Axel T. Paul | Essay |

Kontingenzen der Geschichte zwischen ‚Urmensch und Spätkultur‘

Anmerkungen zu Michael Makropoulos' Theorie der Moderne

Bei dem folgenden Text handelt es sich um die verschriftlichte Fassung eines Vortrags, den Prof. Dr. Axel T. Paul für die Tagung „Modernität denken - technische, ästhetische und politische Perspektiven“ verfasst hat, die am 28. und 29. Februar 2020 an der HU Berlin stattfand. Anlass war die Verabschiedung von Dr. habil. Michael Makropoulos, der als Philosoph und Soziologe über viele Jahre zur Theorie der Moderne geforscht und publiziert hat. Die folgenden Ausführungen widmen sich seinem zentralen Interessenfeld: dem Zusammenhang von Moderne und Kontingenz. Ein Großteil der Arbeiten ist auf Herrn Makropoulos' Website frei einsehbar. - Anm. der Redaktion

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Michael!

Der Titel meines Vortrags soll zum einen natürlich an Gehlens historisch- oder meinetwegen auch philosophisch-anthropologische Institutionentheorie erinnern,[1] zum anderen dürfte er – bei so manchem zumindest – die Assoziation erwecken, dass – wer wüsste es nicht, wer hätte es nach und gegen Hegel, Marx und Fukuyama nicht lernen müssen oder aufs Neue bestätigt bekommen? – Geschichte eben kontingent ist, sich nicht an Regeln hält und schon gar kein Ziel verfolgt. So wenig ich weiß – auch mir nicht klar ist –, worin das Ziel von Geschichte bestehen könnte, ja, ich nicht einmal verstehe, wie man als aufgeklärter Mensch heute noch an der Idee festhalten kann, daß es ein historisches Telos gebe, so zögerlich bin ich, der Geschichte Regellosigkeit zu unterstellen. Aus der Geschichte zu extrapolieren, wie es kommen wird und kommen muss, ist das eine. Damit habe ich nichts am Hut. Etwas ganz anderes aber ist es, danach zu fragen, ob sich bei aller unvermeidlichen Perspektivität, aller uneinholbaren Bindung der Geschichtsschreibung an die Gegenwart, in der Geschichte – oder besser vielleicht in den vielen Geschichten, die sich ereignet haben – nicht doch gewisse Muster, einerseits wiederkehrende Verläufe, andererseits und darüber hinaus eine Art Entwicklungslogik, entdecken lassen.

Ich denke, beides ist der Fall, und meine, es etwa in Hinblick auf Konzentrations- und Konsolidierungsprozesse von Macht und Herrschaft auch belegen zu können.[2] Unter welchen Voraussetzungen und auf Grund welcher Mechanismen sich Reiche oder Staaten bilden, welche Institutionen sie auszubilden oder wenigstens Funktionen zu erfüllen sie gezwungen und woran sie in vielen Fällen, wenn nicht immer wieder, gescheitert und gar zu Grunde gegangen sind, ist bei aller Kontingenz des Geschehens im Detail sehr wohl typologisch rekonstruierbar. Ebenso ist es nicht zufällig, dass sich Reiche erstmalig im Anschluss an die Herausbildung, die Konkurrenz und den Ausscheidungskampf von Stadtstaaten entwickeln, sich nicht aber Häuptlingstümer zu Territorialstaaten zusammenschließen oder jene gar, wenn nur die Geschichte ‚es will‘, zwanglos aus diesen hervorgehen. Ohne dass es historische – genauer müsste man wohl sagen: sozio-logische – Regularitäten gäbe, ließe sich kaum erklären, warum es zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Geschichte, vor allem aber unabhängig voneinander immer wieder zu denselben oder wenigstens sehr ähnlichen Erfindungen wie zum Beispiel der Entwicklung von bürokratischen Dokumentations- beziehungsweise Schriftsystemen gekommen ist, ließe sich nicht erklären, warum die Spanier bei den Azteken bei aller wechselseitigen Fremdheit auf ihnen wohlbekannte Institutionen wie dynastische Monarchien und religiöse Opferkulte stießen.

Diesen nicht-kontingenten Regularitäten, dieser Sozio-Logik auch der Geschichte will ich im Folgenden allerdings nicht weiter nachgehen. Vielmehr möchte ich ausgehend von Michael Makropoulos’ Theorie der Moderne als Kontingenzkultur und, wenn das von mir hier vorgetragene Argument trägt, diese präzisierend zeigen, dass – wie Michael sofort zuzugeben bereit wäre – die Kontingenz der Moderne nur eine spezifische – ich werde sagen: bereichsspezifische – Form der Kontingenz ist, der im historischen Rückblick auf die – auch wenn es vermessen klingt – ganze menschliche Geschichte zwischen ‚Urmensch und Spätkultur‘, also zwischen Menschwerdung und Gegenwart, drei und möglicherweise auch nicht mehr als drei weitere, wiederum bereichsspezifische Formen von Kontingenz beigesellt werden können, die zu unterscheiden dazu führt, die moderne Kontingenz, wenn schon nicht anders zu bestimmen, so doch mit einem anderen Akzent zu versehen, als dies bei Makropoulos der Fall ist. Grundsätzlich möglich – und nicht nur vermessen – ist ein solches Unterfangen, weil ich, wie bereits angedeutet, davon ausgehe, dass Geschichte – zumindest dann, wenn man sie ähnlich wie auch Gehlen von großer Flughöhe aus betrachtet – kein buntes Allerlei, keine zufällige Verkettung irgendwelcher Ereignisse in der Zeit darstellt, sondern in einige wenige, wenn auch je nach Kriterium nicht unbedingt deckungsgleiche Stufen oder Etappen gegliedert werden kann, die zwar nicht notwendig aufeinander folgen, deren tatsächliche Abfolge sich in der historischen Rekonstruktion deswegen freilich nicht als beliebig, sondern vielmehr als intelligibel erweist.

Für Gehlen – dies nur zur Erinnerung – waren die neolithische und die industrielle Revolution die beiden zentralen Einschnitte, welche die Menschheitsgeschichte in drei große Etappen gliederte. Sein Hauptaugenmerk, zumindest in Urmensch und Spätkultur, lag indes auf den Institutionen der archaischen, vorneolithischen Jäger- und Sammlergesellschaften. Ich werde diesen Faden aufnehmen und ähnlich wie Gehlen überlegen, was wir für die ‚Sache‘ der Kontingenz und ebenso Kontingenzbewältigung aus den in den vermeintlich künstlerischen Artefakten des Spätpaläolithikums greifbar werdenden Institutionalisierungsprozessen lernen können. Die drei weiteren zivilisations- beziehungsweise meiner Argumentation zufolge auch und gerade kontingenzgeschichtlich bedeutsamen ‚Momente‘, die ich beleuchten oder wenigstens streifen möchte, sind die griechische Antike als vermutlich herausragendes Beispiel für den Umbruch der Achsenzeit, der Umbruch im Weltbild der europäischen Neuzeit und schließlich die mit der ‚klassischen Moderne‘ eingeläutete Gegenwart. Vor dieser zugegebenermaßen etwas waghalsigen Expedition, diesem Galopp von der Höhlenmalerei in die, wie Michael Makropoulos uns gezeigt hat, ebenfalls weniger künstlerische als von Künstlern vorgefühlte und von moderner Ästhetik zugerichtete Moderne, möchte ich, ja, muss ich der späteren Pointe wegen mit einigen wenigen Worten auf dessen Kontingenztheorie zu sprechen kommen.

