Simon Schaupp | Rezension |

Kein Knecht sein

Rezension zu „Im Minus-Bereich. Reinigungskräfte und ihr Kampf um Würde“ von Jana Costas

Abbildung Buchcover Im Minus-Bereich von Costas

Jana Costas:
Im Minus-Bereich. Reinigungskräfte und ihr Kampf um Würde
Übersetzt von Richard Barth, Stephan Gebauer und Michael Müller
Deutschland
Berlin 2023: Suhrkamp
280 S., 20,00 EUR
ISBN 978-3-518-12792-6

Wir alle sind auf sie angewiesen und doch haben die allermeisten von uns im Alltag sehr wenig Kontakt mit ihnen: Reinigungskräfte sind „systemrelevant“ und zugleich unsichtbar. Dabei bilden sie mit 700.000 Arbeitskräften Deutschlands beschäftigungsstärkste Handwerksbranche. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Jana Costas hat für sechs Monate die strikte Trennlinie zwischen Verschmutzenden und Putzenden überwunden und im Rahmen einer ethnografischen Studie selbst als Reinigungskraft am Potsdamer Platz in Berlin gearbeitet.

Während sich die Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung im englischsprachigen Raum dauerhafter Beliebtheit erfreut, findet sie in der deutschsprachigen Organisationsforschung äußerst selten und fast ausschließlich im Rahmen von Dissertationen Anwendung. Als Postdoc oder gar Professor:in ist es sehr schwierig, Drittmittel dafür einzuwerben, weil die Methode sehr zeitaufwändig ist und sich daher kaum an den Veröffentlichungsdruck des akademischen Betriebs anpassen lässt.

Außenstehende begegnen dem Beruf der Reinigung häufig mit Missachtung oder Mitleid, dabei finden die Reinigungskräfte selbst durchaus Gefallen an ihrer Arbeit.

Wie Costas’ Studie zeigt, ist es äußerst schade, dass Sozialwissenschaftler:innen so selten teilnehmend beobachten. Denn die informellen Praktiken, die im Zentrum ihres Buches stehen, lassen sich kaum mit Interviews und schon gar nicht mit Umfragen einfangen. Costas’ Erkenntnisse sind beachtlich: Außenstehende begegnen dem Beruf der Reinigung häufig mit Missachtung oder Mitleid, dabei finden die Reinigungskräfte selbst durchaus Gefallen an ihrer Arbeit. Neben handwerklichem Stolz verleiht sie ihnen eine Würde, die ihnen die Gesellschaft sonst weitreichend versagt. Paradoxerweise verhindert dies jedoch gleichzeitig, dass sie für ihre Rechte einstehen.

Durch Costas’ Beschreibung erscheinen die Reinigungskräfte dem/der Leser:in nicht als Akteure, wie man in der Soziologie zu sagen pflegt, sondern als Menschen. So stellt sie den ehemaligen Kleinkriminellen und die afrikanische Migrantin, aber auch den bekennenden Rassisten in all ihrer Widersprüchlichkeit nahbar dar. Anders als klassische arbeitssoziologische Studien bezieht sie dabei das private Lebensumfeld der Reinigungskräfte mit ein. Dieses befindet sich stets fernab von der Berliner Innenstadt, in sogenannten Problemvierteln oder Vorstädten. Die Lebensläufe der Menschen, mit denen Costas arbeitete, waren fast alle von tiefen Brüchen und Krisen wie Arbeitslosigkeit, Migration, Drogenabhängigkeit oder Kriminalität gekennzeichnet (S. 63 ff.).

Weil die Reinigungsbranche ein „Auffangnetz“ für Personen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie sei, entwickelten die in ihr Beschäftigten – entgegen ihrer „negative[n] Gleichrangigkeit“ – mittels Binnendifferenzierung alle möglichen Ersatzhierarchien (S. 140). Dafür müssten kleinste Differenzen herhalten wie die Vorliebe für bestimmte Fernsehserien oder der Wohnort, nicht zuletzt aber auch an die Herkunft. Diese Unterschiede würden im Arbeitsalltag immer wieder betont. Costas konzentriert sich auf ebendiese Praktiken der Binnendifferenzierung und beobachtet mit scharfem Blick kleine und größere Gesten der Missachtung. Sie schildert tieftraurige Szenen, wie etwa den Geburtstag einer afrikanischen Reinigungskraft: Um endlich Anschluss an die Kolleginnen zu finden, bringt sie eine Torte und Fleischbällchen zur Arbeit mit, die jedoch verschmäht und mit rassistischen Kommentaren versehen werden (S. 130 ff.).

