Felicitas Heßelmann | Essay |

Kein Gott, kein Staat, kein Klassikerdiktat!

Plädoyer für eine andere Soziologiegeschichte

„Why is my curriculum white?”[1] und „Why isn’t my professor black?”[2] – so lauteten zwei der Fragen, die britische Studierende 2014 stellten, um ihre Unzufriedenheit mit der fehlenden Diversität sowohl der Lehrinhalte als auch des wissenschaftlichen Personals der Hochschulen zum Ausdruck zu bringen. Die immer öfter und lauter artikulierte Kritik entwickelte sich in der Folge zu einer landesweiten Kampagne, die immer mehr Hochschulen erfasste. Ausgehend von der Beobachtung, dass Wissenschaftler*innen und Forscher*innen der Black and Ethnic Minority (BME) an britischen Universitäten nicht nur in der Professor*innenschaft drastisch unterrepräsentiert sind, sondern Werke dieser Autor*innen auch kaum in der akademischen Lehre vorkommen, stießen diese Fragen eine öffentliche Auseinandersetzung mit der bis heute wirksamen kolonialen Prägung der Wissenschaften und ihrer Verstrickung in gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen an.[3] Derartige Fragen sollten auch für die deutsche Soziologie von höchster Relevanz sein, schließlich gehören die Untersuchung von Strukturen der Ungleichheit, die Dekonstruktion wirkmächtiger Diskurse sowie die Analyse von Mechanismen sozialer Reproduktion und Exklusion zum soziologischen Kerngeschäft.

In diesem Zusammenhang lohnt sich eine analytische Auseinandersetzung mit der soziologischen Kanonbildung in Deutschland. Eine solche Auseinandersetzung kann wertvolle Einsichten nicht nur für die Wissenschaftsforschung, sondern auch für die soziologische Selbstreflexion liefern. Ein Blick in die aktuelle 6. beziehungsweise 7. Auflage der Klassiker der Soziologie aus dem Jahr 2020, einem der einflussreichsten Werke der deutschen soziologischen Kanonbildung, zeigt, dass dort in zwei Bänden insgesamt 34 weiße Autoren und 2 weiße Autorinnen Überblicksdarstellungen zu Leben und Werk von 33 ausschließlich weißen männlichen Soziologen, den sogenannten „Klassikern“ bieten.[4] Diese Zusammenstellung kann getrost als homosozial bezeichnet werden. Es mag angeführt (aber auch hinterfragt) werden, dass die Auswahl der eigentlichen „Klassiker“ dabei einfach als repräsentativ für die historischen akademischen Verhältnisse der Soziologie gelten kann. Schließlich waren noch in den 1950er-Jahren weniger als 5 Prozent der Hochschullehrer*innen in den Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik weiblich.[5] Dass die Bände aber auch nach mehr als vierzig Jahren immer noch einen rein männlichen Kanon präsentieren, ganz so, als gäbe es inzwischen nicht deutlich mehr Frauen*, Forschende mit Migrationsgeschichte, und/oder People of Color in der deutschen Soziologie, die Gehaltvolles zu einer deutlich diverseren Geschichte des soziologischen Denkens sagen könnten, ist schwer nachvollziehbar.

Das hier angeführte Beispiel der Klassiker verweist auf ein grundsätzliches Problem, das der Kanonbildung. Aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung ist ein Kanon einerseits das Produkt einer wissenschaftlichen Disziplin (hier: der Soziologie), das durch fachspezifische Strukturen, Akteure, Prozesse und/oder Diskurse hervorgebracht wird. Eine von diesem Verständnis ausgehende Analyse würde folglich danach fragen, welche Art von Soziologie überhaupt einen Kanon, und insbesondere einen solchen Kanon hervorbringt. Andererseits stellt der Kanon gleichzeitig auch ein Instrument zur (Re-)Produktion genau dieser Art von Soziologie dar, indem er legitime Sprechweisen, publikationsfähige Themen und berufungsfähige Subjekte definiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Arbeit am Kanon daher immer auch disziplinäre Grenzarbeit,[6] also ein Ringen um das, was als Soziologie gelten kann und was nicht. Das Verhältnis von Kanon und Fach mutet dabei mitunter geradezu tautologisch an: Kanonisch können nur Texte werden, die soziologisch sind, und Soziologie ist, was durch den Kanon definiert wird. All das ist unverkennbar immer auch mit Machtfragen verknüpft, ganz gleich, ob es um die Durchsetzung von Methoden, die Etablierung von Subdisziplinen oder um die Anerkennung von „Klassikern“ geht. Ein disziplinärer Kanon ist somit gleichermaßen Machteffekt und Machtinstrument im wissenschaftlichen Feld.