I. Kontingenz als Problem (nicht nur) der Moderne

Makropoulos’ Moderne beginnt, anders als ich es gerade eben formuliert habe, nicht erst mit der klassischen Moderne des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern kulminiert in dieser, insbesondere in ‚jenen zwanziger Jahren‘ der Weimarer Republik – auch wenn, wie er zu Recht, zumeist aber allzu beiläufig zugesteht, die späteren Totalitarismen als legitime Erben der modernen Kontingenzkultur oder wenigstens als gegen diese gerichtete politische Schließungsversuche zu begreifen und insofern selber integraler Teil dieser Moderne sind.[3] Auch dauert für ihn die Moderne noch an, ist oder war die Postmoderne nicht mehr als ein epigonales Nach- oder vielmehr Zwischenspiel, dessen Skript aus der Zwischenkriegszeit stammt. Ganz ähnlich wie Kittsteiner eine frühneuzeitliche Stabilisierungsmoderne, eine evolutive (Kern‑)Moderne und eine heroische (Spät‑)Moderne unterscheidet,[4] beginnt auch für Makropoulos die Moderne in der frühen europäischen Neuzeit, bestimmt er sie in einem ersten Schritt als Reaktion auf vorauslaufende gesellschaftsweite Erfahrungen der Erschütterung der sozialen und natürlichen Ordnung. Stichworte sind hier die maritime Erschließung (und natürlich auch Eroberung) transeuropäischer Räume und Kulturen, die religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts und der mit diesen verbundene Bruch religiöser Gewissheiten, ein beschleunigter technologischer und sozialer Wandel sowie eine zunehmende wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung.

In dieser, der zunehmenden Naturbeherrschung, ist die Idee des Fortschritts bereits angelegt, so wie sie dann in der von Koselleck so genannten Sattelzeit oder Kittsteiners evolutiver Moderne im 18. und 19. Jahrhundert von aufgeklärten Geschichtsphilosophen normativ aufgeladen, auch auf den Bereich der Politik und der Moral übertragen und schließlich zum gesamtgesellschaftlichen, ja menschheitlichen (Entwicklungs‑)Gesetz erhoben wurde. Politischer, technischer und auch kultureller Wandel wurden nicht länger perhorresziert, sondern ganz im Gegenteil zum Versprechen einer besseren Zukunft. Koselleck hat diesen Vorgang als Auseinanderdriften und schließliche Trennung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont lebensweltlich anschaulich auf den Begriff gebracht.[5] Der moderne Mensch gewöhnt sich daran – er muss sich daran gewöhnen –, dass er das, was ihn morgen erwartet, auf Basis seiner bisherigen Erfahrungen nur unzulänglich oder auch gar nicht wird verarbeiten können. Modern zu sein, heißt nicht zuletzt, sich auf permanente Enttäuschungen einzustellen, nicht weil nun dauernd passierte, was eigentlich vermieden werden soll, sondern weil nun regelmäßig ‚Dinge‘ passieren, die man sich nicht im Geringsten vorzustellen vermochte. Man weiß um die Überraschung, ohne zu wissen, worin sie besteht, wird – ich bin versucht zu sagen, selbst wenn das Bild vielleicht etwas schief ist: wie ein von allzu vielen Geschenken um die Freude des Beschenkt-Werdens gebrachtes Kind – überrascht, ohne wirklich überrascht zu sein. Man stellt sich darauf ein, dass die Welt von morgen eine möglicherweise ganz andere ist als die, die man kennt, und findet sich, wenn es gut geht, genau deswegen mehr oder minder in ihr zurecht.

Wie Makropoulos in begrifflich weitaus elaborierterer Form, als ich es hier vermag, ausführt, bedeutet, eine moderne Existenz zu führen, sich mit Kontingenz zu arrangieren, dem Umstand also, dass ‚die Verhältnisse‘ anders sein könnten und sehr wahrscheinlich bald anders sein werden, als sie es derzeit oder auch nur gerade hier sind. Wir wissen und müssen damit umgehen lernen, dass wir in künstlichen Welten leben – nicht nur, weil wir uns mit Technik und technisch erzeugten Gegenständen umstellen, sondern weil beispielsweise unser politisches oder näherhin demokratisches System anders organisiert sein könnte – ich erinnere daran, dass auch totalitäre Regime nicht unmodern oder kontingenzunsensibel sind, sondern der modernen Kontingenz auf ihre, nämlich vornehmlich repressive Weise Herr zu werden versuchen.[6] Zur lebensweltlichen, massenkulturellen Realität wurde und wird nicht nur das Sich-Abfinden mit und Sich-Einrichten in, sondern darüber hinaus das Wertschätzen von Kontingenz im Sinne einer stets möglichen und erstrebten, als Verbesserung und Überbietung des Bestehenden verkleideten Re-Konstruktion der Sozial-, Ding- und Selbstverhältnisse Makropoulos zufolge erst in der klassischen oder, mit Kittsteiner, heroischen Moderne, prototypisch verkörpert im Berlin der zwanziger Jahre. Die positive, angesichts der ontologisch-objektiven Bodenlosigkeit nachgerade notwendig positive Leistung der Massenkultur sei es, im wesentlichen qua Ästhetisierung vornehmlich der Oberflächen, letztlich aber auch eines spezifisch technischen Blicks und Zugriffs auf die Wirklichkeit als eines bloßen Reservoirs nach Gusto und tatsächlichem Geschick rekombinierbarer Elemente, den Durchschnittsbürger kontingenzoffen gemacht zu haben.[7] So wie die moderne Großstadt nicht nur die Bühne, sondern gleichermaßen Produkt wie Produktionsbedingung der Massenkultur ist, steht in den zwanziger Jahren der Film und stehen heute alle Medien, die bewegte Bilder erzeugen und transportieren, im eigentlichen wie übertragenen Sinne sinn-bildlich für eine kontingenzadäquate Ästhetisierung der Technik wie auch Technisierung der Aisthesis.

Für die Bestimmung der Moderne als mittlerweile die Massen erfassende und von diesen erfasste Kontingenzkultur, ebenso aber für die weiteren Ausführungen zentral ist nun ein von Makropoulos selbst immer wieder angeführter Kontrast, ein Unterschied hinsichtlich dessen, was von der Moderne, was hingegen auch schon von nicht-, vor- oder vielleicht auch fast-modernen Kulturen als kontingent aufgefasst wurde. Ein für Makropoulos wichtiger, wenn nicht der für ihn wichtigste vormoderne Kontingenztheoretiker ist Aristoteles, dem die Kontingenz des menschlichen Handelns durchaus geläufig war, der darum wusste und dies zu einem zentralen Gegenstand seiner ethischen und politischen Reflexionen machte: dass Menschen stets auch anders handeln können, als man es von ihnen erwartet, dass sie in ihrem Handeln mithin frei sind. Nicht kontingent ist für Aristoteles wie für die antike und vormoderne Philosophie generell demgegenüber der Handlungsrahmen oder die Wirklichkeit, in der und in die hinein gehandelt wird. Diese bleibt wie oder vielmehr als Natur der menschlichen Verfügung entzogen. Dementsprechend bildet sich in der griechischen Antike, die sich, freilich nur im historischen und vielleicht sogar nur europäischen Rückblick, in vielerlei Hinsicht als eine Art Vorlauf zur Moderne präsentiert, kein dem modernen entsprechendes Fortschritts-, sondern bloß ein, mit einem Begriff von Christian Meier, Könnens-Bewußtsein aus.[8] Damit ist gemeint, dass das griechische Denken davon ausgeht, dass Menschen zwar die prinzipiell vorbildliche, an sich indes statische Natur nachahmen und sogar das empirisch nur erst Unvollkommene durch ihre Kunstfertigkeit verbessern, niemals aber die Natur selbst ändern oder gar – und genau dies wäre allererst modern – überbieten können.

Makropoulos ist sich vollkommen bewußt, dass jede Kultur ihren eigenen Möglichkeitshorizont besitzt, dass an und eventuell auch ‚für sich‘ um Kontingenz zu wissen kein Privileg der Moderne ist. Er sieht und schreibt ausdrücklich, dass erst in der Moderne über das schon von Aristoteles als kontingent begriffene Handeln hinaus die Natur und selbst der Mensch kontingent werden. Doch ich meine, dass er diese treffende Beobachtung nicht ausschöpft; zumindest denke ich, dass sie sich über das hinaus, was Makropoulos aus ihr macht, ausschöpfen lässt. Zum einen nämlich sind es nicht erst die Griechen, welche um die Kontingenz des menschlichen Handelns wissen oder wenigstens kulturell oder gar sozialtechnisch auf diese reagieren. Zum anderen konzentriert Makropoulos sich, auch wenn er über die klassische oder heroische Moderne schreibt, vielleicht, ja wahrscheinlich sogar als Soziologe, auf die in der politisch-sozialen Wirklichkeit, nicht aber in der Moderne auch in der ‚eigentlichen‘ Natur oder dem Menschen nicht nur aufscheinende, sondern in der Natur und dem Menschen technisch realisierte Kontingenz. Es scheint fast, als gäbe es zwar für uns Moderne nichts, was sich nicht kontingent setzen ließe, als beließen wir es jedoch dabei, im Wesentlichen mit der Gesellschaft zu experimentieren.

