Leon Wansleben | Rezension |

Hüter des Schattengeldes

Rezension zu „Zentralbankkapitalismus. Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten“ von Joscha Wullweber

Joscha Wullweber:
Zentralbankkapitalismus. Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten
Mit einem Vorwort von Rainer Voss
Deutschland
Berlin 2021: Suhrkamp
296 S., 20,00 EUR
ISBN 978-3-518-12747-6

Der Titel von Joscha Wullwebers Buch ist geeignet, falsche Erwartungen zu wecken. Sind wir – nach der Ausrufung des Industrie-, Finanz-, Plattform- und Asset-Manager-Kapitalismus – tatsächlich in eine neue Ära der vorherrschenden und mittlerweile alternativlos erscheinenden Wirtschaftsform eingetreten? Und das zu einer Zeit, in der nach Meinung einiger bereits deren Ende eingeläutet ist? Glücklicherweise handelt es sich bei Wullwebers Buch nicht um eine der zahlreichen Gegenwartsdiagnosen mit universalem Erklärungsanspruch, sondern um eine sorgfältig gearbeitete Studie mit zwei klar umrissenen Zielen: Erstens geht es dem Autor um eine Rekonstruktion der maßgeblichen Entwicklungen in den Finanzsystemen seit den 1970er-Jahren. Im Zentrum seines Interesses steht dabei der Aufstieg der weitgehend unregulierten Schattenbanken. In der Summe, so Wullweber, habe deren Aufstieg zu neuen, sich selbst verstärkenden Krisenmechanismen geführt. Zweitens argumentiert Wullweber, dass diese Entwicklung zu einer Überforderung der privaten Sicherheitsnetze geführt habe, mit denen sich Akteure jenseits des klassischen Bankensektors gegen Risiken absichern. Deshalb hätten zahlreiche Zentralbanken sowohl in der Weltfinanzkrise von 2008 als auch während der 2020 beginnenden Covid-19-Pandemie gigantische Auffangnetze für das gesamte System der Schattenbanken gespannt, die wir mittlerweile als dauerhafte Elemente unseres (para-)staatlichen Institutionenensembles betrachten müssten: „Da das Schattenbankensystem inzwischen eine zentrale Rolle für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft spielt, ist der Schluss gerechtfertigt, dass die Zentralbanken durch ihr Handeln zum Garanten für das Überleben des modernen Kapitalismus geworden sind. Wir leben im Zeitalter des Zentralbankkapitalismus“ (S. 223).

Im Folgenden möchte ich die Arbeit zunächst intellektuell verorten – eine Kontextualisierung, die Wullweber selbst leider sträflich vernachlässigt. Anschließend werde ich knapp die einzelnen Schritte der Argumentation rekonstruieren. Schließlich führe ich drei Kritikpunkte an: Erstens zeigen sich bei genauerem Hinsehen stärkere Kontinuitäten in den Zentralbankpolitiken vor und nach 2008, als dies in der Analyse berücksichtigt wird; zweitens bleibt Wullwebers Charakterisierung der „neoliberalen“ Merkmale des heutigen Zentralbankregimes unscharf; und drittens bleiben die Politikempfehlungen am Ende des Buches floskelhaft und ohne Rückbindung an die eigentliche Analyse.

Auf den Schultern vieler kleiner Riesen

In den vergangenen Jahren hat sich eine äußerst produktive, interdisziplinäre Diskussion über Zentralbanken und ihre gewandelte Rolle im Zuge der in den 1970er-Jahren einsetzenden rasanten Expansion und internen Restrukturierung der Finanzsysteme entwickelt. Den entscheidenden Anstoß für die meisten dieser Arbeiten gab die Weltfinanzkrise von 2008. Der Bankrott von Lehman Brothers und anderen großen Finanzfirmen sowie die dadurch ausgelöste „Große Rezession“ offenbarten nicht nur die immensen systemischen Risiken, die sich in einer langen Phase der scheinbaren Stabilität aufgebaut hatten. Die Krisenereignisse verdeutlichten auch die maßgebliche Bedeutung der Zentralbanken im heutigen Kapitalismus. Notenbanker waren die entscheidenden Akteure des Krisenmanagements während und nach der Krise. Sie waren aber auch diejenigen, die die rasante Expansion der Finanzsysteme überhaupt erst ermöglicht hatten. Expert:innen aus politischen Institutionen oder Zentralbanken, wie etwa Tobias Adrian, Charles Goodhart, Claudio Borio oder Zoltan Pozsar haben diese Interdependenzen zwischen Marktentwicklungen und staatlichem Handeln ebenso analysiert wie außerhalb des Mainstreams stehende (politische) Ökonom:innen, darunter Hyman Minsky, Daniela Gabor, Robert Boyer, Perry Mehrling und Gary Gorton. Wichtige Beiträge zu der Diskussion kamen auch von Forscher:innen US-amerikanischer Law Schools (z. B. Morgan Ricks, Saule Omorova oder Robert Hockett) und einigen Soziolog:innen, wie Benjamin Braun und Matthias Thiemann. Merkwürdig ist, dass Wullweber sich zwar weitestgehend auf diese Arbeiten stützt, dies aber nicht offenlegt. Seine Rekonstruktion des Forschungsstands mutet lückenhaft und willkürlich an.