Blickt man aus dieser Perspektive auf den soziologischen Kanon, wie er in den Klassikern Gestalt angenommen hat, so fällt besonders der Zusammenhang zwischen sozialer und intellektueller Reproduktion der Soziologie ins Auge. Ein solcher Zusammenhang wurde bereits von den eingangs zitierten britischen Studierenden durch die Verbindung der beiden Fragen nach den Inhalten des Curriculums und der Zusammensetzung der Professor*innenschaft in den Fokus gerückt. Auch angesichts der augenfälligen sozialen Homogenität der angeführten „Klassiker“ (und derer, die in den Klassikern über den Status als „Klassiker“ entscheiden dürfen), gewinnt die Frage, in welchem Verhältnis diese soziale Strukturierung zur intellektuellen und epistemischen Strukturierung des Faches steht, besondere Relevanz. Oder anders gefragt: Wie wird das, was wir als Soziologie verstehen, dadurch geprägt, wer als ernstzunehmender Soziologe (gendern hier unnötig) gilt?

Die soziale Position der „Klassiker“

Wissenschaftliche Wissensproduktion, darauf weisen uns Debatten in der Wissenschaftstheorie[7] wie auch in den Sozialwissenschaften[8] schon seit langem hin, vollzieht sich niemals unabhängig von den sozialen Positionen und Standpunkten der beteiligten Personen. Forschende können der Welt, und damit auch ihren Forschungsgegenständen, zwangsläufig nur aus ihrer Position in ebendieser Welt heraus begegnen. Und die Einsichten und das Wissen, das sie auf diese Weise produzieren, ist folglich immer mitgeprägt von dieser spezifischen Position und den mit ihr verbundenen Perspektiven auf die Welt. Die Analysen und Perspektiven der weißen, männlichen, ganz überwiegend bildungsbürgerlichen „Klassiker“ bilden hier keine Ausnahme, sondern sind in genau dem gleichen Maße situiert, positioniert und damit partikular wie die Perspektiven aller anderen (das heißt anders gemachten, othered[9]) Forschenden. Was die partikularen Erkenntnisse der „Klassiker“ aber von denen aller anderen unterscheidet, ist ein doppelter Prozess der Universalisierung, den Erstere durchlaufen: Einerseits werden sie gerade durch ihre Aufnahme in den soziologischen Kanon als universal gesetzt, indem sie zu den Grundlagen einer Allgemeinen Soziologie erklärt werden. Durch ihre Kanonisierung werden sie nicht nur zu Werken von zeitloser Gültigkeit, sondern – und das ist im notorisch umkämpften und oftmals recht unversöhnlichen Feld der Soziologie[10] vermutlich noch wichtiger – zu Werken erhoben, die über alle soziologischen Gräben und Spezialgebiete hinweg Relevanz für sich beanspruchen dürfen. Kanonisierung ist damit ein „god trick“,[11] durch den ein positionierter, situierter Blick auf die Welt zu einem „gaze from nowhere“[12] verklärt wird. Andererseits setzt diese mit der Kür zum „Klassiker“ verbundene Universalisierung bereits auf einem tieferliegenden gesellschaftlichen Prozess der Universalisierung auf, bei der gewisse Standpunkte und Subjektivitäten von vorneherein als neutral oder unmarkiert gelesen werden und damit nicht mehr als subjektivierte Standpunkte erkennbar sind:

