Armin Nassehi | Interview |

Ist es drinnen besser?

Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour

Welches Latour-Buch war für Sie besonders wichtig?

Offen gestanden hat Latour mich nie wirklich überzeugt, deshalb im Folgenden einige Anmerkungen eher idiosynkratischer Art: Die frühen, zusammen mit Steve Woolgar durchgeführten Laborstudien Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts von 1979 sind sicher insofern bedeutend, als sie ein Genre des Nachdenkens über die konkreten Praktiken der Herstellung wissenschaftlichen Wissens begründet haben, aus der die ANT entstanden ist und die eine Idee der Wissensproduktion jenseits der wissenschaftstheoretischen Reflexionstheorie der Wissenschaft mitbegründet haben. Sicher ist auch Wir sind nie modern gewesen ein interessanter Versuch, Natur/Gesellschaft-Zurechnungen zu beschreiben. Allerdings scheint mir die Originalität dieser Arbeiten vor allem in ihrer exotisierenden Verfremdung zu liegen. Dass Mikroben oder Straßenschwellen als Akteure konzipiert werden können, vermag ja nur diejenigen zu überraschen, die das Handeln vorher für etwas gehalten haben, das Leute einfach so tun. Selbstverständlich ist es eine gute Idee, auch nicht-menschlichen Entitäten einen Status als Aktant zuzurechnen (sic!). Aber dass Handeln, also das ganz simple menschliche Handeln, von Voraussetzungen abhängt, die der Akteur nicht selbst kontrollieren kann, und deshalb vor allem eine Zurechnungskategorie ist, ist mehr soziologisches Schwarzbrot, als es in der exotisierten Beschreibung den Anschein haben mag. Man kann Latour würdigen und sagen, dass man nach der Lektüre seiner Werke nicht mehr daran vorbeisehen könne, dass auch Mikroben und Dinge etwas „tun“, zur Gesellschaft gehören, etwas beitragen, aber damit reproduziert man am Ende nur ein Containermodell von Gesellschaft, das nicht an Operationen ansetzt, sondern an der Zugehörigkeits-, Gemeinschafts- und Versammlungsfrage. Die Begrifflichkeiten dafür sind erstaunlich konventionell.

Was war Latours wichtigster Beitrag zur Soziologie?

Seine Kritik an dem, was er die „kritische“ Soziologie nennt, ist insofern einleuchtend, als er damit zeigt, wie sehr auch das sozialwissenschaftliche akademische Milieu in den Aktionismus des linearen Bewirkens verstrickt ist, statt die Voraussetzungen jeglichen Handelns in allerlei Verstrickungen ernst zu nehmen. In seinen späteren Arbeiten weitet sich das dann aber zu der These aus, dass alles mit allem vernetzt sei – Menschliches mit Nichtmenschlichem, Dinge, Lebewesen, Böden, Steine, die Erde usw. Das ist, um es böse zu formulieren, insofern befreiend, als es davon entlastet, genauer hinsehen zu müssen; das erübrigt sich schlichtweg, wenn wirklich alles mit allem vernetzt ist. Dabei wird es aus soziologischer Perspektive doch erst dann interessant, wenn man die Unterbrechungen sieht, die Unterbrechungen von Interdependenzen, die Strukturiertheit von Vernetzungen sowie die Limitationen und damit auch die Stabilität von „Versammlungen“. Bei Latour kann man ebenfalls sehen, wie sich der Gedanke der Vernetzung verselbständigt, so dass letzten Endes keine Kriterien mehr für die Frage existieren, woraus die Trägheit und der Widerstand, die Strukturdetermination und nicht zuletzt der Unwille resultieren, manche Interdependenzen anders zu gestalten. Die Figur der Vernetzung gerät unter solchen Umständen selbst zu einem Aktanten, was in der Rezeption dazu verführt, dass sich die Figur, nicht-menschliche Entitäten als Aktanten zu behandeln, verselbständigt. Man gewöhnt sich sprachlich an den Aktantenstatus, und schon „tun“ alle Dinge etwas, obwohl Latour in einigen seiner Texte vor einer solchen Symmetrisierung sogar explizit gewarnt hat. Das bestätigt Latours These auf eine ironische Weise.