Wullweber bemüht sich um einen eigenen Akzent, indem er die Veränderungen im Schattenbankensystem und die reaktiven Veränderungen der Sicherheitsnetze nach der Finanzkrise von 2008 aus zwei konzeptuellen Perspektiven in den Blick nimmt. Zum einen will er mit Michel Foucault die spezifischen „Rationalitäten des Regierens“ (S. 32) herausarbeiten, mit denen Zentralbanken versuchen, Finanzmärkte als sich selbst regulierendes System einzurichten. Dabei geht es ihm unter dem Titel der „Sicherheitsmacht“ insbesondere um die Verschränkung einer sich immer stärker ausweitenden staatlichen Interventionsmacht mit den durch Zentralbanken gestützten, wenn nicht ermöglichten Marktprozessen. Zum anderen versucht Wullweber unter Rekurs auf Ernesto Laclaus Begriff des „Mastersignifikanten“ eine politische Theorie des Geldes für seine Analyse zu mobilisieren. Während Wullwebers Beschreibung der „Sicherheitsmacht“ und ihrer Mechanismen überzeugend ausfällt, bleibt seine Skizze einer politischen Geldtheorie blass. Ausschlaggebend dafür sind weniger inhaltliche Defizite als die fehlende Einbindung in den Argumentationszusammenhang. Für den Großteil des Buches ist Wullwebers geldtheoretischer Ansatz schlicht irrelevant.

Von „Boring Central Banking“ zu „Shadow Banking“

Sorgfältiger ausgearbeitet ist der empirische Teil des Buches. Wullweber geht von der Existenz zweier Segmente in Finanzsystemen aus, die vor Beginn der 1970er-Jahre noch nach eigenen Logiken funktionierten: Das eine dieser beiden Segmente besteht demnach aus Märkten, auf denen Finanztitel wie Aktien oder Unternehmensanleihen gehandelt werden. Die Investoren auf diesen Märkten versuchen einerseits, von Kursänderungen zu profitieren, die sich aus ständig revidierten Einschätzungen von Zukunftsaussichten ergeben; die Märkte sind deshalb inhärent spekulativ. Andererseits verlassen sich die Teilnehmer darauf, dass die Märkte liquide bleiben, was bedeutet, dass der reibungslose, möglichst kostenarme Erwerb beziehungsweise Verkauf von Titeln jederzeit möglich ist; hierfür braucht es klassischerweise Mittlerfirmen, sogenannte „Market Makers“, die jederzeit zum An- und Verkauf der Titel für geringe Margen bereit sind. Market Makers wiederum brauchen Zugang zu Mitteln, mit denen sie ihre Positionen finanzieren können. Hierfür sorgen klassischerweise die Geldmärkte, auf denen große Summen kurzfristig zwischen Marktteilnehmern verschoben werden. In diesem marktbasierten Segment des Handels mit Kapital und Finanzierungsmitteln ergeben sich spezifische Risiken: Im Kapitalmarkt können Finanztitel recht plötzlich an Wert verlieren; und Geldmärkte sind anfällig für Liquiditätskrisen, die etwa dann eintreten, wenn sich die großen Kreditoren allesamt, manchmal nur aufgrund von Gerüchten, zurückziehen.