Dem möchte ich nun meine wesentlich von Davor Löffler beziehungsweise dessen monumentaler Studie Generative Realitäten[9] inspirierte These, wenn schon nicht entgegensetzen, so doch zumindest beigesellen, dass sich aus universal- oder zivilisationsgeschichtlicher Perspektive zwischen ‚Urmensch und Spätkultur‘ vier Formen, Etappen oder Stufen weniger der Theoretisierung als vielmehr der Operationalisierung von Kontingenz beobachten lassen, vier Bereiche oder Dimensionen, auf oder in denen Kontingenz gleichermaßen problematisch wie praktisch genutzt oder umgesetzt wird. Die These lautet: Bereits im Spätpaläolithikum, konkret und greifbar in den etwa ab 40.000 vor heute auftauchenden Figurinen, Musikinstrumenten und Höhlenmalereien artikuliert sich menschheitsgeschichtlich ein erstes Bewusstsein für oder auch nur implizites Wissen um die Kontingenz des Handelns anderer. In der griechischen Antike, die auch ich, vielleicht in Verkennung ihrer tatsächlichen Relativität, für einen Vorlauf zur europäischen Moderne oder wenigstens das Paradebeispiel des achsenzeitlichen Umbruchs halte,[10] wird nicht bloß und weniger die Kontingenz der einzelnen menschlichen Handlungen als vielmehr und erstmalig die Kontingenz der gesellschaftlichen Ordnung, ihre Gestaltbarkeit, als gleichermaßen möglich wie nötig erkannt. Die Natur hingegen wird nicht erst in der klassischen oder heroischen Moderne zum Gegenstand der gezielten Manipulation, sondern bereits in und mit der naturwissenschaftlichen oder vielmehr naturwissenschaftlich-technischen Revolution des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Die klassische oder heroische Moderne steht zwar auch aus meiner Perspektive im Schatten dieser Revolution. Wenn ich die heroische Moderne dennoch nicht ans Ende einer bereits in der frühen Neuzeit anlaufenden Entwicklung, sondern an den Anfang eines neuen Zeitalters respektive unserer Gegenwart setze, dann deshalb, weil, wie ich im Anschluss an Autoren wie Heinrich Popitz, Arno Bammé, Ray Kurzweil, Yuval Harari und nicht zuletzt Davor Löffler annehme, dass erst die aus den wissenschaftlich-technischen Innovationen des späten 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts erwachsenden Möglichkeiten eine radikale Reformatierung und damit Kontingenzsetzung des Menschen selbst erlauben.[11]

Wenn schon die Einnahme einer universalgeschichtlichen Perspektive sowie die Behauptung, zwischen ‚Urmensch und Spätkultur‘ vier bereichsspezifische Kontingenzsetzungen, die des anderen, der Sozialordnung, der Natur und schließlich des Menschen, voneinander abheben zu können, ein an sich hehres Unterfangen sind, so dürfte mein folgender Versuch, diese These in den wenigen mir verbleibenden Minuten Redezeit einigermaßen anschaulich zu entwickeln und auch noch beziehungsweise eben dazu empirisch zu unterfüttern, nachgerade aussichtslos sein. Ich könnte darum oder sollte vielleicht sogar hier abbrechen. Wenn ich trotzdem noch etwas weiterspreche, dann deshalb, weil schon unter Bedingungen einfacher Kontingenz gilt, eine Chance – hier diejenige, einen Gedanken vorzutragen – nur hat, wer sie auch nutzt, und es weiterhin unter den hier faktisch gegebenen Bedingungen nicht bloß doppelter, sondern multipler Kontingenz durchaus angezeigt ist, hochwahrscheinliche Kommunikationsblockaden dadurch abzubauen, dass ich Ihnen noch etwas Zeit zum Nach-Denken gebe.

II. „Die Höhle, das sind die anderen“

Möglicherweise haben Sie davon gehört – es ging vor einigen Monaten durch die Medien –, dass in der Höhle Leang Bulu’ Sipong 4 auf der indonesischen Insel Sulawesi 44.000 Jahre alte Felsbilder von Schweinen und Zwergbüffeln gefunden worden sind, ebenso eine Zeichnung, die von den Entdeckern der Höhlenmalerei als Tier-Mensch-Hybrid interpretiert wird, deren Alter indes noch festgestellt werden muss.[12] Falls es sich tatsächlich um einen Vogelmenschen handelte und dieser so alt ist wie die Tierbilder, dann wäre dies die älteste bekannte Darstellung eines Fabelwesens. Bisher gilt die vor rund 40.000 Jahren gefertigte Statuette eines Löwenmenschen aus der Höhle Hohlenstein-Stadel auf der Schwäbischen Alb als ältester derartiger Fund. Einige sehen in diesen irrealen Geschöpfen den Beleg für religiöse Vorstellungen, andere halten sie gut positivistisch für Abbildungen von ‚echten‘, möglicherweise jagenden Maskenträgern. Doch könnte der Gebrauch von Jagdmasken nicht wiederum ein Indiz für quasi- oder protoreligiöses Denken sein?

Wie dem auch sei, die Felsenbilder aus Indonesien belegen, dass die spätpaläolithische Höhlenmalerei, deren auch und noch den modernen Betrachter beeindruckende, um nicht zu sagen: erschütternde Kraft man selbst in den Nachbauten der jüngeren und bekannteren Höhlen von Altamira, Lascaux und Chauvet am eigenen Leib spüren kann, nicht nur, wie man bislang glaubte, im frankokantabrischen Kulturraum beheimatet ist. Damit ist nicht Abrede gestellt, sondern das Alter der neu entdeckten Höhle bestätigt vielmehr, dass es vor ca. 40.000 Jahren unter den damals anatomisch längst modernen Menschen mit einem Wort von John Pfeiffer zu einer ‚kreativen Explosion‘ gekommen ist. Für April Nowell ist das mehr oder weniger plötzliche Auftauchen der altsteinzeitlichen ‚Kunst‘ Ausdruck einer ‚behavioral modernity‘ der damaligen Menschen. Für Merlin Donald wird in den paläolithischen Figurinen und Höhlenbildern eine mythische, sprachfähige und möglicherweise genau deswegen Mythen verbildlichende Kultur greifbar, der er eine mimetische, über einfachen Werkzeuggebrauch definierte vor- oder protosprachliche Kulturstufe vorangehen und eine theoretische, schriftbasierte Kulturstufe nachfolgen lässt.[13]

