Clément Gourmet | Rezension | 11.03.2022
Im Geiste Jean Monnets
Rezension zu „The Economic Integration of Europe” von Richard Pomfret
Die Europäische Union ist seit den 2010er-Jahren sukzessive mit immer mehr Krisen konfrontiert: mit der Finanzkrise 2008, der Eurokrise 2010/2012, der Ukraine-Krise 2014, der Flüchtlingskrise 2015, dem Brexit 2016, der Coronakrise seit 2020 und ganz aktuell mit dem Angriff Putins auf die Ukraine. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen wird die noch unvollendete politische wie wirtschaftliche Einigung europäischer Staaten offenbar. Jede Krise erweckt Hoffnung und Skepsis bei den innerhalb der EU lebenden Menschen gegenüber dem europäischen Projekt. Da überrascht es nicht, dass Sinn und Zweck der EU regelmäßig in Frage gestellt werden: Wozu braucht man die EU überhaupt? Was sind ihre konkreten Leistungen für die Länder und Bürger Europas? Sowohl das Friedensmotiv als auch das Modell eines stets zunehmenden Wohlstands – zwei tragende Säulen des europäischen Projekts – scheinen in den letzten Jahren ihren einstigen Glanz verloren zu haben, sodass sich die EU zunehmend mit einer Existenzkrise konfrontiert sieht.
Sowohl die öffentliche Kritik als auch das wissenschaftliche Interesse an der Europäischen Union nehmen durch solche Krisen kontinuierlich zu. Zeit für eine Zwischenbilanz. Neuere geschichtswissenschaftliche Forschungen bieten einen Überblick über die Historie der EU und die ihr vorangegangenen Organisationen. Erklärtes Ziel dieser Arbeiten – hervorzuheben sind im deutschsprachigen Raum etwa diejenigen Wilfried Loths und Kiran Klaus Patels[1] – ist es, einem möglichst breiten Publikum den Status quo der Integration und die einzigartige Funktionsweise der EU zu erläutern. Jüngst hat Richard Pomfret – Inhaber der „Jean-Monnet-Professur“ für Economics of European Integration an der Universität Adelaide, Australien – eine Geschichte der wirtschaftlichen Integration Europas vorgelegt. Im Unterschied zu den deutschen Studien Loths und Patels liegt Pomfrets Schwerpunkt beinahe ausschließlich auf der makroökonomischen Ebene des EU-Projekts, während Themen wie Machtinteressen, die soziale Dimension oder EU-Recht kaum Aufmerksamkeit erfahren.
Der Autor leistet sinnvolle wirtschaftliche Aufklärungsarbeit, indem er Kosten und Nutzen der Integration für die europäischen Volkswirtschaften – in Form gut lesbarer Prosa – vorrechnet und mit konkreten Zahlen verdeutlicht. Zu diesem Zweck skizziert der Ökonom vier Stufen der wirtschaftlichen Integration Europas: 1. die Zollunion, 2. den Binnenmarkt, 3. die Währungsunion und 4. die Vollendung, also die vollumfängliche wirtschaftliche Einigung aller EU-Länder. Mit Hilfe dieses Vier-Stufen-Modells unterstreicht Pomfret die Dynamik der wirtschaftlichen Kooperation und weist anhand konkreter Daten und Beispiele überzeugend die Leistungen jeder Integrationsstufe aus. Zugleich verdeutlicht er, dass die Entwicklung in Richtung einer immer mehr voranschreitenden wirtschaftlichen Integration in der Vergangenheit weder reibungs- noch alternativlos war. So erlitt beispielsweise das Projekt der Währungsunion seit den 1970er-Jahren zahlreiche Rückschläge, bevor erst drei Dekaden später der Euro eingeführt wurde.
