Berthold Vogel | Rezension |

Im Maschinenraum sozialer Normen

Rezension zu „Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit“ von Axel Honneth

Axel Honneth:
Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit
Walter-Benjamin-Lectures
Deutschland
Berlin 2023: Suhrkamp
400 S., 30,00 EUR
ISBN 978-3-518-58797-3

So sollte sie sein, die Arbeitswelt: partizipativ und gerecht entlohnt, mit ausreichend Spielraum für allerlei Lebensbedürfnisse und impulsgebend für die Demokratie. Weiterhin sollte die Erwerbsarbeit allen das Gefühl vermitteln, am Großen und Ganzen mitwirken zu können. Als wertgeschätzte Personen betreten die Arbeitenden morgens den Betrieb, der idealerweise daran interessiert ist, Aufstiegsperspektiven zu bieten oder Fortbildung zu ermöglichen. Der arbeitende Souverän als Wille und Vorstellung.

Wie es um die Erfolgsaussichten für solch eine Arbeitswelt bestellt ist, sei an dieser Stelle erst einmal dahingestellt. Zudem wäre das Bild zu prüfen, das der Sozialphilosoph Axel Honneth, bis 2018 Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in seinem neuen Werk von den arbeitenden Bürgerinnen und Bürgern zeichnet. Es ist jedenfalls anspruchsvoll und möglicherweise mögen die Allermeisten lieber in kleinerer Münze zahlen, wenn es um das Verhältnis von Arbeit und Demokratie geht. Doch keine Beckmesserei: Es ist rundherum erfreulich, dass Honneth in Der arbeitende Souverän nicht davor zurückschreckt, mit Verve die Welt der Erwerbsarbeit in den Mittelpunkt einer normativen Zeitdiagnostik zu rücken, und dass er das Erwerbstätigsein zum Dreh- und Angelpunkt jedweden demokratischen Fortschritts erklärt. Die Fragen, die Honneth in seinem Buch stellt, sind in Zeiten, in denen der Zusammenhalt und die Überlebensfähigkeit von demokratischen und freiheitlichen Gesellschaften auf die Probe gestellt werden, von höchster Relevanz: Wie können Bindung und Freiraum, Option und Ligatur (Dahrendorf) gelingen, wenn nicht über die Zentralsphäre der Erwerbsarbeit? Ist es überhaupt möglich, die soziale Integrationsfähigkeit zu analysieren, ohne einen intensiven Blick auf Entfremdung, Kooperation und Funktionalität im Arbeitsalltag zu werfen?

Ein Lob der Arbeitssoziologie

Die Antwort Honneths lässt keinen Zweifel: Es ist ein erhebliches sozialtheoretisches und gesellschaftsanalytisches Defizit, die Sphäre der Arbeitswelt bloß als ein Thema unter vielen zu behandeln. Zu oft schon wurde das Ende der Arbeit besungen. Doch die moderne, industriell geprägte und arbeitsteilig organisierte Gesellschaft bleibt in ihren Status- und Wohlfahrtsstrukturen, in ihrer institutionellen Ordnung und in ihren dominanten Mentalitäten eine Arbeitsgesellschaft. Nach wie vor hält die industrielle Wertschöpfung den Wohlstandsladen am Laufen und die warnenden Töne vor einer Deindustrialisierung, die im Zuge von Russlands Krieg, der Energiekrise und der unterbrochenen Lieferketten anklingen, sind keineswegs nur Lobbypolitik oder Plädoyer für ein industrielles Weiter-so. Doch nicht nur der Produktionssektor war bislang robuster als noch vor Jahrzehnten gemutmaßt, auch wächst mit Pandemie und Polykrise die Einsicht, dass gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen wie Bildung, Pflege, Busfahren sowie Polizei- und selbst Militärdienst in einer freiheitlichen und zugleich um soziale Sicherheit bemühten wohlfahrtsstaatlich geprägten Gesellschaft unabdingbar sind. Kein Ende der Erwerbsarbeit, nirgends.

