch der Bildungsausgaben) wird für die verschiedenen Bevölkerungsdezile dargestellt. Neu hinzugekommen sind Daten zum Wahlverhalten, die nach Bildungs- und Einkommensdezilen aggregiert werden. Methodologisch führt das Buch vor, dass gekonnt präsentierte, deskriptive Statistiken dazu in der Lage sind, sozialwissenschaftliche Thesen zu stützen. Von seinen immer stärker auf reine Kausalitätsforschung fokussierten ökonomischen Kollegen setzt sich Piketty freilich dadurch ab, dass Methoden kausaler Inferenz in seinem Buch nicht zum Einsatz kommen.
„Capital et Idéologie“ schließt mit dem Entwurf eines politischen Programms, das klassisch sozialdemokratische Ideen aufgreift und im Geiste von Sozialreformern wie Thomas Paine radikalisiert. Gerechtigkeitstheoretisch ist Piketty Kontextualist, der sich explizit an Rawls’ Prinzip der Besserstellung der Schlechtgestellten und implizit an „capability“-Ansätzen orientiert. Praktisch schlägt er einerseits eine Verbreitung betrieblicher Mitbestimmung und stärkerer Aktionärsrechtebeschränkung vor, andererseits eine progressive Einkommens-, Erbschafts- und insbesondere jährliche Vermögensbesteuerung mit Freibeträgen, inklusive einer progressiven Einpreisung von CO2-Emissionen. CO2-basierte Steuern sollten nach Piketty wegen ihres Preissignaleffektes alle betreffen, allerdings vollständig in einkommensschwache Haushalte zurückfließen. Die abgeschöpften Vermögen sollen, früheren Landreformen vergleichbar, als eine Grundkapitalausstattung für junge Leute fungieren, wodurch sie nicht nur zu einer Vermögensumverteilung beitragen würden, sondern auch eine intensivere gesellschaftliche Partizipation ermöglichen könnten. Fiskalische Voraussetzung dafür ist jedoch eine wesentlich bessere Transparenz der Vermögensverhältnisse. Piketty hält noch viele weitere, diskussionswürdige Vorschläge etwa zur Parteien- und Medienfinanzierung, zu einem europäischen Steuerstaat im Rahmen eines sozialen Föderalismus und zu transnationalen Organen bereit, die für gerechtere Handelsbeziehungen und Migrationspolitiken sorgen sollten. Der sicherlich wichtigste Beitrag des Buches zur Realisierung eines solchen Programms bleibt freilich der datengestützte Nachweis, dass Ungleichheit weit davon entfernt ist, eine unabdingbare Voraussetzung für hohes Wachstum und Produktivität zu sein, in Wahrheit eher ein Hindernis ist. Dabei blockiert sie denkbare Optimierungen von Produktivität und Wachstum nicht nur, sondern schafft zudem noch gesellschaftsdestabilisierende Legitimitätsprobleme, die Piketty mit seiner Kritik an der nach wie vor hegemonialen Ideologie des Privateigentums aufdecken will.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Methoden / Forschung Macht Kapitalismus / Postkapitalismus Kolonialismus / Postkolonialismus
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.