Insbesondere die Architektur des Potsdamer Platzes spielt eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich um eine private sogenannte Microcity, für deren Gewerbe-, aber auch Wohnräume eine Reinigungsfirma zuständig ist. Die Reinigungskräfte werden dabei in labyrinthartige unterirdische Katakomben verbannt – in den titelgebenden „Minus-Bereich“. Nach neun Uhr morgens dürfen sie sich in der „Oberwelt“ nicht mehr blicken lassen und müssen ihre Wege unterirdisch zurücklegen. Wenn die Reinigungskräfte ihren Kunden doch einmal begegnen, erfahren sie laut Costas meist Missachtung. Ihre Anwesenheit werde in der Regel als Zumutung empfunden und im besten Fall ignoriert. In der Folge schwächen die Begegnungen mit den Kundinnen das Selbstwertgefühl der Reinigungskräfte so stark, dass auch diese selbst alles dafür tun, jedes Aufeinandertreffen zu vermeiden (S. 173).

Auch von ihren Vorgesetzten fühlen sich die Reinigungskräfte schlecht behandelt, sie teilen ihnen zerstückelte Schichten zu und stellen ihnen häufig dysfunktionale Ausrüstung zur Verfügung. Dennoch entwickeln die Reinigungskräfte Costas zufolge keine gemeinsame Gruppenidentität, die für solidarisches Handeln unerlässlich ist. Allerhöchstens verachten sie – gemeinsam – die reichen Kund:innen, die ohne die Reinigungskräfte in ihrem eigenen Dreck versinken würden. Damit kehren sie das Stigma der unreinlichen Unterklasse zumindest in den Gesprächen untereinander um. Es geht ihnen darum, kein „Knecht“ zu sein (S. 143 ff.).

Costas’ Leistung liegt gerade darin, auf plausible und sensible Weise zu erklären, dass die die Reinigungskräfte aufgrund der Binnendifferenzierung, die ihnen ihre Würde garantiert, eben nicht kämpfen.

Der Untertitel der deutschen Übersetzung, der einen „Kampf um Würde“ ankündigt, ist irreführend. Costas’ Leistung liegt gerade darin, auf plausible und sensible Weise zu erklären, dass die die Reinigungskräfte aufgrund der Binnendifferenzierung, die ihnen ihre Würde garantiert, eben nicht kämpfen. Wenn sie es tun, dann vor allem gegeneinander, anstatt für bessere Löhne, transparente und faire Schichteinteilung oder funktionierendes Arbeitsmaterial. Eine wichtige Rolle spielt auch die Fähigkeit, die Zumutungen der Reinigungsarbeit zu identitätsstiftenden Fertigkeiten umzudeuten. Zentral ist dabei der Umgang mit und die Bewältigung von Ekel, womit die Beschäftigten untereinander prahlen. Unter anderem deshalb reagieren sie auf ständig reißende Handschuhe nicht mit Forderungen an ihre Vorgesetzten, sondern entfernen den Dreck mit bloßen Händen (S. 88 ff.).

Insgesamt setzt Costas’ Studie neue Standards für die sozialwissenschaftliche Arbeitsforschung. Das gelingt der Autorin vor allem durch den gleichermaßen scharfsinnigen wie empathischen ethnografischen Zugang. Erst dadurch schafft sie es, die inneren Widersprüche der „Dramen der Würde“ zutage zu fördern. Zudem ermöglicht ihre Herangehensweise eine sprachlich wie inhaltlich berührende Darstellung, die sich angenehm vom Gros der sozialwissenschaftlichen Literatur abhebt. Manchmal wirkt Costas’ starke Betonung des Fleißes und Engagements der Reinigungskräfte etwas übertrieben. So interpretiert sie sogar das Einlegen unerlaubter Pausen als einen Versuch, sich möglichst schnell zu regenerieren, um noch härter arbeiten zu können (S. 199 ff.). Aber angesichts des Stigmas, mit dem die Reinigungsarbeit belegt ist, stellt das fundierte Argument, dass und vor allem warum auch diese Arbeit würdevoll ist, gleichwohl einen äußerst wichtigen Beitrag dar.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Arbeit / Industrie Care Methoden / Forschung Soziale Ungleichheit Sozialstruktur

Simon Schaupp

Simon Schaupp ist Oberassistent am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse der Universität Basel. Er forscht zu Arbeit, Digitalisierung und ökologischer Krise. Zuvor war er Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft des KIT.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Lutz Raphael

Von Marx bis Piketty, von Schmoller bis Milanović

Rezension zu „Stabile UnGleichheiten. Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse“ von Christoph Weischer

Artikel lesen

Fabienne Décieux, Katrin Walch

Care! Feminism Confronts Capitalism – Herrschaft, Protest, Visionen im Feld der Sorgearbeit

Jahrestagung der Sektion Feministische Theorie und Geschlechterforschung in der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS), 29.–30. Januar 2015

Artikel lesen

Sonja Bastin

Feminismus meets Elternschaft

Rezension zu „Feministische Perspektiven auf Elternschaft“ von Lisa Yashodhara Haller und Alicia Schlender (Hg.)

Artikel lesen

Newsletter