Dementsprechend thematisiert Honneth mit seinen Ausführungen zum arbeitenden Souverän, die aus den im Sommer 2021 von ihm gehaltenen Berliner Walter-Benjamin-Lectures hervorgegangen sind,[1] eine gesellschaftstheoretische Bringschuld. Er fragt sich (und klagt sich in gewissem Sinne auch selbst an), wie es passieren konnte, dass das Nachdenken über Demokratie die Anbindung an die Realien der Arbeitswelt verlieren konnte. Ja, der demokratische Souverän, die Bürgerin und der Bürger, sind in aller Regel – wenn nicht zu jung oder zu alt, wenn nicht krank oder aus anderen Gründen erwerbsunfähig – im Arbeitsleben aktiv. Betrieb, Beruf und Bildung repräsentieren eine starke institutionelle Trias der Arbeitsgesellschaft, die weit davon entfernt ist, durch Rationalisierung, Informatisierung und Digitalisierung zu verschwinden. Die Hoffnung, dass der technische Fortschritt uns von der Arbeit glücklicherweise befreien werde, hat sich erschöpft; die Sorge, Millionen Arbeitsplätze würden überflüssig werden und verschwinden, hat sich als unbegründet erwiesen. Auch die Demokratie selbst, ihre Institutionen, Verwaltungen, Infrastrukturen und Orte sind Resultate und Gegenstände der Arbeit. Mit dem Typus des arbeitenden Souveräns kommen daher nicht nur die erwerbstätigen Bürgerinnen und Bürger in den Blick, sondern auch die von ihnen produzierten und gewährleisteten öffentlichen Güter, die eine demokratische Gesellschaft erst stark machen.

In all diesen Punkten arbeitet sich Honneth an den Großmeistern Rawls und Habermas ab, die nach seiner Auffassung zu sehr über die Untiefen, aber auch über die unspektakulären Normalitäten der Erwerbsarbeit hinweg geschrieben und gedacht haben. Dagegen setzt er ein – zumindest in diesen Zeiten überraschend klares – Lob der Arbeitssoziologie: „Eine Demokratietheorie ohne die Anschauungen der Arbeitssoziologie bleibt leer, um Kant zu paraphrasieren, eine Art Arbeitssoziologie ohne die Begriffe der Demokratietheorie bleibt blind.“ (S. 108)

Das alles erinnert in positiver Weise an die Anfänge der Industriesoziologie nach 1945 in Westdeutschland. Seinerzeit gingen junge Wissenschaftler wie Hans Paul Bahrdt, Heinrich Popitz, Burkart Lutz oder Ludwig von Friedeburg in empirischen Studien Fragen der betrieblichen Mitbestimmung nach und analysierten Gesellschaftsbilder von Arbeitern in der Industrie. Ihre Forschungen waren von der Überzeugung getragen, dass die junge Demokratie der Bundesrepublik nur dann eine Entwicklungs- und Entfaltungschance haben werde, wenn sich auch in der Sphäre der Arbeit Potenziale demokratischer (und materieller) Teilhabe realisieren ließen. Daher war der empirische Blick auf Industrie und Arbeiterschaft so stark und interessant. Arbeit war eben mehr als die Anwendung von spezifischen Fertigkeiten auf konkrete Gegenstände (oder Personen). Arbeit war immer auch gesellschaftliche Arbeit, im Sinne eines Tätigseins in sozialen Zusammenhängen.

Auch die politische Programmatik der „Humanisierung der Arbeit“, die in der alten Bundesrepublik in der sozialdemokratischen Hochzeit der 1970er-Jahre entwickelt wurde, folgte diesem Gedanken. Die Arbeitslosigkeitsforschung hat dies später ex contrario aufgegriffen, indem der Verlust der Erwerbsarbeit nicht nur als materielles oder psychisches Problem verstanden wurde, das zu „verarbeiten“ ist, sondern als „sozialer Tod“, wie es beispielsweise der Soziologe Pierre Bourdieu plastisch zum Ausdruck brachte.