Aber der Reihe nach: Die niedrigste Stufe der Integration stellte die Zollunion dar, deren Vorteile sich leicht erschließen. Mit ihr sanken Austauschkosten drastisch, Handelsbeziehungen über Ländergrenzen hinweg wurden enorm vereinfacht. Eine solche Kooperation kam aber schnell an ihr Limit, handelte es sich doch ausschließlich um eine negative Integration, die in erster Linie tarifäre Handelshemmnisse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft beseitigte. Die Erfahrung der 1970er-Jahre zeigte, dass sich nicht-tarifäre Hemmnisse auf den innereuropäischen Handel ebenso negativ auswirkten. Schwankende Wechselkurse verteuerten jegliche Art von Warenaustausch und verunsicherten potenzielle Investoren. Zusätzlich beschränkten unterschiedliche Normen und Quoten die Entwicklung.[2] Aus wirtschaftlicher Perspektive stellten sich Binnenmarkt und Währungsunion als „logische“ nächste Schritte dar, sie wurden daher auch von Seiten europäischer Geschäftsleute aktiv unterstützt. Hieran wird exemplarisch deutlich, welch starken Einfluss gerade wirtschaftliche Akteure und deren Kooperationen auf die europäische Integration hatten. Darüber hinaus lässt sich jedoch auch der Eindruck gewinnen, die politische Ausgestaltung der europäischen Wirtschaftsintegration gleiche einer Flucht nach vorn: Die Handelsbeziehungen und wirtschaftlichen Verflechtungen diverser Akteure in Europa wie auch weltweit zwangen EU-Politiker stets zur Reaktion.
Pomfret sieht die zweite Stufe, den Binnenmarkt, als eine europäische Antwort auf den zunehmenden Protektionismus in den USA und den stetig steigenden Konkurrenzdruck aus Ostasien. Dem Autor zufolge liege der größte Vorteil des Binnenmarktes in der erhöhten Produktivität, die er seinen Mitgliedstaaten ermöglicht. Durch den freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen, Kapital und Menschen innerhalb der Grenzen Europas erhielten europäische Unternehmen Zugang zu einem deutlich größeren heimischen Markt, der sie dazu zwang, ihre Produktionskosten zu senken, um konkurrenzfähig zu bleiben. So entwickelten sich Wertschöpfungsketten, in denen sich Regionen auf einen bestimmten Bereich spezialisierten. Auf diese Weise habe die EU etwa zum Wiederaufstieg der britischen Automobilindustrie beigetragen. Ironischerweise werde, so Pomfrets sichere Prognose, der Brexit durch seine negativen Folgen auf die britische Industrie verdeutlichen, dass der wirtschaftliche Nutzen des Binnenmarktes eindeutig dessen Kosten überwiege.
Demgegenüber bietet die nächste Stufe, die Währungsunion, ihren Mitgliedsstaaten kostengünstigere Transaktionen und Kredite und gewährleistet eine gewisse Preisstabilität. Die Frühgeschichte des Euro habe das, so der Autor, unter Beweis gestellt. Gleichwohl berge die Währung politischen Sprengstoff: Pomfret macht deutlich, dass die Entwicklung der 1980er-Jahre – Verteuerung des Geldes sowie länderübergreifender Konsens in der Antiinflationspolitik – den Verzicht der Länder auf eine je autonome Währungspolitik erleichtert habe. In Anlehnung an Robert Mundells Theorie zum „Optimalen Währungsraum“ konstatiert Pomfret zudem, dass die Vorteile der Währungsunion noch stärker ausfielen, gäbe es eine höhere Mobilität der Arbeitskräfte zwischen den Regionen. Hier liege, so die Überzeugung des Autors, eine Schwäche der EU im Vergleich zu Bundestaaten wie den USA. Anders als viele angloamerikanische Ökonomen ist Pomfret aber optimistisch, was die Zukunft der Währungsunion betrifft. Inmitten der Euro-Krise habe sich die griechische Regierung trotz Austerität und Souveränitätsverlust geweigert, die gemeinsame Währung zu verlassen. Die Euro-Zone habe sich seither sogar vergrößert, was, so Pomfret, die Resilienz der Integration und ihre politische Bedeutung für die EU-Mitglieder bewiesen habe.