Wichtig für die Stabilität der Finanzsysteme vor den 1970er-Jahren war Wullweber zufolge, dass die Schwankungen und Instabilitäten der Kapital- und Geldmärkte nach der Krisenphase der 1930er-Jahre weitestgehend ohne Auswirkungen auf das andere Segment blieben, das des Geld- und Kreditwesens. Denn dieses von Banken dominierte Segment betreut nicht nur das Zahlungsnetzwerk, auf das sich Wirtschaft und Verbraucher verlassen; es schöpft auch Geld und absorbiert Illiquiditätsrisiken in den Bilanzen der Banken, die langfristige Kredite (etwa Hypotheken) halten und kurzfristig verwendbare Liquidität (Buch- und Bargeld) bereitstellen. Auch das bankenbasierte Geld- und Kreditsystem enthält erhebliche Risiken, funktionierte aber nach den Krisenerfahrungen und Reformen der 1930er-Jahre bis in das späte 20. Jahrhundert weitestgehend stabil, nicht zuletzt aufgrund umfangreicher Sicherheitsvorkehrungen. Einlagenversicherungen und Zentralbanken sicherten Banken und ihre Kunden gegen Einbrüche ab, Letztere, indem sie als Kreditgeber der letzten Instanz („Lenders of Last Resort“) gegenüber Banken fungierten. Auch wenn Wullweber zu den betreffenden Prozessen nicht viel sagt, verfolgten die Staaten nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre beziehungsweise in der Folge des Zweiten Weltkriegs zwei Strategien, um das Kapital- und Geldmarkt- vom Bankensegment zu trennen: Die USA und andere Länder setzten auf institutionelle Vorschriften zur Separierung („Glass-Steagall Act“), während in Deutschland und anderswo der Bereich der Geld- und Kapitalmärkte unterentwickelt blieb.

Wullweber zeigt in seiner Rekonstruktion auf, was passiert, wenn das Segment der Geld- und Kapitalmärkte mit demjenigen der Banken und Kreditwirtschaft verschmilzt – ein Prozess, der sich in unterschiedlicher Form und Geschwindigkeit auf beiden Seiten des Atlantiks seit den 1970er-Jahren vollzog. Strukturell führt dies zu einer Verlängerung der Intermediationsketten und damit zu einer immer stärkeren Interdependenz: Eine Firma vergibt Kredite, eine andere übernimmt diese zur Konstruktion von Verbriefungen, eine große Anzahl dritter Firmen hält diese Verbriefungen in ihren Bilanzen, eine vierte Gruppe emittiert wiederum Versicherungen auf diese Verbriefungen. Zugleich gewinnen Geldmärkte an Bedeutung, weil fast alle genannten Akteure Positionen refinanzieren müssen beziehungsweise überschüssige Liquidität kurzfristig verleihen. Wie Wullweber zeigt, wächst unter diesen Bedingungen insbesondere eine spezifische Form von Geldmärkten rasant: die besicherten Märkte, auf denen Kredite gegen Finanztitel als Sicherheiten („collateral“) verliehen werden. Besicherte Märkte (insbesondere solche für Rückkaufvereinbarungen, kurz „Repos“) sind deshalb so attraktiv, weil sie für die Schuldner passgenaue, kostengünstige Refinanzierungen von Positionen in handelbaren Finanztiteln ermöglichen – ein besicherter Kredit ist günstiger als einer, der ohne Absicherung vergeben wird. Repos sind aber vor allem auch für große Kreditoren attraktiv, da die gegebenen Sicherheiten als funktionale Äquivalente für Einlagenversicherungen dienen, die für Geldmarktteilnehmer aufgrund der Größe und grenzüberschreitenden Natur der gehandelten Kredite keine taugliche Absicherung bieten.

Das Problem, das Wullweber als Folge dieser Entwicklungen ausmacht, ist folgendes: Krisen in einem Segment des Finanzsystems schlagen in dem neuen, seit 1970 entstandenen System aufgrund der hochgradigen Vernetzung und Verkettung fortan auch auf das andere Segment durch – mit potenziell katastrophalen Folgen. Wertverluste auf den Kapitalmärkten wirken sich auf die Refinanzierungsmöglichkeiten auf den Geldmärkten aus; und Gefahren der Illiquidität und Insolvenz auf diesen Märkten führen wiederum zu Zahlungsschwierigkeiten fast aller großen Banken, Broker-Dealer und Investmentfonds. Rückläufige Marktliquidität (also das Problem der Veräußerbarkeit von Titeln zu stabilen Preisen) führt dann direkt zu Problemen der Finanzliquidität, und (kolportierte) Probleme der Finanzliquidität bei einzelnen Firmen sorgen schlagartig dafür, dass die Marktliquidität schwindet. Das aber heißt nichts anderes, als dass in einer Krise die private, auf besicherten Krediten fußende Sicherheitsstruktur des Finanzsystems zusammenbricht (S. 182).

