Peter Ullrich | Rezension | 04.11.2021
Im festen Glauben an die Sache
Rezension zu „Die Ordnung des Feldes. Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit in der Wissenschaft“ von Maria Keil
Maria Keil, Soziologin mit den Forschungsschwerpunkten Soziale Ungleichheit und Hochschulforschung und bekannt für ihr Engagement für gute Arbeit in der Wissenschaft sowie für die Partizipation des Mittelbaus in den Gremien der DGS, legt mit „Die Ordnung des Feldes“ eine opulente Dissertationsschrift von fast 500 Seiten vor.
Ihre Untersuchung setzt an einer der Kerndiagnosen der Ungleichheitsforschung an – der starken intergenerationalen Reproduktion von (Bildungs-)Ungleichheit und den damit verbundenen Lebenschancen –, nimmt jedoch ein ganz spezifisches Feld in den Blick: die Wissenschaft, genauer die Sozialwissenschaften. Mittels eines, insbesondere von der Soziologie Pierre Bourdieus geprägten, feld- und habitustheoretischen Zugangs untersucht sie, wie das Feld als Struktur in Verbindung mit den dort agierenden, seine Spielregeln befolgenden Akteuren soziale Ungleichheiten (re-)produziert, legitimiert und zementiert. Dieses Anliegen übersetzt sie in zwei Leitfragen. Erstens: wie wird der akademische Habitus angeeignet? Zweitens: wer wird innerhalb des Systems (nicht) gefördert? Bei der Beantwortung beider Fragen versucht Keil stets, den Einfluss der sozialen Herkunft und weiterer Dimensionen sozialer Ungleichheit auf die Varianz der Lebenswege, Laufbahnen oder Karrieren zu erhellen.
(Dissertations-)Genretypisch hat man sich, bevor man zu den äußerst aufschlussreichen Befunden aus Interviews mit Wissenschaftler*innen über deren Werdegang vordringt, durch fast 200 Seiten Theorie und Hintergrundinformationen zum Feld der Wissenschaft zu kämpfen, die in Teilen eher enzyklopädischen Charakter haben und nicht immer von augenscheinlicher Relevanz für die folgenden Analysen sind. Zumindest erhält die geneigte Leserin so eine – viel zu umfangreiche, aber als solche durchaus lesenswerte – Einführung in Bourdieus „Praxeologie als Forschungsprogramm“. Das Forschungsprogramm des in vier Hauptteile gegliederten Werks wird als „reflexive Praxeologie“ beschrieben, deren entscheidendes Kennzeichen ist, kontinuierlich mit zu reflektieren, wie sehr die Forscherin selbst als Teil des Feldes agiert – was mit Verstehensvorteilen und Einsichten ebenso wie blinden Flecken einhergeht. Neben dem in bestem Nominalstil vorgetragenen programmatischen Anspruch hätte man sich hier aber auch einige Worte zur konkreten Positionierung der Autorin selbst in diesem Feld und seinen Kämpfen gewünscht, um zumindest ansatzweise nachvollziehen zu können, was genau die „,erkenntnistheoretische Dauerreflexion‘“ (S. 41) auszeichnet. Das Forschungsdesign bestimmt Keil als „reflexive Grounded Theory Methodologie“ (R/GTM). Diese begriffliche Erweiterung der GTM nimmt den dezidiert positivismuskritischen Impuls von Bourdieu auf, überzeugt aber trotzdem nur bedingt, wenn man sich fragt, wie denn eine ‚nicht reflexive GTM‘ aussehen würde. Die gibt es sicher in Form schlechter empirischer Forschung, programmatisch ist sie, zumindest in der Strauss-Corbin-Linie, jedoch kaum begründbar.
Der zweite Teil stellt die Genese und gegenwärtige Struktur des Feldes der universitären Wissenschaft dar. Die „systematische Skizze“ (S. 116) behandelt die Geschichte der Universitäten, insbesondere in Deutschland, von ihrer Entstehung bis zu den aktuellen Verwerfungen des noch immer stark durch feudale Elemente geprägten akademischen Kapitalismus. Die extensive Darstellung der neuzeitlichen Debatten von Fichte, Schleiermacher, Humboldt und anderen ist dabei nicht der einzige Abschnitt, aus dem man zwar intellektuellen Gewinn ziehen kann, der die Leserin aber dennoch merkwürdig ratlos zurücklässt. Welche konkrete Funktion die umfangreichen Darstellungen, insbesondere die historischen, haben, welche Aspekte der gegenwärtigen Struktur des Feldes auf historische Kontinuitäten zurückzuführen sind, muss man eher selbst rekonstruieren als dass man es zur These verdichtet im Text lesen kann. Das ist auch deshalb etwas schade, als Keil zu zeigen vermag, inwiefern insbesondere der auch heute noch vorherrschende feudale Charakter, also die Bedeutung von Patronage für den Eintritt in das Feld und das Bestehen darin, ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten darstellt.