Der Streit um die Aufklärung und grundsätzliche Aufklärbarkeit der konkreten Bedeutung der altsteinzeitlichen ‚Kunst‘-Gegenstände ist alt, hält an und ist positiv oder eindeutig sicher nicht zu entscheiden. Von Miriam Haidle – auf die ich durch Davor Löffler aufmerksam geworden bin – stammt allerdings ein kognitionsarchäologisches Modell, das mit hoher Plausibilität aus verschiedenen Formen der Werkzeugherstellung und des Werkzeuggebrauchs auf die kognitiven und allgemeiner die kulturellen Kompetenzen der Vor- und Frühmenschen zurückzuschließen erlaubt.[14] Eine Kultur, die über Pfeil und Bogen verfügt, setzt beispielsweise nicht nur eine über lange, transgenerationelle Zeiträume erworbene und somit bewusst tradierte Materialkunde sowie sekundären Werkzeuggebrauch, also den Gebrauch von Werkzeugen zur Erstellung anderer Werkzeuge oder vorläufiger Werkstücke voraus, verlangt von den Produzenten der Waffe nicht nur, vielgliedrige, wahrscheinlich arbeitsteilig ineinandergreifende Handlungsketten zu überschauen, sondern erfordert darüber hinaus ein fortgeschrittenes, beinahe protomaschinelles Werkzeugverständnis, bei dem führende Elemente, in diesem Fall der Bogen, und geführte Elemente, hier der Pfeil, ineinander greifen, was es auch und gerade für Anwender der Waffe notwendig macht, ihren Gebrauch und in einem damit ihren Körper sorgfältig zu trainieren. Es scheint ausgeschlossen, dass derartige Kompetenzen allein durch Beobachtung und Nachahmung und nicht auch durch sprachliche Erläuterungen vermittelt und überliefert wurden. Mit den Statuetten und bildlichen Darstellungen, aber auch den ähnlich alten, zum Teil über verschiedene Fundstellen und wiederum historische Zeitspannen hinweg identisch gestimmten Lochflöten tritt nun ein neuer Typ von ‚Werkzeugen‘ auf: die von Haidle so genannten ideellen Werkzeuge, die nicht länger der Manipulation von materiellen Gegenständen dienen, sondern die mittels Tönen, Farben und Formen, symbolischer Medien also, eine unsichtbare, gleichwohl aber als real unterstellte Psyche der Rezipienten adressieren.

Das tut oder tat die mutmaßlich ältere Sprache auch schon. Erstens aber ist nicht auszuschließen, dass sich protosprachliche, grammatisch oder gegenstandsspezifisch eingeschränkte Kommunikationsformen erst im Spätpaläolithikum zur uns geläufigen Sprache im Vollsinne eines extrem flexiblen, universalen, auch und noch bloße Imaginationen erschließenden Reflexionsmedium mausern, möglicherweise gar auf der Basis materialisierter Symbole.[15] Zweitens unterscheiden sich diese selbst von sprachlich ‚freien Signifikanten‘ durch ihre Dauerhaftigkeit, sind sie eine Art Schrift, eine frühe Form von externalisierter, ansichtig gemachter und dauerhaft gespeicherter Information, mit einem Ausdruck von Donald ein ‚Exogramm‘.[16]Exogramme sind auch schon im Vergleich zur Höhlenmalerei ältere Einkerbungen auf Knochen, die, was auch immer sie bedeuten, etwa wiederkehrende Jahreszeiten oder erlegte Beutetiere, den Felsenbildern von Tieren und Hybriden gegenüber informationell indes schlichter sind. Die Höhlenbilder oder auch Statuetten wie der Löwenmensch sind zumindest für uns und waren schon ob ihrer Dauerhaftigkeit sehr wahrscheinlich wohl auch für das altsteinzeitliche Personal von semantischer Polyvalenz, sind und waren, wie nicht erst die moderne Kunst, kommentarbedürftig. Sie ergeben und ergaben Sinn allein im Rahmen einer sprachlichen Erzählung, eines Mythos. Wenn es legitim ist, aus ethnographischen Befunden der Moderne auf paläolithische Verhältnisse zu schließen, dann dürften Mythen nicht bloß erzählt, sondern in Form von bedeutungsstabilisierenden, auch und gerade körperlich ‚überzeugenden‘ Riten ebenso inszeniert worden, dann dürften materielle Symbole wie zum Beispiel Totems wichtig, wie Durkheim schreibt, realer gar als die von ihnen repräsentierte Spezies gewesen sein, weil sie die mythische oder animistische ‚Realität‘, die Verwandtschaft oder Wesensgleichheit von Clan und Totem, buchstäblich appräsentieren.[17]

Die Höhlenmalereien stünden damit für eine gleichermaßen nötige wie mögliche, kollektiv verbindliche Vereindeutigung von Sinn, für den gerade der Möglichkeit des Bedeutens geschuldeten Zwang der Deutung. Soziologisch gewendet belegten die altsteinzeitlichen Felsenbilder ein wenigstens implizites Wissen ihrer Schöpfer und darum wohl auch ihrer Gruppe, dass der Gruppenzusammenhang ein gemeinsames Weltbild voraussetzt, eine gemeinsame Deutung der Welt sowie dessen, was um der Fortexistenz der Gruppe willen in dieser und für diese Welt getan werden muss, eben weil bloße Mimesis die in der Gruppe erwachte Multiperspektivität der einzelnen nicht mehr einzufangen vermag.[18] Überspitzt formuliert: Man weiß um die Kontingenz der Wahrnehmung, aber auch des Handelns der anderen und bedarf deswegen der Versicherung und in eins damit der Gleichrichtung ihres Verhaltens und Motivationshaushalts. Das Felsenbild ‚ist‘ der generalisierte Andere. Und was dieser im Fackelschein der Höhle zu erkennen gibt, ist, dass aus Hominiden menschliche Subjekte geworden sind. Um es mit einem Sartre entwendeten, abgewandelten und gegen ihn gekehrten Bonmot zu sagen: „Die Höhle, das sind anderen.“

III. Kontingenz der nomoi

Es sind also nicht erst die alten Griechen, welche die Kontingenz des menschlichen Handelns entdecken. Was gleichwohl auf ihr zivilisatorisches Konto geht, ist die Entdeckung der Gestaltbarkeit der politischen Ordnung.[19] Selbstverständlich entdecken die Griechen nicht von heute auf morgen, dass die Politik zum Gegenstand von Reflexion und vorsätzlicher Ordnungsstiftung gemacht werden kann, und damit das Politische selbst, sondern sie suchen und entwickeln praktische Lösungen für praktische Fragen, die sich erst im Nachhinein als revolutionäre Neuerung erweisen und in ihrer Radikalität schon von den klassischen griechischen Philosophen, Plato allen voran, wiedereingehegt werden. Auch dass Herrschaft Menschenwerk ist oder vielmehr dass Herrschaft von Menschen ausgeübt wird, war eine gesellschaftliche Erfahrung, die nicht erst die Griechen machten, sondern die Generationen von Menschen, Knechte wie Herren, seit Errichtung der ersten Stadtstaaten im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung wieder und wieder machen mussten.

Herrschaft galt jedoch als aus religiösen Gründen gerechtfertigt und schien kaum minder natürlich in monarchischer Herrschaft zu kulminieren. Sie konnte kollabieren, und es wurde gewaltsam um sie gestritten, man kannte das Leid, das mit ihr einherging oder wenigstens einhergehen konnte, dennoch schien es – das zumindest überliefern die Quellen –, als ob es der Herrschaft oder konkret eines Herrschers bedürfe, der aufgrund seiner Nähe zu, wenn nicht Verwandtschaft mit den Göttern damit beauftragt war, die irdische – streng genommen schon in den Höhlen der Altsteinzeit als störanfällig erkannte – Seite der kosmischen Ordnung aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls durchzusetzen. Dass Ordnung, und das hieß in diesem Fall, soziale Hierarchie sei und die Menschen an ihr mitwirken, sich ihr zu fügen hatten, galt als göttlicher Wille, dem und vor allem dessen irdischen Exekutoren nicht Folge zu leisten zwar punktuell möglich war, nicht jedoch ohne für eine solche Unbotmäßigkeit unweigerlich bestraft zu werden. Folgt man, wie ich es tue, an diesem Punkt der historisch-genetischen Theorie von Günter Dux, dann bedurfte es für diesen Glauben gar keiner hinterlistigen Priester oder Priesterkönige; vielmehr war diese Form des Glaubens lediglich eine Explikation oder Rationalisierung eines zunächst unausweichlich subjektivistischen, alle Ereignisse und noch das So-Sein der Welt einem allmächtigen Demiurgen oder eben handelndem Subjekt zurechnenden Denkens, dem die Untertanen und ihre Könige gleichermaßen anhingen und anhängen mussten.[20]