„This is the gaze that mythically inscribes all the marked bodies, that makes the unmarked category claim the power to see and not be seen, to represent while escaping representation. This gaze signifies the unmarked positions of Man and White”.[13]

Ganz ähnlich argumentieren auch die britischen Studierenden, wenn sie als eine Antwort auf die Frage „Why is my curriculum white?“ feststellen: „To many, whiteness is invisible.“[14] Weiße Hetero-Cis-Männer der Mittelschicht ohne Migrationshintergrund und ohne Behinderung erscheinen einfach als Menschen, nicht als Angehörige einer ganz spezifischen Kombination von Gruppen.[15] Ihre Standpunkte, Perspektiven und Erfahrungsweisen beanspruchen Allgemeingültigkeit für alle Menschen, sie reklamieren Unvoreingenommenheit und Objektivität.

Anhand der in den Klassikern vorgestellten Autoren lässt sich diese Universalisierung eines standortgebundenen Blickes exemplarisch nachvollziehen: So gilt etwa der weiße Robert E. Park als soziologischer „Klassiker“, dessen Beobachtungen zu race relations als allgemeingültige Aussagen diskutiert werden, aber nicht als das Ergebnis eines spezifisch weißen Blicks auf Rassifizierung. Rassifizierte Autor*innen wie Parks Zeitgenosse W.E.B Du Bois[16] oder der später geborene Frantz Fanon,[17] die diese relations aus der ihnen eigenen Perspektive beschreiben, fehlen hingegen im Kanon – ihr Blick gilt offenbar als subjektiv, ihre Analyse als persönliche Erfahrung, als Darstellung aus der Betroffenenperspektive. Ihre fehlende Berücksichtigung lässt die Beschäftigung mit ihren Werken weniger lohnend erscheinen, bestenfalls als Nischenthema. Auch in den Darstellungen anderer „Klassiker“ schlägt sich dieser Prozess der Universalisierung einer partikularen, standortgebundenen Perspektive nieder. Er begegnet uns in Form von Leerstellen, Abwesenheiten,[18] oder Schweigen. Unausgesprochen bleiben etwa all jene Fragen, die sich aus einer Auseinandersetzung mit Rassismus, (Hetero-)Sexismus, Ableismus und anderen Diskriminierungsstrukturen sowie den damit verbundenen gesellschaftlichen Herrschaftsgefügen ergeben. Wo das Bewusstsein für die Partikularität des eigenen Standpunktes fehlt, fehlt auch die Distanz zu ebenjenen Strukturen und Gefügen, die deren kritische Reflexion erst ermöglicht. Nehmen wir als weiteres Beispiel Auguste Comte. Dessen These von der Soziologie als der Königin der positiven Wissenschaften lässt sich schnell und durchaus mit Belustigung als recht vermessene Überhöhung der eigenen Perspektive verstehen. Dasselbe Problem trifft aber auch auf sein Dreistadiengesetz der Menschheitsgeschichte zu, das besagt, die menschliche Zivilisation durchlaufe einen gesetzmäßigen Prozess über verschiedene Entwicklungsstadien hinweg, aus dem sich unter anderem ein ‚Aufstieg‘ vom Fetischismus über den Polytheismus zum Monotheismus hin ergibt. Es ist unschwer erkennbar, dass hier vor allem eine eurozentrische Erzählung der vermeintlichen Überlegenheit ‚westlicher‘ Zivilisationen reproduziert wird. Auch hier wird die eigene Position als höher entwickelt und damit allgemein überlegen gesetzt. Derartig chauvinistisch-koloniale Tendenzen mögen zu Lebzeiten Comtes durchaus normal gewesen sein. Durch seine Position als Gründervater der Soziologie und erster Autor der Klassiker wird ein solcher Blickwinkel aber natürlich auch als konstitutiv für die heutige Soziologie gesetzt. Das trifft umso mehr zu, da in den Klassikern nur europäische und anglo-amerikanische Autoren vertreten sind und damit keine einzige Stimme aus den implizit als geringer entwickelt bezeichneten Gesellschaften zu Wort kommt – so wird auch in den Klassikern implizit der Eindruck erweckt, wissenschaftliche Erkenntnisproduktion fände nur im globalen Norden statt, da andere Gesellschaften das wissenschaftliche Stadium noch nicht erreicht hätten.