Die Beiträge, wegen derer man zukünftig auf dieses Buch zurückgreifen wird, finden sich also nicht in erster Linie in seinem ‚Überbau‘, sondern in seiner Basis, der empirischen Analyse, die vom begrifflichen Dreiklang Feld, Habitus und Praxis angeleitet wird. Das Projekt fußt auf 26 Leitfadeninterviews mit promovierten Sozialwissenschaftler*innen, die überwiegend aus der Soziologie, aber auch aus der Politikwissenschaft sowie der Erziehungswissenschaft und der Pädagogik kommen und über ihre Herkunft und ihren beruflichen Werdegang sprechen. Die Befragten sind entweder befristet angestellte wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, akademische Rät*innen und Juniorprofessor*innen, unbefristete Professor*innen oder arbeitslos beziehungsweise freiberuflich tätig. Der dritte Teil des Buches stellt die empirischen Befunde aus diesen Interviews ausführlich und systematisch dar. Keil widmet sich a) dem Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungslaufbahn, b) den verschiedenen Wegen der Feldsozialisation, c) der Praxis der Akteure im Feld, d) ihrer Lebensführung und den dadurch (un-)möglichen Anschlüssen an das Feld sowie e) der Öffnung und Schließung durch Gatekeeper. In Teilen sind die Schilderungen eher deskriptiver Art, was aber kein Manko ist. Vielmehr findet man anschaulich-dichte Beschreibungen von typischen Pfaden, beispielsweise der Lehrstuhlpromotion und der Individualpromotion, sowie den daraus resultierenden jeweiligen Dispositionen für den weiteren Weg im Feld. Die Darstellungen explizieren vieles, was einem als Akteur im System meist irgendwie bekannt ist, ordnen die Informationen aber systematisch, fassen sie begrifflich und legen damit den Grundstein für die formalisierte Theorie, die im Schlusskapitel entwickelt wird.
Geordnet werden die von den Befragten beziehungsweise ihren Teilgruppen geschilderten Wege und Praktiken durch gehaltvolle, empirisch grundierte Typen und Leitunterscheidungen. So wird das Feld Wissenschaft zwischen der Machtachse (Kapitalausstattung/Status) und der Achse Autonomie/Heteronomie aufgespannt. Auf deren einer Seite findet sich die rein akademische, nur der eigenen Fachöffentlichkeit verpflichtete Wissenschaft („Prinzip Aufklärung“), auf der anderen die stark nach außen gerichtete und über das Feld hinaus vernetzte Forschung mit Beratungs- und Anwendungsanspruch („Prinzip Gesellschaftsauftrag“). Beide Extremtypen (es gibt noch die mittlere Position „Prinzip Expertise“) haben unterschiedliche Anliegen und verfolgen diese mittels divergenter Praktiken, was sich unter anderem anhand der erwähnten unterschiedlichen Promotionswegen oder typischen Publikationsformen (Monografie vs. Peer-Review-Artikel) exemplifizieren lässt. In sozialer Hinsicht dominiert am autonomen Pol mit dem klassischen Meister-Schüler-Verhältnis eine stark personale Abhängigkeit mit relativ später Selbstständigkeit des ‚Schülers‘/der ‚Schülerin‘, während am heteronomen Pol Peer-Netzwerke von größerer Bedeutung sind.
Die Darstellungen Keils sind eine wahre Fundgrube an gehaltvollen Konzepten zum Verständnis des Feldes, die teilweise kaum der weiteren Erläuterung bedürfen: forschungszentrierte Belohnungsstruktur, wissenschaftliche Laufbahn als permanente Übergangsphase und viele mehr. Auf breiter Materialbasis und ergänzt mit anschaulichen Interviewzitaten werden besonders relevante einzelne Merkmale des Feldes herausgearbeitet. Keil schildert etwa die Temporalstrukturen entgrenzter wissenschaftlicher Arbeit, die, wie sie zeigt, schon von studentischen Beschäftigten angeeignet werden. Sie beruhen auf einer „stark ausgeprägte[n] illusio“ (also dem Glauben an das Spiel und seine Ernsthaftigkeit sowie die Fähigkeit zum Einsatz in diesem Rahmen gewinnbringender Strategien, S. 272 f.), die die volle Konzentration auf Wissenschaft bei gleichzeitiger Unterordnung aller anderen Lebensbereiche ebenso legitimiert wie die Inkaufnahme eines hohen beruflichen Risikos. Als im Feld Wissenschaft Berufstätiger muss man sich also zwischen „asketischer Lebensführung“ (im Extrem unter fast vollständigem Verzicht auch nichtberufliche Beziehungen und Netzwerke) und „Hochleistungsmanagement“ entscheiden. Die Unvereinbarkeitsproblematik von Familie und Beruf ist ein „strukturelles Merkmal wissenschaftlicher Erwerbsbiographien“ (S. 316), ein Drahtseilakt, der entweder zu Lasten privater Bindungen und Sorgebeziehungen (bei Keil enger: der Familie) oder der wissenschaftlichen Produktivität geht. Die feldspezifische Bewährungslogik wird derart internalisiert, dass sie auch von verbeamteten Professor*innen nicht mehr abgestreift wird. Dass dieser stete Bewährungsdruck stärker auf weiblichen Akteuren lastet, ist eines von vielen Momenten der Geschlechterdimension sozialer Ungleichheit in der Wissenschaft, die Keil zu Recht als Androzentrismus und symbolische Gewalt beschreibt.