Dieses religiöse beziehungsweise religiös verkleidete, aus objektiven Gründen subjektivistische Verständnis von Herrschaft, dem eine im engeren Sinne ideologische Rechtfertigung im Grunde gar nicht erst beigesellt werden musste, weil wohl zwar ihre konkrete Ausübung, nicht aber ihre prinzipielle Notwendigkeit in Frage gestellt wurde, gerät im archaischen und dann klassischen Griechenland in Fluss, wohl nicht nur hier, in der westasiatischen, das heißt mittelöstlich-europäischen Geschichte jedoch erstmalig und zudem auf eindrückliche, wie gesagt revolutionäre Weise. Die Gründe für die Entstehung des Politischen und dann die Entwicklung der Demokratie bei den Griechen lassen sich im Einzelnen nicht genau bestimmen, und dies nicht nur, weil uns die Quellen fehlen, sondern ebenso, weil es eindeutige, zwingende Ursachen oder gar den einen Grund nicht gibt, geschweige denn, dass ein griechischer Genius für die Erfindung der Demokratie und der anderen Elemente des ‚griechischen Wunders‘ verantwortlich zeichnete. Was sich gleichwohl ausmachen lässt, ist, dass nach dem Niedergang der mykenischen Kultur ein im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung einsetzender wirtschaftlicher und demographischer Aufschwung nicht erneut zu mehr oder weniger großräumigen politischen Zentralisationsprozessen, sondern allem Anschein nach auch aufgrund der geographischen Gegebenheiten des westlichen Mittelmeerraums zur Herausbildung einer Vielzahl von autonomen Stadtgemeinden führt. Die dem maritimen Handel, der Kolonisation, aber auch den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten geschuldete räumliche und soziale Mobilität stiftet einerseits einen über die einzelnen poleis hinausgreifenden kulturräumlichen, nicht zuletzt sprachlichen, in einer neuen, leicht zu erlernenden, nämlich der alphabetischen Schrift breiten Schichten zugänglich gemachten Zusammenhang, führt innerhalb der Stadtgemeinden andererseits jedoch zur Auflösung alter ständisch-familialer Hierarchien, zu neuer und verschärfter materieller Ungleichheit und zu in Bürgerkriegen kulminierenden Klassenkämpfen. Das relative Machtgleichgewicht sowohl zwischen als auch in den Städten stellte die stasis gewissermaßen auf Dauer, machte eine grundsätzliche Lösung der sozialen Konflikte, eine Neuordnung der Verhältnisse, indes desto dringlicher.[21]

Sie kam schließlich in Form von ‚Verfassungsreformen‘, von zunächst situativen Regelsetzungen und später allgemeinen Bestimmungen, welche nicht nur temporäre, je aktuelle Streitigkeiten auflösen sollten, sondern Verfahren der Gesetzgebung selbst institutionalisierten. Diese Verfassungsreformen waren, so unwahrscheinlich es vorderhand klingt, ein Werk politischer Intellektueller, einer ihrerseits sozialstrukturell neuen, spezifisch städtischen, belesenen und selbst schreibenden, in der Regel dem Adel entstammenden, diesem aber nur bedingt verpflichteten Gruppe von Leuten, welche im Rahmen eines wechselseitigen Austauschs aus einer unparteiischen Beobachtung der Wirren politische Gesetzmäßigkeiten ableiteten und diesen entsprechende Verhaltensmaßregeln aufstellten. Ihre ‚Parteilosigkeit‘ konnten sie sich leisten, weil angesichts der fortdauernden Querelen gerade unparteiischer Rat gefragt war und durchaus auch entlohnt wurde. Die griechische Demokratie, die Einbeziehung einer mehr oder minder großen Gruppe formal gleichberechtigter Bürger in den Prozess der Gesetzgebung selbst, entwickelt sich unmittelbar aus dem Mediationsgeschäft in großer Not zu Hilfe gerufener politischer Berater. Selbstredend sind es nicht diese selbst, welche aus eigener Kraft die Demokratie installieren; sie agieren wie alle historischen Akteure unter Bedingungen, die sie nicht gemacht haben, die ihrem Handeln oder vielmehr ihren Vorschlägen allererst zu Erfolg verhelfen. Die griechische Demokratie war kontingent; sie war offenbar möglich, ihre Realisierung aber war deswegen nicht schon unausweichlich.

Ihre Entwicklung von den Reformen Solons bis hin zur von Vermögen, Stand, Familie, Beruf oder besonderen Fähigkeiten unabhängigen Ausweitung der Mitsprache, ja, des politischen Bürgerrechts auf über 50.000 Athener braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Aus herrschaftssoziologischer und kontingenzhistorischer Perspektive entscheidend ist, dass es hier weltgeschichtlich erstmalig zur Institutionalisierung von politischer Gleichberechtigung kommt und diese einerseits Ausdruck einer bewusst gewählten, intendierten Strategie zur Befriedung und Überwindung von Bürgerkrieg und Klassenkampf war und andererseits und radikaler noch die Ausgestaltung und damit erneute Änderung der politischen Ordnung zum Gegenstand von menschlichen Entscheidungen wird. Dieses revolutionäre Resultat wird einem Solon kaum vor Augen gestanden haben, dessen vielmehr konservatives Anliegen es gewesen sein dürfte, aus den Gründen für die gegenwärtige Unordnung Lehren für künftig stabilere Verhältnisse zu ziehen. Vermutlich am deutlichsten artikuliert sich das neuartige griechische Kontingenzbewusstsein bei den Sophisten, die ausdrücklich formulieren, dass jeder Staat, dass Herrschaft überhaupt Menschenwerk sei, dass sie von diesen errichtet, ebenso aber gestaltet oder auch aufgehoben werden könne. Selbst bei diesen jedoch – und das ist ein Punkt, auf den es für das Weitere ankommt – ist es nur die politische oder soziale Ordnung, nicht aber die Natur, welche zu gestalten den Menschen geboten ist. Nur der nomos, nicht die physis ist in menschliches Belieben gestellt. „Die Vernunft der Griechen“, heißt es bei Jean-Pierre Vernant, „ist diejenige, die es erlaubt in positiver, reflektierter und methodischer Weise auf die Menschen einzuwirken; sie ist nicht die einer Umgestaltung der Natur.“[22] Nicht nur zielt sie nicht auf eine Umgestaltung der Natur, vielmehr bedarf auch und noch die Gestaltung der Gesellschaft eines der menschlichen Verfügung entzogenen Maßstabs, der, wenn schon kein konkretes Ziel, so doch die Zielrichtung oder das Ideal einer möglichsten perfekten Ordnung der Dinge vorgibt. Diese, die Natur selbst, wird erst in der Neuzeit zum Gegenstand, der nicht bloß erschlossen, sondern auch manipuliert werden kann.

IV. Techno-Natur

Dass die dingliche, die äußere Natur zunächst im Zuge der naturwissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts er- oder vielmehr aufgeschlossen und ihre Kräfte und Elemente zu technischen und wirtschaftlichen Zwecken rekombiniert und genutzt werden, dass Natur im Zuge dieser wissenschaftlich-technischen und später wirtschaftlich-industriellen Revolution als ‚Techno-Natur‘ erscheint, bedeutet nicht, dass ihre technische Nutzung oder wenigstens ein Wille zur selben am Anfang dieser Revolution gestanden hätte, noch, dass sie von Anfang ein schlicht empirisches oder handwerkliches Unterfangen gewesen, noch, dass eine an sich reine, unberührte Natur technisch entstellt oder gar vergewaltigt worden wäre. Ja, die Natur wurde technisch überformt, und dies setzt sehr wohl einen spezifisch empirischen, wenn auch als empirisch eher schief bezeichneten Zugriff auf natürliche Tatbestände voraus, dennoch wäre es falsch, die vormoderne, vor-naturwissenschaftliche Natur als eigentliche einer künstlichen oder gar falschen Techno-Natur gegenüberzustellen.[23] Umgekehrt folgt aus dem Umstand, dass die Natur sich als technisierbar erweist, allerdings ebensowenig, dass sie an sich technisch verfasst wäre. Es ist vielmehr ein neuartiges ‚funktionales‘ Dispositiv, ein neuartiges historisches, von den Zeitgenossen indes weder als neuartig noch und geschweige denn als relativ begriffenes Apriori, welches die Natur auf andere Weise zum Vorschein bringt, als dies in Antike und Mittelalter oder überhaupt in vormodernen Kulturen der Fall war.[24]