Eine Lösung für diese Art von Krisen können nur Zentralbanken bieten (S. 186), weil sie die Fähigkeit zur grenzenlosen Vermehrung desjenigen Mittels besitzen, das in einem spezifischen Währungsraum immer zur Deckung von Verpflichtungen akzeptiert wird: Zentralbankreserven. Dass Zentralbanken die Rolle des Schockabsorbers spielen, ist, wie Wullweber zeigt, keine neue Einsicht der Krise von 2008. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beobachtete der britische Ökonom Walter Bagehot den Londoner Geldmarkt und forderte die Bank of England auf, sich endlich von ihren Profitinteressen zu lösen und sich stattdessen energisch und sichtbar zur Rolle des Kreditors der letzten Instanz zu bekennen. Neu an der seit 2008 bestehenden Lage ist, dass Notenbanken ein marktbasiertes System retten müssen, in dem Schattenbanken und der traditionelle Bankensektor aufs Engste miteinander verwoben sind. Das führt dazu, dass Notenbanken die traditionellen Grenzen ihrer Absicherungsrolle seither immer wieder deutlich überschreiten. Erstens stellen sie Liquiditätshilfen nicht nur für ihre gewöhnlichen Gegenparteien, die Banken, sondern auch für Broker Dealers, Investitionsfonds und weitere Markteilnehmer zur Verfügung; zweitens akzeptieren sie für ihre Liquiditätshilfen Sicherheiten, die sich aus kompliziert verpackten, zum Teil zweifelhaften Krediten zusammensetzen; und drittens handeln sie als Market Makers der letzten Instanz („Dealers of Last Resort“), die nicht nur Finanzliquidität bereitstellen, sondern auch selbsttätig in verschiedenen Segmenten aktiv sind, um Marktliquidität im Krisenfall wiederherzustellen.

Der Fluchtpunkt von Wullwebers Analyse besteht in der Feststellung, dass bei unseren hochgradig vernetzten, aufgeblähten Finanzsystemen diese lebenserhaltenden Interventionen der Zentralbanken auf Dauer gestellt werden – Liquiditätseinbrüche auf den Repo-Märkten, sich akkumulierende Ausfallrisiken (von privaten oder staatlichen Schuldnern) und Kurseinbrüche haben ein Ausmaß angenommen und wirken in der gegebenen Struktur so fatal, dass das Gesamtsystem immer stärker an den öffentlich gestützten Sicherheitsnetzen der Notenbanken hängt. An dieser Stelle kommt schließlich Foucault ins Spiel, denn Wullweber begreift diesen verstärkten Interventionismus nicht als Rückkehr des Staates in seiner klassischen, auf politischem Zwang basierenden Form. Vielmehr besteht die Logik und Rechtfertigung der Zentralbankaktionen in der Aufrechterhaltung eines Systems, dessen innere Struktur durch die profitorientierten Kalküle der beteiligten Firmen, durch die Orientierung an Marktpreisen als letzten Wahrheiten und durch einen kollektiv auferlegten Zwang zur Zirkulation geprägt ist. In Wullwebers Worten: „Die Kriseninterventionen der Zentralbanken sind daher keine Rückbewegung hin zur Rationalität der Souveränitätsmacht, sondern vielmehr eine – wenn auch bedeutende – Modifikation der Sicherheitsmacht als Regierungsweise.“ (S. 233)

Demokratisierung als „Prinzip Hoffnung“?

Diese foucauldianische, auf der Synthese eines breiten Forschungsfelds beruhende Interpretation macht Wullwebers Zentralbankkapitalismus zu einem insgesamt gelungenen Buch. An drei Stellen regt sich allerdings mein Widerspruch. Im ersten Fall geht es um die zu starke Betonung der Zäsur. 2008 ereignete sich in der Tat eine gewaltige Krise, die staatliche Interventionen bisher unbekannten Ausmaßes erforderlich machte. Doch die den Rettungsmaßnahmen zugrundeliegende Idee, Finanzsysteme als hochgradig vernetzte Bereiche rund um zentrale Finanzierungsmärkte zu betrachten, hatte sich bereits seit Ende der 1990er-Jahre durchgesetzt. Auch waren die Federal Reserve und andere Notenbanken lange vor 2008 zu der Einsicht gekommen, dass sie in einem finanzialisierten Wirtschaftssystem operieren, in dem von Kursrückgängen und Liquiditätsproblemen in den Kernmärkten erhebliche systemische Risiken ausgehen. Die Entschlossenheit, mit der Ben Bernanke und andere Notenbanker auf die Probleme im Jahr 2008 reagierten, wäre ohne diese Vorgeschichte kaum zu verstehen.