Keil zeigt überzeugend, dass die Wissenschaftler*innen ihre Strategien und ihre Lebensführung an den Strukturen des Feldes ausrichten. Vermittelt wird das zum einen über herkunftsbezogene Dispositionen, wobei widerständige, konforme und adaptive Grunddispositionen mit niedriger, mittlerer oder gehobener sozialer Herkunft korrespondieren. Die adaptive Disposition ist mit ihrem „sense of entitlement“ und der scheinbar natürlichen „Orientierung nach oben“ die erfolgreichste, ihre mühelose Durchsetzung erscheint dabei als Folge des persönlichen fachlichen Interesses. Zum anderen werden die Wissenschaftler*innen durch eine Feldsozialisation geprägt, die wiederum relevant wird, wenn sie in machtvolle Gatekeeper-Positionen gelangen und die illusio nun selbst verteidigen und tradieren. Die verinnerlichten Regeln und Ordnungen des Feldes werden also wieder veräußerlicht. Mit Bourdieu gesprochen findet eine Exteriorisierung der Interiorität und Interiorisierung der Exteriorität im Zuge der Feldsozialisation statt (S. 401). Praktisch heißt das, dass auch von jüngeren – quasi zur Legitimation der eigenen Position – wiederum ein „Kämpfen [an den] eigenen Grenzen des Machbaren“ (ebd.) verlangt und eine Orientierung an einem Habitus der höheren Klassen vorausgesetzt wird. Keil (S. 402, sic!): „Reproduziert wird also das Idealbild eines voraussetzungsvollen Habitus, über den die oberen Klassen aufgrund ihrer adaptiven Grunddisposition und ihrem proaktiven Aneignungsmodus ohnedies verfügen.“ Weil entsprechende Daten in den zugrundeliegenden Forschungen nicht erhobenen wurden, bleibt allerdings offen, inwiefern in diesen Prozessen nicht nur der ‚passende‘ Habitus, sondern auch konkretes ökonomisches und soziales Kapital eine entscheidende Rolle spielen.
Der letzte Teil führt die Überlegungen und Darstellungen zu einer etwas formaleren, die bisherigen Argumente zusammenfassenden Theorie der sozialen Ungleichheit im Wissenschaftssystem zusammen, die Keil selbst als „gegenstandsorientierte[] und feldspezifische[] Theorie sozialer Schließung“ (S. 410) bezeichnet. Zu widersprechen ist der Autorin nur, wenn sie ihre Arbeit aufgrund der Sample-Größe und der Beschränkung auf die Sozialwissenschaften als „Objektivierungsversuch“ (S. 424) kleinredet. Sicher sind noch andere Karrierewege, weitere Typen oder typinterne Subdifferenzierungen denkbar. Doch das schmälert die Leistung der Studie im Hinblick auf die Offenlegung der geschilderten Strukturen nicht.
Es stellen sich natürlich Anschlussfragen, wie die, ob die Kernergebnisse auch für gänzlich andere wissenschaftliche Disziplinen gelten und welche Rolle direktes, nicht über den Habitus vermitteltes ökonomisches Kapital spielt. Doch für Kenner des Feldes ist die Darstellung überzeugend, dabei nie monokausal, monodirektional oder zu deterministisch und offen für – hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführte – Dynamiken im Feld. Das macht sie, trotz der eher dramaturgischen Monita, zu einem Mustread für die Forschung zum universitären Feld. Das Bourdieu’sche Theorie- und Begriffsarsenal hat sich einmal mehr als äußerst aufschlussreich für die Hochschulforschung erwiesen, weil es, statt den Blick auf Strukturen zu verengen, systematisch erhellt, wie die am Spiel Beteiligten dessen Regeln verinnerlichen und den Status quo reproduzieren, was es so schwer macht, Veränderung aus dem Inneren des Feldes heraus anzustoßen.
Angesichts der anhaltend schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen im Feld, die ihren Ausdruck im zunehmenden Aufruhr unter Hochschulbeschäftigten im Mittelbau (Stichwort #ichbinhanna) finden, ist Keils Fazit am Ende der Untersuchung so hochaktuell wie normativ richtig: Noch immer sei nämlich Webers Aussage zuzustimmen, dass es „regelrecht unverantwortlich sei, den sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchs zu einer wissenschaftlichen Laufbahn zu ermuntern“ (S. 432).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Methoden / Forschung Soziale Ungleichheit Universität Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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