Problematisch an den Arbeiten der sogenannten „Klassiker“ ist also nicht, dass sie per se falsch oder schlecht wären, und man sich heute daher nicht mehr mit ihnen beschäftigen sollte. Problematisch an diesem Zusammenhang aus sozialer und intellektueller Reproduktion ist vielmehr, dass die Sichtweisen, Analysen und zwangsläufig immer begrenzten Erkenntnisse einer einzelnen sozialen Gruppe im Kanon zu Erkenntnissen mit allgemeinem, übergreifendem Geltungsanspruch erhoben werden, während die Erkenntnisse anderer Gruppen als partikular, speziell, oder subjektiv eingestuft werden. In der Soziologie lässt sich diese Dynamik beispielhaft an der Aufteilung in Allgemeine Soziologie und Spezielle Soziologien beobachten. Als allgemein gilt die Soziologie weißer Männer, deren Werke uns vermeintlich Aufschluss über die grundlegenden Strukturen, Formen, Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten von Gesellschaften geben. Als spezielle oder Bindestrich-Soziologien gelten die Soziologien aller anderen, die sich mit dem sozialen Handeln, den Lebenswelten oder Deutungsmustern von Frauen, queeren Menschen, Betroffenen von Rassismus oder Menschen mit Behinderung auseinandersetzen – also mit dem, was ein anderer, soziologisch wenig einschlägiger weißer Mann mal als „Gedöns“ bezeichnet hat. Auch die Grenzziehung der Soziologie zu ihren Nachbardisziplinen ist erkennbar von dieser Abwertung und dem Ausschluss gesellschaftlich und/oder global marginalisierter, mithin „spezieller“ Analyseperspektiven gekennzeichnet, wie Tanja Bogusz[19] überzeugend am Beispiel der Abgrenzung zwischen Soziologie und Anthropologie herausgearbeitet hat. Dass diese Grenzziehungen unsere Erkenntnismöglichkeiten und unsere Möglichkeiten zur Konzeptualisierung von Gegenständen drastisch einschränken,[20] wird unmittelbar ersichtlich: Ein derart organisierter soziologischer Kanon macht es schwer, um nicht zu sagen unmöglich, Herrschafts- und Ausschließungsstrukturen wie Rassismus, Sexismus oder Ableismus als grundlegende Strukturen moderner Gesellschaften zu begreifen, oder die Abhängigkeit scheinbar allgemeiner sozialer Regelmäßigkeiten von multiplen Machtverhältnissen in den Blick zu bekommen. Während ein sozial homogener Kanon in anderen, zum Beispiel naturwissenschaftlichen Disziplinen vielleicht zunächst ,nur‘ unter Gesichtspunkten der Fairness und Teilhabe problematisch erscheinen mag, weil sich die epistemischen Auswirkungen eines solchen Vorgehens dort erst bei genauerem Hinsehen zeigen, sind die Limitierungen, die sich aus einem derart eingeschränkten Kanon für die Soziologie ergeben, geradezu augenfällig: Eine Soziologie, zu deren Kernanliegen die Analyse von Machtbeziehungen und Herrschaftsstrukturen zählt, ist mit einem Kanon, der systematisch den Blick auf zahlreiche prägende Machtbeziehungen und Herrschaftsstrukturen verstellt, schlecht beraten.