Mein zweiter Kritikpunkt betrifft eine Formulierung, die meines Erachtens eine mangelnde Spezifizierung des foucauldianischen Ansatzes anzeigt. Wullweber spricht mit Blick auf den Wandel der staatlichen Sicherheitsmacht vor und nach 2008 von einem „eingerahmten neoliberalen laisser-faire“ (S. 234). Das klingt arg nach Ordoliberalismus und würde wahrscheinlich auch vielen Zentralbankern gefallen, die sich gern als diejenigen verstehen, die für funktionsfähige Märkte sorgen. Doch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Es bräuchte vielmehr einen Begriff, der deutlich macht, dass Zentralbanken nicht nur Regeln setzen, sondern Märkte durch eigene Transaktionen liquide halten, Firmen durch Kreditgeschäfte mit Zahlungsfähigkeit ausstatten, manche Handelssegmente (etwa für Staatsanleihen) vollständig dominieren und dabei auch erhebliche Verteilungswirkungen auslösen. Dabei handelt es sich weder um laisser-faire noch um Ordoliberalismus, sondern um den Einsatz von staatlich gestützter Geld- und Marktmacht zur Struktursicherung der größten, systemisch wichtigsten Komponenten im Herzen des gegenwärtigen Kapitalismus.

Zuletzt wartet das Buch mit Politikempfehlungen auf, die nicht recht zu der durchdachten Analyse passen. Dazu gehört die Idee, Zentralbanken mit zusätzlichen Aufgaben, wie etwa dem Schutz des Klimas, zu betrauen. Nun spricht sicherlich nichts gegen die Forderung, dass die Maßnahmen von Notenbanken, etwa ihre Anleihekäufe, im Einklang mit politischen Vorgaben stehen sollten, auch im Klimabereich. Wenn man aber der Meinung ist, dass die Erfüllung öffentlicher Aufgaben mit finanzmarktbasierten Mitteln keine nachhaltige Strategie darstellt, sollte man eher davon absehen, die Aufgabenfülle von Zentralbanken noch weiter zu vergrößern. Schleierhaft ist mir schließlich, was sich Wullweber unter der von ihm geforderten Demokratisierung von Zentralbanken vorstellt. Sollen einzelne Zins- oder Anleihekaufentscheidungen im Parlament diskutiert oder durch Regierungschefs angeordnet werden? Die Geschichte (etwa der Britischen Geldpolitik der 1960er- bis 1980er-Jahre) lehrt, dass dies keine gute Idee wäre. Vielleicht meint Wullweber aber auch, dass politische Repräsentanten die gesetzlichen und verfassungsmäßigen Grundlagen reformulieren sollten, unter denen Zentralbanken ihre Sicherheitsmacht ausüben und das Schattenbanken-System stützen. Hier wären in der Tat Reformen durch die Gesetzgeber vonnöten. Dass diese nicht erfolgen, weder in der Eurozone noch in den USA, liegt jedoch weniger an generellen Demokratiedefiziten jetziger Zentralbanken, als vielmehr an tiefsitzenden Problemen in den jeweiligen politischen Systemen. Signifikante Anpassungen der Regeln des Euro-Systems sind bei den Veto-Möglichkeiten einzelner Mitgliedsstaaten nicht zu erwarten; und politische Polarisierungen in Washington verhindern Reformen, die die Fed-Maßnahmen zur Absicherung der Schattenbanken wirkungsvoll einschränken (oder mit Regulierungen flankieren) würden.

Wir leben zwar nicht in einem „Zentralbankkapitalismus“. Aber ein kritisches Nachdenken über die problematische Rolle von Notenbanken bei der Konsolidierung eines instabilen, vor allem den Vermögenden dienenden Finanzsystems ist so notwendig wie nie. Wullwebers Buch zeigt an, wo wir auf bereits gewonnene Erkenntnisse aufbauen können und wo die offenen Fragen liegen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Geld / Finanzen Kapitalismus / Postkapitalismus Politische Ökonomie Wirtschaft

Leon Wansleben

Leon Wansleben ist seit 2019 Leiter der Forschungsgruppe „Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden“ am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Zuvor war er Assistenzprofessor am Department of Sociology der London School of Economics and Political Science. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Soziologie der Finanzmärkte und Finanzialisierungsprozesse, Politische Soziologie und Theorien des Staates sowie Soziologische Theorien.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Daniel Mertens

Enrichissez-vous!

Sandy Brian Hager über den Zusammenhang von Ungleichheit, Macht und öffentlicher Verschuldung

Artikel lesen

Dirk Ehnts

„Was wir nicht importieren, hat auch keinen Einfluss auf unsere Preise“

Sechs Fragen an Dirk Ehnts zu Inflation und Modern Monetary Theory

Artikel lesen

Newsletter