Wie schon im Hinblick auf die beiden vorherigen Etappen der Kontingenzgeschichte können auch hier die Gründe für das Auftauchen jenes neuen Blicks auf die Welt von diesem selbst sowie dessen Effekten unterschieden werden. Ich selbst habe kürzlich im Anschluss an Alfred Sohn-Rethel, wenn auch gegen dessen und noch Arno Bammés verkürzten Ökonomismus zu zeigen versucht, dass die im Mittelalter wiederaufkommende Geldwirtschaft im Verbund mit der Rezeption der arabischen Ziffern und Rechenmethoden eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung jenes funktionalen Dispositivs gewesen ist.[25] Doch dieser Befund, wenn er denn stimmt, präjudiziert in keiner Weise, dass nicht auch andere Faktoren wie etwa die satzungsgemäße, rechtsförmige Ausdifferenzierung von Ämtern und Zuständigkeiten schon in mittelalterlichen Korporationen, und das heißt die Funktionalisierung von Sozialbeziehungen, oder die in diesem Fall sehr wohl technisch-handwerkliche Entwicklung von maschinellen Funktionsgefügen wie Mühlen und Uhren oder auch die als optisch-geometrische Theorie aus dem arabischen Raum übernommene, von der Renaissance-Malerei jedoch als bildliches Konstruktionsprinzip gebrauchte Zentralperspektive ihrerseits dazu beigetragen haben, auch die Natur als funktionalen Zusammenhang zu begreifen, so wie er prominent in Galileis Bewegungslehre, Descartes’ Koordinatensystem oder Newtons Trägheitsgesetzen artikuliert wird.[26]

Wie auch immer die Genese des funktionalen Dispositivs im Einzelnen zu rekonstruieren ist – so sie sich denn überhaupt in einem strengen Sinne kausal rekonstruieren lässt –, festgestellt werden kann, dass die modernen Naturwissenschaften, allen voran die Mechanik und allgemeiner die Physik, nicht einfach einer aufmerksameren Beobachtung der Natur entspringen. Das funktionale Dispositiv unterstellt vielmehr wider alle lebensweltliche Evidenz, dass die sichtbare oder auch experimentell sichtbar gemachte Natur, dass die natürlichen Phänomene einem homogenen und unendlichen Raum eingebildet sind. Die Natur der modernen Naturwissenschaften ist nicht wie bei Aristoteles oder in der mittelalterlichen Naturphilosophie von mannigfaltigen, je spezifischen und konkret lokalisierten Wesenheiten bevölkert, sondern ihrerseits in einen abstrakten, von allgemeingültigen Bewegungsgesetzen regierten Raum eingestellt, die ihrerseits die wahrnehmbaren, aber in der bloßen Wahrnehmung – wie beispielsweise des Sonnenaufgangs – allzu leicht über die wahren Tatbestände hinwegtäuschenden Phänomene erklären. Die Natur wird aufgespalten in ihre je konkreten Erscheinungen einerseits und abstrakte, lediglich oder auch glücklicherweise mathematisch formulierbare Natur- beziehungsweise Verlaufsgesetze andererseits. Das Buch der Natur, heißt es bei Galilei, ist in Zahlen geschrieben. Diese Sprache, die Mathematik, haben Naturwissenschaftler – und inzwischen längst nicht mehr diese allein – zu erlernen respektive, weil sie der Natur ebensowenig wie ihre Gesetze einfach abzulesen sind – allererst zu entwickeln, um mit ihr auf dem Wege des Experiments in Dialog zu treten.

Die Naturforscher „begriffen“, heißt es bei Kant, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“[27]

Das formalisierte Experiment ist fürderhin die privilegierte Form der Erfahrung, der Wahrheitssuche, wenn auch noch nicht die Wahrheit selbst, nicht weil Physiker einfach genauer hinsähen als Metaphysiker, sondern weil sie einer Metaphysik der Mathematik anhängen. Dies freilich ist keine beliebige Entscheidung, keine philosophische Mode, der man anhängen könnte oder auch nicht, sondern ein Dispositiv, das sich auch praktisch bewährt. Man muss gar nicht behaupten, dass die Natur mathematisch verfasst sei; die mathematische Modellierung von natürlichen Prozessen, das bewusste Absehen von Qualitäten zugunsten einer bloß quantitativen oder besser quantifizierbaren Relationierung abstrakter Kräfte und Körper, ‚fängt diese ein‘, das heißt erlaubt umfassende Erklärungen komplexer Vorgänge, die Vorhersage und experimentelle Überprüfung natürlicher Ereignisse sowie – und eben dies ist entscheidend für, ja, gleichbedeutend mit der neuzeitlichen Kontingent-Setzung der Natur – deren technische Indienstnahme. Wenn und insofern nämlich die Natur mathematisch-begrifflich ‚aufgelöst‘ werden kann in ein Ensemble von Elementen und Regeln, dann spricht nichts dagegen, dann liegt es nahe, ja, dann ist es ‚natürlich‘, sich dieses Wissen zu Nutze zu machen, um qua Rekombination jener Regeln und Elemente Wirkungen hervorzubringen, die in der ersten Natur nicht oder zumindest so nicht vorkommen.[28] Das gilt schon für die maschinelle Verstärkung von Kräften, aber auch und erst recht für die chemische Zerlegung und Herstellung von Stoffen und schließlich die Steuerung biologischer Vorgänge. Letzteres, die Erschließung und Technisierung des Lebens, steigert die Kontingenz-Setzung eben nicht nur der Welt allerdings freilich nochmals um eine weitere Stufe. Kontingent wird in und mit der klassischen Moderne das Innere, die Natur, das Wesen des Menschen selbst. Für die ‚klassischen‘ Naturwissenschaften wie auch für die neuzeitliche Erkenntnistheorie hingegen bleibt der Mensch das Andere der Natur. Vorerst ist es – bislang war es ‚nur‘ diese, welche aus einer an sich vorgängig-unverfügbaren, bestenfalls durch menschliche Kunstfertigkeit wohnlicher zu gestaltenden Umwelt zu einem weiteren Möglichkeitsraum wurde.

V. Ausweitung der Kontingenzzone

In Hinblick auf zentrale technische Innovationen wie den Computer oder die Rekombination von DNA, in Hinblick auf diesen zugrundeliegende wissenschaftliche respektive disziplinäre Entwicklungen wie die der Elektronik, der Kybernetik oder der Genetik schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts und, lässt man die Abkehr von ‚realistischen‘ Darstellungskonventionen in der Malerei des 19. Jahrhunderts als Vorwegnahme oder Ankündigung einer erneuten Umwälzung des Weltbilds gelten, auch noch früher, vielleicht seit 1870 und damit mit Anbruch des von Makropoulos und anderen klassische Moderne genannten Zeitraums erleben wir – das ist meine und Löfflers These – eine in universalgeschichtlicher Perspektive betrachtet vierte Kontingenz-Setzung, und zwar die der menschlichen Natur.

Man muss in Hinblick auf die Bestimmung der Gegenwart als Epoche vorsichtig sein; zu leicht verwechselt man kurzzeitig aufschäumende Blasen auf einem großen Strom mit diesem selbst, übersieht oder übergeht man Ereignisse, die sich erst im Nachhinein als Weichenstellung entpuppen. Die kaum noch abzählbare Anzahl an Bestimmungen, in welcher Gesellschaft wir ‚eigentlich‘ leben, ob in einer oder gar der Risiko- oder Sicherheitsgesellschaft, einer Erlebnis- oder Wissens-, einer massenkulturellen oder einer Gesellschaft der Singularitäten, legt davon Zeugnis ab. Dementsprechend könnte es sein, dass auch die Behauptung, gegenwärtig würde ein neuer, weiterer Bereich kontingent gesetzt und weiterhin der Konstruktion geöffnet, fehlgeht. Schließlich sei auch die menschliche Natur Natur, und insofern diese bereits seit dem 16./17. Jahrhundert Gegenstand eines wissenschaftlich-technischen Ein- und Zugriffs sei, sei die Annahme, nun erst werde auch die innere Natur des Menschen kolonisiert, nichts anderes als ein weiteres Beispiel für die typisch moderne Selbstüberschätzung des Menschen. Radikaler noch könnte Bruno Latour intervenieren: „‚Wir sind nie modern gewesen!‘ Die Hybride waren immer schon überall; modern sind wir bestenfalls darin, sie bei uns nicht sehen zu wollen.“[29] Dagegen jedoch – das heißt dafür, dass wir, so hochtrabend es klingt, in ein neues Zeitalter der Kontingenz eingetreten sind – sprechen zum einen prinzipielle, zum anderen empirische Erwägungen.