„Klassiker“ als personenzentrierte Kanonbildung

Die enge und problematische Verflechtung aus sozialer und intellektueller Reproduktion ist im Fall der Klassiker unter anderem auch deshalb so auffällig, weil sich die Beiträge auf Leben und Werk einzelner Autoren konzentrieren. Nicht zuletzt dieser Fokus auf ausgewählte Personen und deren mitunter als genialisch dargestelltes Schaffen und Denken erscheint für eine Disziplin wie die Soziologie merkwürdig, um nicht zu sagen problematisch. So kann es als ein genuines Merkmal der Soziologie gelten, sich auf soziale und damit kollektive Phänomene zu konzentrieren – seien es nun Gruppen, Institutionen, Systeme, Diskurse, Lebenswelten oder Machtstrukturen. Individuen interessieren dabei selbst in Ansätzen des methodologischen Individualismus letztlich nur insofern, wie sie in verschiedene Mechanismen der Aggregation und damit Kollektivierung eingebunden sind.[21] Andere soziologische Ansätze konzentrieren sich hingegen explizit darauf, die soziale Bedingtheit menschlicher Sicht- und Deutungsweisen der Welt zu erforschen. Der Autor erscheint somit aus soziologischer Perspektive eher als ein Produkt von Diskursen denn als deren Urheber;[22] ebenso wenig werden kollektive Deutungsmuster, soziale Institutionen oder politische Ideologien als Werke einzelner Individuen begriffen. Gerade die Wissenssoziologie wird nicht müde, den Charakter von Wissen als kollektiver Sinnstruktur,[23] im Gegensatz zu individuellem Vermögen oder genialischer Eingebung, hervorzuheben. Auch zentrale Arbeiten der Wissenschaftsforschung stellen die sozialen, kollektiven Produktionsprozesse von wissenschaftlichem Wissen heraus.[24] Wie sowohl die Soziologie als auch ihre Nachbardisziplinen betonen, lassen sich weder Weltanschauungen noch Wissen als originäre Produkte einzelner Individuen begreifen. Vor diesem Hintergrund muten die Fokussierung auf einzelne Autoren und deren mit der Kanonisierung einhergehende Erhöhung konzeptuell unangemessen an,[25] werden doch dadurch wichtige Erkenntnismöglichkeiten, nicht zuletzt Möglichkeiten der soziologischen Selbsterkenntnis, verstellt.

Kanon und hierarchisierte Wissensproduktion

Jenseits der Problematik des Personenkults um die „Klassiker“ lohnt ein weiterer kritischer Blick auf das dahinterliegende Konzept des Kanons und dessen Ansprüche an Universalität, die in den „Klassikern“ ihren Ausdruck finden sollen. Die häufig geäußerte Vorstellung, es bräuchte die „Klassiker“, um uns innerdisziplinär darauf zu verständigen, wer wir sind (weiße Männer) und wie wir denken (wie weiße Männer), um die so hergestellte Identität der Soziologie dann Studierenden zu vermitteln, weil anders soziologische Wissensproduktion gar nicht möglich sei, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Trugschluss: Die Vorstellung, Wissensproduktion könne nur in zentralistischen, hierarchisch organisierten Gemeinschaften erfolgen, in denen ein Kanon für zwingend geteilte Bezugspunkte, klare Standards und strenge Außengrenzen sorgt und in denen ein (intellektuelles) Zentrum die verschiedenen Peripherien kontrolliert, weist verdächtige Nähen zur Ideologie des imperialen, autoritären Nationalstaates auf, in dessen Blütezeit die disziplinäre Entstehung der Soziologie nicht zufällig fällt. Auch in diesem Sinne reproduziert der soziologische Kanon also die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Nicht nur die Verehrung der „Klassiker“, sondern allgemeiner das Festhalten an der Notwendigkeit eines Kanons offenbaren den Glauben an eine ganz spezielle Form der sozialen und intellektuellen Ordnung, die meint, nicht ohne Hierarchien und Autoritäten auskommen zu können, und dabei Homogenitäts- und Abgrenzungseffekten Vorschub leistet. Implizit wird damit die Botschaft vermittelt, dass soziologische Wissensproduktion nur kanonisiert, das heißt standardisiert und hierarchisiert erfolgen könne.