Ich möchte die sich hier ergebende Gelegenheit nutzen, um auf den bemerkenswerten Umstand hinzuweisen, dass Latours Soziologie einen Gottesbeweis ermöglicht. In Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft schreibt er, es gehe darum, „Objekte zum Reden zu bringen, das heißt Beschreibungen ihrer selbst anzubieten, Skripte von dem zu produzieren, wozu sie andere – Menschen oder Nicht-Menschen – bringen.“ Was hier umschrieben ist, kann auch Gott (oder mehrere Götter) sein. In welcher Systemreferenz die genannten Skripte jedoch anzufertigen wären, ist eine offene Frage. Bei Gottesbeweisen stellte sich schließlich seit jeher die Frage, ob wir Immanenten überhaupt etwas über das Transzendente zu sagen vermögen. (Der letzte und einzige mir sonst bekannte soziologische Gottesbeweis stammt übrigens von Georg Simmel, der aber eher an der Kant’schen Figur des Endzwecks der Natur ansetzt.)

Welches Konzept, welche Intervention Latours sollte man weiterdenken?

Weiterzudenken ist Latours Beharren darauf, dass sich manche Bedingungen wie etwa der Klimawandel oder die ökologische Zerstörung nicht wegdekonstruieren lassen, dass es tatsächlich „Tatsachen“ gibt – ein Hinweis, der nicht deutlich genug betont werden kann. Auf den ersten Blick widerspricht das der früheren These seiner beiden Paradoxa über die Konstruiertheit/Natürlichkeit von Natur/Gesellschaft, auf den zweiten Blick jedoch nicht. Aber ist es wirklich ratsam, das System/Umwelt-Verhältnis der Gesellschaft und ihrer Umwelt zugunsten einer Art Supersystem aufzuheben? Am Ende ginge dabei doch verloren, dass die internen Differenzierungen der Gesellschaft unfähig sein könnten, die ihr eigenes Überleben bestimmenden Interdependenzen und Antezedenzbedingungen angemessen zu berücksichtigen. Worin liegt der Vorteil, dieses Innen/Außen-Verhältnis zu einem reinen Innenverhältnis zu erklären? Entdramatisiert es die Dringlichkeit damit nicht eher? Dass dieses gesellschaftliche System/Umwelt-Verhältnis ebenfalls verschwindet, sobald die Antezedenzbedingungen in Form von Luft, Wasser, Erde, Nahrung usw. nicht mehr gegeben oder zerstört sind, ist nicht schwer einzusehen. Die Herausforderung ist aber doch, was ihre Differenz ausmacht und warum die angemessene Reaktion auf das Schwinden dieser Bedingungen und der Rekurs auf ihre Tatsächlichkeit nicht gelingt. Vielleicht ist es wissenschaftlich nicht die beste Lösung, diese Differenz kategorial aufzuheben und damit keinerlei Kriterien mehr für diese Differenzbewirtschaftung in Anschlag bringen zu können. Auch die totale Vernetzungsperspektive bedient eine gewisse Exotisierungserwartung und verfügt am Ende über eine Art moralische Drift, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, sondern auch nicht-menschliche Aktanten zu emanzipieren und ihnen (wieder) einen Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Diese Inklusionsdrift ist die klassische Geschichte der Aufklärung. Sie hat gesellschaftsintern bald alle menschlichen Wesen zu Vollmitgliedern gemacht (und damit übrigens weder Ungleichheit noch Diskriminierung, weder Exklusionsmöglichkeiten noch Asymmetrien abgeschafft). Diese Emanzipationsgeschichte wurde bei Latour nun auf die ganze Erde, auf alles, auch auf Mikroben und Straßenschwellen ausgeweitet. Nur was folgt daraus analytisch? Ich fürchte, nur das gute Gefühl, nun nichts mehr ausgegrenzt zu haben – daran ist das sozialwissenschaftliche Milieu gewöhnt. Aber daraus lassen sich noch längst keine Kriterien dafür ableiten, wie sich die internen Vernetzungsbedingungen verändern lassen – außer durch gute Einsicht und Absicht. Das aber würde hinter Latours eigene Kritik der „kritischen“ Soziologie zurückfallen. Gegenüber solchem Holismus lobe ich mir die Grenzregime von Systemreferenzen und eine theoretisch wie methodisch kontrollierte Normalwissenschaft. Diese kann dann übrigens wieder „kritisch“ werden, wenn sie die internen Bedingungen ihres System/Umwelt-Verhältnisses in den Blick nimmt.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Ökologie / Nachhaltigkeit Systemtheorie / Soziale Systeme Wissenschaft

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Armin Nassehi

Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls I für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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