Ulrich Iberer | Rezension |

Jenseits des Imperativs

Rezension zu „Laterales Führen. Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung“ von Stefan Kühl

Stefan Kühl:
Laterales Führen. Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung
Deutschland
Wiesbaden 2017: VS Verlag für Sozialwissenschaften
S. 69, XIV, EUR 9,99
ISBN 978-3-658-13428-0

Als moderne Menschen sind wir sensibilisiert für die Gleichheit von Personen. Entsprechend haben Hierarchien in unseren Augen schnell einen negativen Beigeschmack. Jedoch erfüllen sie in komplexen Gesellschaften die wichtige soziale Funktion, Diskussionen zu einem produktiven Ende zu bringen. Irmhild Saake beispielsweise spricht in diesem Zusammenhang von „sich selbst stabilisierende[n] Asymmetrien“.[1] In Organisationen wird dieser Gegensatz besonders virulent. Vermeintlich hierarchiearme oder gar -freie Organisationsstrukturen haben Hochkonjunktur – zumindest wenn man so manchen Beiträgen und Publikationen Glauben schenken mag, die entsprechende Wunsch- oder Idealvorstellungen für eine moderne Organisation propagieren.[2] Der empirische Blick in Organisationen zeigt jedoch, dass die Hierarchie eine elementare Koordinationsform für alle Arten von Organisationen darstellt, sei es auf streng zentralistische Art oder in dezentralen Formen, in starker oder abgeschwächter Ausprägung, in formeller oder informeller Gestalt. Für hierarchie-geprägte Organisationen (z.B. Rettungsteams, Armeen) ist nachgewiesen, dass eine top down-Einflussnahme oftmals nur in Krisensituationen erfolgreich ist.[3] Die vielen kleinen Entscheidungen im Organisationsalltag werden selbst in stark hierarchischen Strukturen überwiegend subsidiär getroffen, das heißt von den handelnden Personen, unter Experten, innerhalb von Projekten oder über Organisationsgrenzen hinweg. Nur so können Organisationen auf Veränderungen im Umfeld schnell reagieren und Innovationen hervorbringen.

Das Konzept des „lateralen Führens“, das Stefan Kühl in seinem kleinen Buch skizziert, greift diese Konstellation auf und will darauf aufbauend einen „Führungsansatz jenseits der Hierarchie“ entwickeln (S. 2). Die Kombination der einander widersprechenden Begriffe „lateral“ und „führen“ macht neugierig: Hat hier jemand die Zauberformel entdeckt, wie Führung ohne unmittelbare Weisungsbefugnis funktioniert?

Kühl setzt einen soziologischen Kontrapunkt, einerseits zum betriebswirtschaftlichen Organisationsverständnis mit seinem zweckrationalen Fokus auf organisationale Formalstrukturen und andererseits zu den Prämissen der modernen Führungslehre, wenn er schreibt: „Kein Mechanismus scheint so gut geeignet zu sein wie die Hierarchie, wenn es darum geht, in Organisationen schnelle Entscheidungen zu treffen, permanente Machtkämpfe zu verhindern und Konflikte auf unteren Ebenen zu befrieden.“ (S. 1) Umgekehrt kommt es in Organisationen immer wieder zu Situationen, die nicht oder nur teilweise über hierarchische Anweisungen geregelt werden können. Mangels Zeit oder Verfügbarkeit wollen und können Führungskräfte nicht jeden Konfliktfall persönlich lösen. Je flacher die Hierarchie, desto weniger gibt es eine herausgehobene Führungskraft, die sich bei Problemen zwischen Mitarbeitern einschalten könnte. Vor allem bei bereichs- und organisationsübergreifenden Aufgaben sind die handelnden Akteure gezwungen, Entscheidungen zu treffen und voranzubringen, ohne jedes Detail mit einer höhergestellten Person vorab klären zu können.