„Rückeroberung alter Errungenschaften“

Dem flammenden Appell Honneths, die Arbeitswelt zum Gegenstand sozialtheoretischer Mühen zu machen, soll daher nicht widersprochen werden. Auch wäre eine Renaissance arbeitssoziologischer Bemühungen in diesen Zeiten starker Transformationen der Arbeitswelt durchaus wünschenswert. Dennoch wirken die Ausführungen Honneths an vielen Stellen geradezu „nachholend“. Nachholend im Sinne von: Ein Zeitalter vergeht, wir erkennen nur bruchstückhaft die Konturen des Neuen, halten aber die Bilder fest, die unser Bewusstsein über Jahrzehnte geprägt haben. Auf der Grundlage dieser Haltung postuliert Honneth enge Koppelungen, die entweder so allgemein sind, dass man ihnen jenseits aller Empirie nur schwer widersprechen kann, oder sie evozieren ein Bild der Arbeitsgesellschaft, in der alles zur Arbeit drängt, in der Arbeit ein knappes Gut ist und in der die Arbeit das Statusmaß aller Dinge ist. Die Arbeit ist die Schule der Demokratie. Punktum.

Dementsprechend lauten die Grundbotschaften Honneths, die sich wie ein roter Faden durch die historischen Rekurse, die normativen Zugriffe und die strukturellen Analysen seines Buchs ziehen: Gute Erwerbsarbeit macht gute Demokratie. Erwerbsarbeit ist das Ziel allen sinnerfüllten Strebens. Der Arbeitsvertrag öffnet den Zugang zum Maschinenraum sozialer Normen. Arbeit als Einübung in Demokratie heißt bei Honneth daher, dass Menschen jedweder Herkunft sich in Betrieb und Büro die Möglichkeit eröffnen muss, sich einander als Bürgerin und Bürger – im Idealfall als freie Gleiche – zu begegnen. Honneth rechnet der Arbeitswelt das Potenzial zu, gelingende Kollektivität in einer Gesellschaft zu ermöglichen, die mehr und mehr in ihre Fragmente, Klassen, Milieus und Zonen zu zerfallen droht.

Doch wie weit tragen diese normativen Überzeugungen in einer aktuellen arbeitsgesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Arbeiterlosigkeit und Fachkräfteknappheit, von umfassender und alle Branchen übergreifender Abkehr vom Vollzeitarbeitsverhältnis sowie vom intensiven Wunsch des demokratischen Souveräns nach neuen Balancen zwischen Erwerbsarbeit und Lebenszeit geprägt ist? Und inwieweit kann eine Arbeitswelt, die durch ihre Produkte und Wertschöpfung den Planeten und die Lebensgrundlagen des Menschen devastiert, die Grundlage eines demokratisch organisierten Aufbruchs in ein Zeitalter der Dekarbonisierung, der ökologischen Verträglichkeit und der regionalen Kreislaufwirtschaft sein? Schließlich und noch sehr viel provokanter, wenn man die Arbeitswelt der Gegenwart zur Schule der Demokratie deklariert: Wird nicht in Zukunft der Umgang mit Wohlstandsverlusten, die Schaffung von Resilienz jenseits der herkömmlichen Arbeitswelt die Zukunft demokratisch organisierter Gesellschaften herausfordern? Sind nicht die Grundlagen auch der ‚guten Arbeit‘ auf ein spezifisches Produktionsmodell ausgerichtet, das keine Zukunft haben sollte?