Doch wissenschaftliche Praxis muss nicht zwingend so organisiert sein. Ein Trugschluss ist diese Vorstellung nicht zuletzt deshalb, weil sie empirisch (von der Soziologie!) bereits widerlegt ist. Grundsätzlich liefert die Soziologie selbst einen reichen Fundus an theoretischen Perspektiven und empirischen Beispielen für die Koordination menschlichen Handelns – hier konkreter für Gemeinschaften und Praktiken –, die ohne ein fixes Zentrum, ohne starke Autoritäten und ohne universell geteilte Deutungsmuster auskommen. Auch die Wissenschaft(en) sind intellektuell wie sozial erkennbar durch Heterodoxien, Pluralitäten und multiple Inkommensurabilitäten[26] gekennzeichnet.

Vor allem aber bietet die wissenschaftliche Praxis der Soziologie selbst das beste Gegenbeispiel: Die Soziologie erweist sich bei näherem Hinsehen tatsächlich schon als viel weiter, viel diverser und viel erkenntnisoffener, als ihr bis heute immer noch bemühter „Klassiker“-Kanon suggeriert. Das zeigt sich erstens an den spezialisierten fan canons (fanons), die viele sogenannte Bindestrich-Soziologien schon seit langem haben. Das zeigt sich zweitens an den zahlreichen Bestrebungen, zum Beispiel der (queer-)feministischen[27] sowie der post- und dekolonialen[28] Soziologie, deren methodisch reflektierte Ansätze die soziologische Erkenntnisproduktion grundlegend verändert haben und immer noch verändern. Und das zeigt sich drittens, wenn auch auf andere Weise, letztlich auch an den Bereichen der Soziologie, die gänzlich ohne einen theoretischen Kanon auskommen und deren epistemische Praktiken vor allem durch den Bezug auf (zumeist) quantitative Methoden und Datenbestände miteinander verbunden sind. Entgegen des Versprechens (oder der Drohung), dass die „Klassiker“ einen stabilen Kern soziologischer Wissensproduktion bereitstellen, dass sie das Fundament allen als soziologisch zu bezeichnenden Denkens oder wenigstens einen „obligatory passage point“[29] der Soziologie bilden, scheinen sie in der akademischen Praxis doch häufig eher randständig zu sein. Soziologie scheint somit bereits deutlich näher an der Utopie eines „network of connections, including the ability partially to translate knowledges among very different – and power-differentiated – communities“,[30] als ihr „Klassiker“-Kanon das vermuten lassen würde. Vielleicht sind die eingangs genannten kritischen Auseinandersetzungen mit dem Kanon bisher auch deswegen in der deutschen Soziologie eher ein weiteres Nischenthema geblieben, weil der Kanon bereits ein soziologisches Nischenphänomen ist, an dem man sich gar nicht mehr abarbeiten muss, wenn man das nicht will.

Resümierend lässt sich damit also festhalten, dass der in den Klassikern präsentierte Kanon der deutschen Soziologie mehr analytische Blicke verstellt als eröffnet – und zwar ohne, dass damit etwas über die zweifelsohne vorhandenen analytischen Potenziale der einzelnen Werke gesagt wäre. Sollte aus Gründen der Identitätsstiftung, der Diskursdisziplinierung oder der Komplexitätsreduktion in der Lehre ein soziologischer Kanon für notwendig erachtet werden, so erscheint es für die Soziologie als Fach weder passend noch aufschlussreich, sich als das brain child einzelner ,großer‘ Männer zu präsentieren. Auch eine Erweiterung des Kreises um einzelne ,große‘ Frauen scheint wenig vielversprechend. Die Soziologie wäre besser beraten, sich selbst als soziales, gesellschaftliches Phänomen zu betrachten, als Bündel kollektiver Deutungsmuster, das von konkreten historischen sozialen Strukturen und Mechanismen hervorgebracht wurde und wird. Anstatt Max Weber und Genossen exegetisch als Gründerväter der Soziologie zu stilisieren, sollte die Soziologiegeschichte sich stärker als bisher auf die Rekonstruktion der konkreten historischen, sozialen, kulturellen und materiellen Gegebenheiten konzentrieren, die in den diversen soziologischen Theorien und Ansätzen ihren Niederschlag gefunden haben. Eine solche Rekonstruktion hätte dann auch die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse miteinzubeziehen, die die Soziologie als Disziplin und die „Klassiker“ als Kanon geprägt haben und bis heute prägen. Alternativ kann man über den Kanon aber auch heute schon einfach hinwegsteigen und sich ins heterodoxe, inkommensurable und partikulare Getümmel einer unkanonisierten soziologischen Wissensproduktion stürzen.