Stefan Kühl stellt in seinen Ausführungen ein systemtheoretisches Modell vor, wie Verständigungsprozesse angestoßen werden, wie sich Machtarenen bilden und wie Vertrauens- aber auch Misstrauensbeziehungen entstehen können. Hierzu unternimmt er einen Dreischritt: Zuerst skizziert er sein Konzept (Kapitel 1) und führt anschließend in die „Säulen des Lateralen Führens“ ein: Verständigung – Macht – Vertrauen (Kapitel 2). Im nächsten Schritt analysiert er die Wechselwirkungen, Gleichzeitigkeiten, Zusammenspiele und Ersetzbarkeiten der drei Säulen (Kapitel 3). Anders als die informelle Führung zeichnet sich laterale Führung dadurch aus, dass die Formalstruktur von Organisationen weiterhin rahmengebend ist und entweder als Voraussetzung oder Begrenzung wirkt (Kapitel 4). Der dritte Schritt soll schließlich vermitteln, wie man das Konzept anwenden kann, das heißt wie eine Person in Veränderungsprozessen tatsächlich lateral führt (Kapitel 5). Im abschließenden sechsten Kapitel entwirft Kühl weitere konzeptionelle und theoretische Entwicklungslinien, sogenannte Suchfelder.

Das Konzept basiert auf bereits vorliegenden theoretischen Modellen[4] und zeigt auf, wie laterale Führung als produktives System möglich ist. Als erste Säule beschreibt Verständigung das Streben nach einer Einigung darüber, wie eine bestimmte Aufgabe gelöst werden soll. Zur „Überwindung verfestigter Denkgebäude“ lassen sich dabei gemeinsame Erfahrungshintergründe, Interessen und Ansichten mobilisieren (S. 22 f.). Die zweite Säule der Macht benennt die Strategie der „Kontrolle von Unsicherheitszonen“. Aufgrund von Leistungen oder Gefälligkeiten, die für das Gegenüber eine hohe Relevanz haben und schwierig zu ersetzen sind, wie beispielweise Privilegien, Expertisen, Relaisstellen oder exklusive Zugänge (S. 23 ff.), entstehen Abhängigkeitsstrukturen und Schuldverhältnisse. Dadurch lässt sich ein gewünschtes Ergebnis durch bereits erbrachte oder in Aussicht gestellte Leistung herbeiführen. Die dritte Säule, Vertrauen, meint schließlich die bewusste Haltung, eine bestimmte Entscheidung durch nichtquantifizierte Vorleistungen zu erwirken. Dieser Ansatz birgt sowohl einen großen nutzenbringenden Handlungsspielraum als auch das Risiko eines plötzlichen Vertrauensbruchs (S. 28). Die drei Säulen stehen nicht isoliert nebeneinander, vielmehr laufen sie als Entscheidungsprozesse gleichzeitig ab, ergänzen oder behindern sich gegenseitig – je nach Situation (S. 39).

Das Buch überrascht an verschiedenen Stellen mit Analysen, die die in diesem Themenfeld beliebte Beraterlyrik angreifen. Es plädiert dafür, Machtspiele nicht nur negativ zu bewerten, denn „[s]ie sind der Schmierstoff, der die Organisation in Bewegung hält“ (S. 26). Es gilt, die Latenz von Verständigungs-, Macht- und Vertrauensverhältnisse zu akzeptieren (S. 57 ff.) und Widerstände in Veränderungsprozessen als Sicherstellen von Routinen zu deuten (S. 56). Dabei ist es der explizite Anspruch des Buches, „dass die vorgestellten Überlegungen mit den modernen Ansätzen der Organisationstheorie abgestimmt sind“ (S. 5). Wer Anleitungen oder Praxisbeispiele erwartet, wird enttäuscht werden, denn einzig die gut gewählten Fallbeschreibungen illustrieren einzelne Aspekte. Der originäre Charakter des Buches findet sich mit dem Untertitel Eine kurze informationstheoretisch informierte Handreichung treffend angekündigt. Gleichwohl gelingt es Stefan Kühl mit seinen zwar kompakten, aber keineswegs oberflächlichen Analysen, formelle und informelle Phänomene der Hierarchie an soziologische Erklärungsmuster rückzubinden. Die Ausführungen sind überwiegend generalistisch gehalten: „Die Kluft zwischen Organisationswissenschaft einerseits und Organisationspraxis andererseits wird nicht grundsätzlich aufzuheben sein.“ (S. 5) Ziel des Autors ist es stattdessen, das Konzept als solches vorzustellen und voranzutreiben und zugleich die Leserinnen und Leser argumentativ zu überzeugen oder sie zumindest zur Reflexion anzuregen.