Das Problem an Honneths Ausführungen ist nicht, dass er auf diese Fragen keine Antworten findet, sondern dass er diese Fragen im Jahr 2023 nicht explizit stellt. Und so zieht sich durch die Lektüre des arbeitenden Souveräns der Eindruck, dass es gut ist, dass wir wieder einmal darüber gesprochen haben, dass eine gerecht organisierte Arbeit, in der Arbeitgebende den Arbeitnehmenden Freiräume gewähren und Wertschätzung ermöglichen, eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie ist. Ja, das ist sicher so, aber was bedeutet das in Zeiten, in denen insbesondere diejenigen Industriesektoren nicht mehr einfach so weiterwirtschaften können, die bislang ihren Beschäftigten materiell sehr auskömmliche und sichere Arbeitsbedingungen geboten haben – inklusive Freiräume für vielleicht auch politisches Handeln? Es greift zweifelsohne zu kurz, die Zukunft von Erwerbsarbeit und Demokratie ohne Blick auf grundlegende demografische Veränderungen, ohne Blick auf extreme geostrategische Verschiebungen der Weltwirtschaft und ohne Blick auf irreversible ökologische Herausforderungen zu betrachten. Der Verdacht liegt doch nahe, dass der Schlüssel der demokratischen Zukunft nicht alleine in Teilhabe, materieller Auskömmlichkeit und sozialer Sicherheit der Erwerbsarbeit liegt, sondern in der fundamentalen Revision unserer Lebens- und Konsumweisen. Zweifelsohne bleibt die Erwerbsarbeit der archimedische Punkt, von dem aus gesellschaftliche Veränderungen begonnen werden müssen.

Die Perspektive, Arbeit und Demokratie über die Sozialfigur des arbeitenden Souveräns zu verbinden, stimmt. Ebenso richtig ist es, das Wohl und Wehe der Demokratie sehr viel stärker mit der Gestaltung der Arbeitswelt zu verknüpfen. Ob es allerdings ausreicht, wie von Honneth abschließend empfohlen, die demokratische Kultur in unseren politischen Breitengraden durch die Einführung eines sozialen Pflichtjahres, durch die Renaissance des Genossenschaftsgedankens und durch die Stärkung der Arbeitsrechte zu stärken, bleibt fraglich. Auch die Aussage, dass es mit Blick auf eine Demokratisierung der Arbeitswelt um die „Rückeroberung alter Errungenschaften“ (S. 353) der Arbeiterbewegung gehen müsse, lässt Zweifel aufkommen, ob hier nicht zu einer Arbeitsgesellschaft zurückgekehrt werden soll, die es in dieser Form niemals gab.

Wohlstandshemd und Überlebensrock

Wenn in der Gestaltung der Erwerbsarbeit der Schlüssel zur Überlebensfähigkeit und Resilienz demokratischer Gesellschaften liegt, dann bedarf es mehr als eines „Aufschreis der Empörung“ (S. 388) über die Arbeitsverhältnisse. Es bedarf eines neuen Zugangs zu den gesellschaftlichen Umwelten und es bedarf neuer ökologischer Bindungen in der und durch die Erwerbsarbeit. Der arbeitende Souverän wird sich die Frage stellen müssen, ob er und sie bereit ist, mit materiellen Wohlstands- und sozialen Fortschrittsversprechen zu brechen, die in der Arbeitswelt der Vergangenheit und Gegenwart mitbestimmt, tariflich ratifiziert und materiell prämiert wurden und noch werden. Es ist ja nicht so, dass die Arbeitswelt von heute nur eine prekäre wäre, von der man sich befreien müsste. Vor allen Dingen ist sie eine Arbeitswelt, die in breitem Maße Wohlstand und konsumtive Profite für sehr viele geschaffen hat. So bleibt am Ende der Lektüre von Axel Honneths neuem und sympathischen Werk das Unbehagen, dass dem arbeitenden Souverän erstens das aktuelle Wohlstandshemd näher liegt als der Überlebensrock künftiger Generationen; und dass der arbeitende Souverän zweitens alle (demokratischen) Mittel nutzen wird, die Perspektiven der Heutigen über das Interesse der Künftigen zu stellen. Diese Konflikte und Ambiguitäten im Verhältnis von Arbeit und Demokratie sollten uns beunruhigen, denn sie sind der Nährboden für Autoritarismus und Vergangenheitssehnsucht. Aber damit wären wir schon ein Buch weiter.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Arbeit / Industrie Demokratie Gesellschaftstheorie Ökologie / Nachhaltigkeit

Berthold Vogel

Prof. Dr. Berthold Vogel ist seit 2015 Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität. Seine thematischen Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der Soziologie staatlicher Ordnung, in der Analyse öffentlicher Güter sowie der vielfältigen Welt der Erwerbsarbeit.

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