  1. https://www.youtube.com/watch?v=Dscx4h2l-Pk
  2. https://blogs.ucl.ac.uk/events/2014/03/21/whyisntmyprofessorblack/
  3. Jason Arday / Heidi Safia Mirza (Hg). Dismantling Race in Higher Education: Racism, Whiteness and Decolonising the Academy, Champaign 2018; Keele Student Union, Why is My Curriculum So White? Journal of Global Fault Lines 5 (2018), S. 100–101; Karim Fereidooni / Vanessa Eileen Thompson / Emily Ngubia Kessé, “Why isn’t my professor black?”: A roundtable, in: Felipe Espinoza Garrido / Caroline Koegler / Deborah Nyangulu / Mark U. Stein (Hg.), Locating African European Studies. Interventions, Intersections, Conversations, London 2019, S. 247–256.
  4. Zur Erläuterung: Klassiker (kursiv) bezieht sich im Folgenden auf das betreffende Werk, „Klassiker“ (in Anführungszeichen) auf die darin vorgestellten Soziologen.
  5. Asta Hampe, Frauen im akademischen Lehramt, Vortrag auf der Tagung des Deutschen Akademikerinnenbundes vom 7. bis 11. Oktober 1962 in Bad Godesberg, zitiert nach: Silvia Lehmann, Frauen an den Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren, in: Wissenschaft als Weiblicher Beruf? Die Ersten Frauen in Forschung und Lehre an der Universität Heidelberg, hrsg. von Susan Richter, Heidelberg 2016, S. 31–36, hier S. 33
  6. Thomas F. Gieryn, Boundary-Work and the Demarcation of Science from Non-Science: Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists, in: American Sociological Review 48 (1983), S. 781–795; ders., Boundaries of Science, in: Handbook of Science and Technology Studies, hrsg. von Sheila Jasanoff / Gerald E. Markle / James C. Petersen / Trevor Pinch, Thousand Oaks 1994, S. 393–443; Steve Fuller, Disciplinary Boundaries and the Rhetoric of the Social Sciences, in: Poetics Today 12 (1991), S. 301–325.
  7. Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14 (1988), S. 575–599; Sandra G. Harding (Hg.), The Feminist Standpoint Theory Reader: Intellectual and Political Controversies, New York u.a. 2004.
  8. Kim V. L. England, Getting Personal: Reflexivity, Positionality, and Feminist Research, in: The Professional Geographer 46 (1994), S. 80–89; Gillian Rose, Situating Knowledges: Positionality, Reflexivities and Other Tactics, in: Progress in Human Geography 21 (1997), S. 305–320; Nina Baur, Decolonizing Social Science Methodology. Positionality in the German-Language Debate, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 46 (2021), S. 205–243; Séverine Marguin et al., Positionality Reloaded: Debating the Dimensions of Reflexivity in the Relationship Between Science and Society: An Editorial, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 46 (2021), S. 7–34.
  9. Vgl. z.B. Julia Reuter, Geschlecht und Körper: Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit, Bielefeld 2011; Juan Manuel Sánchez Arteaga / Charbel N. El-Hani, Othering Processes and STS Curricula: From Nineteenth Century Scientific Discourse on Interracial Competition and Racial Extinction to Othering in Biomedical Technosciences, in: Science & Education 21 (2012), S. 607–629; Lajos L. Brons, Othering, an Analysis, Transcience 2015, works.bepress.com/lajosbrons/17/.
  10. Siehe z. B. Andrew Abbott, Chaos of Disciplines, Chicago, IL 2001.
  11. Haraway, Situated Knowledges, S. 582.
  12. Ebd., S. 581.
  13. Ebd.
  14. Zitiert nach Michael A. Peters, Why is My Curriculum White?, in: Educational Philosophy and Theory 47 (2015), S. 641–646, hier S. 643.
  15. Siehe dazu auch Linda R. Waugh, Marked and Unmarked: A Choice between Unequals, in: Semiotic Structure 38 (1982), S. 299–318; Wayne Brekhus, A Sociology of the Unmarked: Redirecting Our Focus, in: Sociological Theory 16 (1998), S. 34–51.
  16. Vgl. z. B. William E. B. Du Bois, The Philadelphia Negro: A Social Study, Philadelphia, PA 1899.