Ebensogut, wie man argumentieren kann, dass die innere Natur des Menschen nur ein Teilaspekt der Natur ist, ließe sich argumentieren, dass die in der Antike kontingent gewordene Sozialordnung nichts anderes sei als die Kontingenz des Handelns im Plural. Doch ähnlich wie nicht wissen zu können, wie ein anderer handelt, etwas grundsätzlich anderes ist als die Ordnung, in der ich und andere leben, ganz anders zu gestalten, als sie derzeit ist, ist die äußere Natur als im Extremfall nur vorläufige Natur zu betrachten etwas ganz anderes als sich selbst, den Betrachter, so zu modellieren, dass eine möglicherweise gar gleichbleibende äußere Natur ihm anders erscheint. Und genau dies geschieht, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen belehrt uns nicht bloß der erkenntnistheoretische Konstruktivismus, sondern auch und schon die Quantenphysik darüber, dass unsere Beobachtungen standort- beziehungsweise gegenstandsrelativ sind – ob Strahlung etwa aus Wellen oder Teilchen besteht, ist abhängig davon, wie man sie detektiert –, zum anderen sind wir bereits dabei, uns, oder wenigstens einige von uns, mittels Biotechnologie so zu manipulieren, dass unerwünschte Körpereigenschaften oder –funktionen aus-, erwünschte hingegen ein- oder zugeschaltet werden können – und zwar ohne dass es auf Ebene des ausgebildeten Organismus eines operativen Eingriffs oder der Zufuhr von Pharmaka bedürfte. Vielmehr lässt sich der Organismus so programmieren, lässt sich die genetische ‚In-Formation‘ so umschreiben, dass das gewünschte Resultat ‚auf natürliche Weise‘, gewissermaßen prothesenfrei, erzeugt wird.

Weiterhin steht zu erwarten, dass die Fortschritte in der Entwicklung künstlicher Intelligenz, die unseren Alltag jetzt schon von der Steuerung unseres Navigationsverhaltens im Internet über die automatisierte Auswertung medizinischer Diagramme und Bilder bis hin zum Algotrading auf Finanzmärkten durchdringen, dazu führen werden, dass jene von menschlicher Intelligenz nicht nur nicht mehr zu unterscheiden und dieser zugleich in jeder Hinsicht überlegen sein wird. Auch dürften KI und menschliche Hirne in absehbarer Zukunft verschaltet werden können, so dass im Ergebnis, sowohl was die Wahrnehmung als auch Entscheidungen eines solchen kognitiven Hybrids betrifft, nicht auseinanderzuhalten ist, wer oder was hier wahrnimmt oder entscheidet. Heinrich Popitz war sich in einem erstmalig 1989 erschienenen und 1995 unverändert wiederveröffentlichten Beitrag noch unsicher, ob es sich bei der Computertechnologie „um eine Seitenlinie der technischen Entwicklung oder um eine neue dominant werdende Dimension der Technisierung“ handele. Und was die Gentechnik anbelangt, deren Gefahren er ebenso wie diejenigen der Atomenergie zwar für „unvergleichlich“ hält, erscheint es ihm gar „ungewiß, ob die Summe ihrer Effekte die Bedeutung […] etwa der Elektrizität […] erreichen wird“.[30] (Diese sieht er zum einen in der Technisierung der Lebenswelt, des Gebrauchs von Hochtechnologie im Alltag, zum anderen in der durch die drahtlose Übertragung von Ton und Bild ermöglichten, ja, vollzogenen Schrumpfung des Raums, in dem wir uns im konkreten wie übertragenen Sinne bewegen.) Popitz, der 2002 mit 71 Jahren starb, ist oder war mithin ein Skeptiker, was die sozialen Folgen der jüngeren wissenschaftlich-technischen Innovationen betrifft. Ob er dies heute, in historischer und selbst zeitdiagnostischer Perspektive gerade einmal, in Hinblick auf die rasanten, noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Entwicklungssprünge einerseits der Rechenleistung von Computern wie andererseits der Umfänglichkeit und Spezifizität von Eingriffen ins Erbgut indes lange 18 Jahre später immer noch wäre, ist unklar und im Grunde müßig. Denn so spektakulär bereits die bisherigen gen- und rechentechnologischen, den menschlichen Organismus und den menschlichen Geist replizierenden, rekombinierenden und in Hinblick auf ihre Resilienz und Leistungsfähigkeit übertrumpfenden Errungenschaften sind, im Grunde realisieren sie nur, was durch den vorherigen Vorstoß der Wissenschaften in submechanische, subatomare und subphänotypische Sphären angelegt war: ein informationelles oder, in der Begrifflichkeit Löfflers, generatives Regime, das nicht nur, wenn überhaupt noch, auf die Feststellung und Indienstnahme der Regularitäten einer vorfindlichen Natur, sondern auch und insbesondere derjenigen zielt, welche Natur, einschließlich der Bereiche oder ontologischen Emergenzniveaus Leben und Geist, allererst hervorbringen.[31]

Wir leben in ‚generativen Realitäten‘, einem Zeitalter der Biofakte, in dem Leben und Geist künstlich erzeugt, Artefakte andererseits mit organischen und geistigen Eigenschaften ausgestattet werden können. Damit wird kontingent, damit erreichen wir eine Stufe, auf der gestaltbar wird – in naher Zukunft vermutlich auch durch andere Entitäten als uns selbst, Biofakte eben –, was Leben und Geist sind und werden sollen. Ob dies darum auch ein posthumanistisches Zeitalter sein wird oder die Überbietung oder wenigstens Überformung des Menschen nicht vielmehr auf der Linie schon der Menschwerdung, der Verwandlung einer tierisch-zentrischen in eine mehr-als-tierisch-exzentrische Existenzweise, liegt, ist indes eine andere, weil wir exzentrische Wesen sind, welche die Möglichkeiten, die sich uns bieten, immer auch ergreifen oder aber verwerfen müssen, nicht bloß analytische, sondern auch normative Frage, auf die zu antworten ich hier gar nicht versuchen will.

VI. Schluss

Abschließend ganz kurz zurückwenden möchte ich meinen Blick auf Michael Makropoulos’ Bestimmung der Moderne als Kontingenzkultur. Wie hoffentlich deutlich geworden ist, halte ich seine These, dass in der klassischen Moderne nicht nur das Handeln, sondern auch und noch der Handlungsrahmen, generell die Wirklichkeit, und zwar, wie es gelegentlich heißt, inklusive des Menschen kontingent gesetzt worden, ja, geworden ist, für treffend, mit Blick ‚auf die ganze Geschichte‘ jedoch für zu unspezifisch beziehungsweise für noch nicht radikal genug.