Eine Stärke des Buches liegt darin, dass Pomfret hinter jeder Integrationsstufe seine historischen wie theoretischen Überlegungen durch die Brille des Ökonomen betrachtet und die sich hinter jeder der beschriebenen Integrationsstufen verbergenden ökonomischen Theorien und Kalküle erläutert. Auf diese Weise verdeutlicht er, dass die auf reinen Theorien basierenden ursprünglichen Pläne sich selten exakt in die Praxis umsetzen lassen. Wissenschaftliche Kalküle basieren auf hermetischen Modellen, in denen Faktoren wie etwa Politik oder Kultur vernachlässigt werden. Hierin könnte sich eine Antwort auf die Frage verbergen, warum Wirtschaftsexperten allzu oft falsche Voraussagen über das vermeintlich kurz bevorstehende Scheitern des EU-Projekts abgeben. Denn, wie Pomfret treffend herausarbeitet, handelt es sich bei der EU in erster Linie um ein politisches Projekt, dessen Leistungen vor allem, aber nicht ausschließlich im ökonomischen Bereich liegen.
Insgesamt zieht der Professor im Geiste Jean Monnets eine eindeutig positive Bilanz hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration der EU. In einer Zeit, in der die Anzahl der EU-Kritiker stetig zunimmt und negative Aspekte der Integration – etwa der Verlust der eigenen Souveränität, Austerität, höherer Konkurrenzdruck – immer wieder beklagt werden, bietet der Ökonom einen überzeugend positiv gestimmten Überblick über die historische Entwicklung der EU. Pomfret verbindet seine Bilanz mit einem Plädoyer für das Konzept des Regionalismus, in dem politisch autonome Regionen zwar bestehen bleiben, innerhalb dieser aber werden die Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Akteuren liberalisiert und zunehmend integriert. Pomfret ermuntert die europäischen Politiker dazu, sowohl den Binnenmarkt als auch die Währungsunion voranzutreiben, wenn möglich bis zur Vollendung. Als nächste Schritte auf diesem Weg empfiehlt er die Europäisierung von Diensten etwa in den Bereichen Digitalisierung und Verkehr sowie eine europäische Fiskalunion.
Die EU darf unumwunden als Novum unter den internationalen Wirtschaftsbeziehungen bezeichnet werden, überschreitet ihr Status quo doch denjenigen anderer Kooperationsformen zwischen souveränen Nationalstaaten deutlich, ohne die wirtschaftliche Verflechtung eines Bundesstaates zu erreichen. Am Ende ist Pomfrets Buch seinem Untersuchungsgegenstand recht ähnlich: Das Ergebnis ist ein interessantes Mischprodukt, das sich sowohl für Historiker, die einen Einstieg in die schwierige Materie der wirtschaftlichen Integration suchen, als auch für Ökonomen, welche die Eigenlogik des EU-Projekts nachvollziehen wollen, eignet.
Fußnoten
- Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, München 2014; Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.
- Exemplarisch zieht Pomfret hier das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zum Cassis de Dijon (1979) heran. Die Rewe-Zentral AG plante einen Likör aus Johannisbeeren, den Cassis de Dijon, aus Frankreich nach Deutschland einzuführen und zu verkaufen. Die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein verbot den Verkauf dieses Likörs in der Bundesrepublik zunächst jedoch unter dem Vorwand, sein Alkoholgehalt (15 bis 20 %) entspräche nicht den deutschen Normen des Branntweinmonopol-Gesetzes (25 % Alkoholgehalt). Die Rewe-Zentral AG klagte daraufhin gegen die Bundesmonopolverwaltung. Am Ende des Verfahrens verkündete der europäische Gerichtshof, die Norme sei mit dem freien Warenverkehr in Europa unvereinbar: Da der Likör in Frankreich verkauft werde, dürfe er ebenso in der Bundesrepublik vertrieben werden. In Folge dieses Urteils hat sich der Terminus des Cassis-de-Dijon-Prinzips eingebürgert (S. 47–48).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Arbeit / Industrie Demokratie Europa Geld / Finanzen Politik Wirtschaft
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