Soziologisch interessante Dimensionen des Ansatzes sind insbesondere die Bezugnahmen auf die Latenz von Kommunikation sowie die Kontingenz von Entscheidungen. Die klassische Organisationslehre übersieht bisweilen, dass Handlungen häufig verborgen bleiben beziehungsweise bleiben müssen. Damit ist gemeint, dass sie selbst bei bewusster Wahrnehmung nicht ohne Weiteres kommuniziert werden können, weil ihr vollständiges, schonungsloses Aufdecken jene sozialen Beziehungen zerstören könnte, auf denen die Organisation basiert. Kommunikationslatenz erfüllt daher die wichtige Funktion des „Strukturschutzes“ für die eher auf der informellen Ebene ablaufenden Macht-, Vertrauens- und Verständigungsprozesse (S. 58). Der Umgang mit den (notwendigerweise) verborgenen Kommunikationsanteilen im organisationalen Alltag bleibt kompliziert: „Selbst wenn offiziell eine gemeinsame Lösung verkündet wird, wird diese oft genug noch in der Implementierungsphase wieder zerrieben, weil sie den existierenden Machtverhältnissen praktisch zum Opfer fällt." (S. 60) Stefan Kühl empfiehlt den Praktikern, also vor allem Menschen mit Führungsverantwortung, sich das ontologische Prinzip der „Kontingenz“ aus einer systemtheoretischen Perspektive zunutze zu machen. Durch eine prinzipiell offene Interpretation von Erkenntnissen und Entscheidungen – es könnte stets auch anders sein – sollen sie allzu frühe Festlegungen und dadurch entstehende Einschränkungen wie Engführungen vermeiden. Es geht darum, Entscheidungssituationen möglichst lange möglichst offen zu halten: „Aus der Analyse eines Problems A ergibt sich nicht zwangsweise die Lösung X, sondern möglicherweise auch die Lösung Y oder die Lösung Z. [...] Durch frühe Festlegungen entstehen zwar Konzepte, zu denen alle Beteiligten Lippenbekenntnisse ablegen, solche Konzepte entpuppen sich dann aber allzu schnell als Planungsruinen." (ebd.)

Worin liegt nun der wesentliche Beitrag des Büchleins für das eingangs skizzierte gesellschaftliche Ringen um hierarchiearme beziehungsweise hierarchiefreie Organisationen? Ähnlich wie Irmhild Saake ist auch Stefan Kühl der Meinung, dass Hierarchien gar nicht so schlecht sind wie ihr Ruf. Er argumentiert mit seinen Ausführungen dafür, das Konzept des lateralen Führens als realitätsnäheres Alternativmodell zur direktiven Steuerung von Organisationen und als Ansatz zur Kooperation zwischen Organisationen zu betrachten (S. 65 f.). Kühl verweist dabei auf verwandte soziologische und organisationstheoretische Modelle wie das der shared leadership. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Stefan Kühl selbst sein Modell theoretisch weiterentwickelt und empirisch überprüft und welche Aspekte in welcher Form der soziologische Diskurs aufgreift.

  1. Irmhild Saake, Zum Umgang mit Unterschieden und Asymmetrien – Essay [2.9.2020], in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), 9, S. 49–54, hier S. 50 f.
  2. Beispielsweise Thomas Schumacher / Rudolf Wimmer, Der Trend zur hierarchiearmen Organisation. Zur Selbstorganisationsdebatte in einem radikal veränderten Umfeld [2.9.2020], in: OrganisationsEntwicklung. Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management (2019), 2, S. 12–18.
  3. Markus Jenki / Nils Ellebrecht / Stefan Kaufmann (Hg.), Organisationen und Experten des Notfalls. Zum Wandel von Technik und Kultur bei Feuerwehr und Rettungsdiensten, Münster 2014.
  4. Richard E. Walton, Theory of Conflict in Lateral Organizational Relationships, in: J. R. Lawrence (Hg.), Operational Research and the Social Sciences, London u.a. 1966, S. 409–428; Richard L. Simpson, Vertical and Horizontal Communication in Formal Organizations, in: Administrative Science Quarterly 4 (1959), 2, S. 188–196; Roger Fisher / Alan Sharpe, Getting It Done. How to Lead When You’re Not in Charge, New York 1998.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Macht Gruppen / Organisationen / Netzwerke

Ulrich Iberer

Dr. Ulrich Iberer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildungsmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er forscht unter anderem zu Governance-Strukturen von Bildungsorganisationen sowie zu Arbeitsbedingungen und Entscheidungsverhalten von Führungskräften im Bildungsbereich.

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