Zunächst einmal wird das Handeln nicht erst in der Antike als kontingent begriffen. Die Kontingenz des Handelns ist vielmehr eine Erfahrung, die Menschen machen, seitdem sie, möglicherweise in den Höhlen des Spätpaläolithikums, zu exzentrischen Wesen gewesen worden sind, die ihr eigenes Handeln von einem Standpunkt außerhalb zu beurteilen gelernt haben. Theoretisiert wurde diese Erfahrung – ich weiß nicht, ob historisch erstmalig, fraglos aber auch und dies auf eindringliche Weise – von Aristoteles. Die eigentliche, wenn ich so sagen darf, objektiv größere Leistung der Antike war es, durch die Entwicklung der Demokratie die Sozialordnung selbst der menschlichen Gestaltung zugänglich gemacht und damit kontingent gesetzt zu haben. Maßstab oder zumindest abstraktes Vorbild des nomos blieb jedoch die physis. Auch diese, die Natur also, und nicht nur, wie es ein oberflächlicher Blick auf das in der Neuzeit aufkommende politische Vertragsdenken nahelegen könnte, noch einmal und grundsätzlicher als in der Antike, die Sozialordnung wird mit und durch die im 16. Jahrhundert einsetzende naturwissenschaftliche Revolution zum Möglichkeitsraum, zum Spielraum der menschlichen Umgestaltung und Substitution vorgefundener Bestände. Auch die Natur wird zum ‚Tat-Bestand‘. Theoretisch eingeholt wird dieser Umstand erneut erst mit großem zeitlichen Abstand, wie überhaupt die Eule der Minerva ihren Flug zumeist erst in der Dämmerung beginnt. Mit Marx, der Philosophie und Sozialtheorie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt der Philosophischen Anthropologie mit großem P,[32] wird klar, um es mit einem Buchtitel Hans Blumenbergs zu sagen, daß die „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ plural, von uns gemacht und, wenn schon nicht immer auch ganz anders sein könnten, so doch veränderlich und einer stetigen, auch lebenszeitlich manifesten Veränderung ausgesetzt sind.[33] Diese Veränderungen, diese Änderbarkeit erfasst auch den Raum, in dem wir uns einrichten, handgreiflich in der modernen Großstadt, die als solche schon Gegennatur ist, aber eben auch die Natur und den Menschen selbst. Die Natur wird in der Massenkultur wie das Reale bei Lacan zur Residualkategorie, zum Rest, den es auch noch gibt oder wenigstens geben mag, zu dem uns der Zugang jedoch verstellt ist, weil wir seiner immer nur mittels eigener Konstruktionen habhaft werden.

Und das ist noch nicht alles. Wie bereits die totalitären Entwürfe eines neuen Menschen, die linken Erziehungs- und rechten Züchtungsprojekte der 1930er und ‑40er Jahre dokumentieren, machte der (Um‑)Gestaltungswille vor dem Menschen nicht halt. Nicht nur und nicht einmal in erster Linie diese Versuche der menschlichen Reformatierung werden auch von Makropoulos thematisiert, wohl aber ihre sozialdisziplinären Vorläufer, ihre normalisierenden und vor allem selbstoptimierenden Alternativen, um das Ausgreifen des spätmodernen, zeitgenössischen Konstruktivismus auf den Menschen selbst aufzuzeigen. Das ist nicht falsch – ja, man könnte vielleicht sagen, so wie die Kunst des 19. Jahrhunderts die wissenschaftlichen Durchbrüche des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, gehen die nur erst sozialtechnischen Reformatierungsversuche ihrer generativen Implementierung vorher –, doch es verkennt, dass die Natur des Menschen kontingent zu setzen praktisch und kategorial über die bisherigen Landnahmen der Kontingenzkultur hinausgeht.

  1. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956.
  2. Vgl. Stefan Breuer, Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek 1998.
  3. Michael Makropoulos, Moderne und Kontingenz, München 1997; ders., Moderne als Kontingenzkultur, in: Gerhart von Graevenitz / Odo Marquard (Hg.): Kontingenz (Poetik und Hermeneutik 17), München 1998, S. 55–79.
  4. Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, in: Johannes Rohbeck / Herta Nagl-Docekal (Hg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 91–117.
  5. Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 349–375.
  6. Höre Wolfgang Eßbach: Ungeliebte Moderne. Theoretischer Radikalismus im 20. Jahrhundert [Vorlesung], https://www.podcasts.uni-freiburg.de/geschichte-gesellschaft/gesellschaft/ungeliebte-moderne.-theoretischer-radikalismus-im-20.-jahrhundert-theorie-ii .
  7. Michael Makropoulos, Aspekte massenkultureller Vergesellschaftung, in: Mittelweg 36 13/1 (2004), S. 65–87; ders.: Theorie der Massenkultur, München 2008.
  8. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980, S. 435–499.
  9. Davor Löffler, Generative Realitäten I. Die Technologische Zivilisation als neue Achsenzeit und Zivilisationsstufe. Eine Anthropologie des 21. Jahrhunderts, Weilerswist 2019.
  10. Vgl. Stefan Breuer, Kulturen der Achsenzeit. Leistung und Grenzen eines ge-schichtsphilosophischen Konzepts, in: Saeculum, 45/1 (1994), S. 1–33.
  11. Siehe Heinrich Popitz, Epochen der Technikgeschichte, in: ders.: Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft, Tübingen 1995, S. 13–43; Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie, Weilerswist 2011, S. 686 ff.; Ray Kurzweil, The Age of Spiritual Machines. How We Will Live, Work and Think in the New Age of Intel-ligent Machines, London 1999; ders., The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2006; Yuval Harari, Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, London 2017.
  12. Siehe Maxime Aubert u.a., Earliest Huntig Scene in Prehistoric Art, in: Nature 576 (2019), S. 442–445.
  13. Vgl. John Pfeiffer, The Creative Explosion, New York 1982; April Nowell, Defining Behavioral Modernity in the Context of Neandertal and Anatomically Modern Human Populations, in: Annual Review of Anthropology 39 (2019), S. 437–452; Merlin Donald, An Evolutionary Approach to Culture. Implications for the Study of the Axial Age, in: Robert N. Bellah / Hans Joas (Hg.), The Axial Age and its Consequences, Cambridge 2012, S. 47–76.
  14. Miriam N. Haidle u.a., The Nature of Culture: an Eight-Grade Model for the Evolution and Expansion of Cultural Capacities in Hominins and Other Animals, in: Journal of Anthropological Sciences 93 (2015), S. 43–70.
  15. Vgl. Steven Mithin, A Creative Explosion? Theory of Mind, Language and the Disembodied Mind of the Upper Paleolithic, in: ders. (Hg.), Creativity in Human Evolution and Prehistory, London 1998, S. 165–191.
  16. Vgl. Merlin Donald, The Exographic Revolution: Neuropsychological Sequelae, in: Colin Renfrew / Lambros Malafouris (Hg.), The Cognitive Life of Things. Re-casting the Boundaries of the Mind, Cambridge 2010, S .71–79.
  17. Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1981, S. 316.
  18. Vgl. Löffler, Generative Realitäten, S. 251–265.
  19. Vgl. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen.
  20. Siehe Günter Dux, Von allem Anfang an: Macht, nicht Gerechtigkeit. Studien zur Genese und historischen Entwicklung des Postulats der Gerechtigkeit, Weilerswist 2009, S. 86–123.
  21. Siehe Othmar F. Fett, Der undenkbare Dritte. Vorsokratische Anfänge des eurogenen Naturverhältnisses, Tübingen 2000, insb. Teil IV.
  22. Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt am Main 1982, S. 135.
  23. Vgl. Serge Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt am Main 1980.
  24. Siehe Eske Bockelmann, Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springer 2004, S. 279–359.
  25. Axel T. Paul, Vom Zählen und Zahlen. Über die mittelalterlich-monetären Ursprünge der mathematischen Naturwissenschaften, in: Mittelweg 36 28/3-4 (2019), S. 186–226.
  26. Vgl. Löffler, Generative Realitäten, S. 497–518, 528–556; zur Zentralperspektive vgl. insb. Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008.
  27. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, Hamburg 1998 [1787], S. B XIII.
  28. Löffler, Generative Realitäten, S. 518 f.
  29. Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.
  30. Popitz, Epochen der Technikgeschichte, S. 16 f.
  31. Siehe Löffler, Generative Realitäten, S. 559–593.
  32. Siehe Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2008.
  33. Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Politische Theorie und Ideengeschichte Philosophie Anthropologie / Ethnologie Gesellschaftstheorie Moderne / Postmoderne

Axel T. Paul

Professor Dr. Axel T. Paul lehrt Allgemeine Soziologie an der Universität Basel. Sein derzeitiges Hauptarbeits- und Forschungsgebiet ist Gellschaftsgeschichte.

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