  17. Vgl. z.B. Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Paris 1952.
  18. Boaventura de Sousa Santos, Para uma sociologia das ausências e uma sociologia das emergências, in: Revista crítica de ciencias sociais 2002, S. 237–280.
  19. Tanja Bogusz, Ende des methodologischen Nationalismus? Soziologie und Anthropologie im Zeitalter der Globalisierung, in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 47 (2018), S. 143–156.
  20. Siehe z.B. auch Ute Gerhard, Feministische Perspektiven in der Soziologie. Verschüttete Traditionen und kritische Interventionen, in: Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, hrsg. von Hans-Georg Soeffner, Wiesbaden 2012, S. 757–773.
  21. Vgl. z. B. James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, MA 1990; Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt am Main / New York 1993.
  22. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses [Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970], München 1974; Roland Barthes, Der Tod des Autors (1968), wiederabgedruckt in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. u. komm. von Fotis Jannidis, Stuttgart 2000, S. 185–193.
  23. Siehe z. B. Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1969.
  24. Vgl. z. B. Bruno Latour / Steve Woolgar, Laboratory Life: The Construction of Scientific Facts, 2nd Edition with a New Postscript, London 1986; Karin Knorr-Cetina, Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der „Verdichtung“ von Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 85–101.
  25. Vgl. etwa Christian Fleck / Christian Dayé (Hg.), Meilensteine der Soziologie, Frankfurt am Main / New York 2020.
  26. Vgl. z. B. John Dupré, The Disunity of Science, in: Mind 92 (1983), S. 321–346; Stephan Fuchs, What Makes Sciences “Scientific?”, in: Handbook of Sociological Theory, hrsg. von Jonathan H. Turner, New York u.a. 2001, S. 21–35.
  27. Siehe z. B. Steven Seidman, Queer-Ing Sociology, Sociologizing Queer Theory: An Introduction, in: Sociological Theory 12 (1994), S. 166–177; Regina Becker-Schmidt / Gudrun-Axeli Knapp, Feministische Theorien zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2001; Nina Degele, Happy Together. Soziologie und Gender Studies als paradigmatische Verunsicherungswissenschaften, in: Soziale Welt 54 (2003), S. 9–29.
  28. Siehe z. B. Gurminder K. Bhambra / John Holmwood, Colonialism and Modern Social Theory, Cambridge / Medford, MA 2021; Manuela Boatcă / Sina Farzin / Julian Go, Postcolonialism and Sociology: E-Mail-Debate, in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 47 (2018), S. 423–438; Encarnación Gutiérrez Rodriguez / Manuela Boatcă / Sérgio Costa (Hg.), Decolonizing European Sociology: Transdisciplinary Approaches, London 2016; Julia Reuter / Paula-Irene Villa (Hg.), Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention, Bielefeld 2009.
  29. Michel Callon, Some Elements of a Sociology of Translation: Domestication of the Scallops and the Fishermen of St Brieuc Bay, in: The Sociological Review 32 (1984), S. 196–233.
  30. Haraway, Situated Knowledges, S. 580.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Diversity Epistemologien Feminismus Gender Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Kolonialismus / Postkolonialismus Methoden / Forschung Normen / Regeln / Konventionen Rassismus / Diskriminierung Universität Wissenschaft

Felicitas Heßelmann

Dr. Felicitas Heßelmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung und Mitglied des Robert K. Merton Zentrums der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht zum wissenschaftlichen Publikationswesen, insbesondere zu Bewertungsverfahren, Automatisierung und Digitalisierung sowie wissenschaftlichem Fehlverhalten.

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