Jonathan Kropf | Rezension |

Kontrollierte Verbindungen

Rezension zu „Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten“ von Michael Seemann

Abbildung Buchcover Die Macht der Plattformen von Seemann

Michael Seemann:
Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten
Deutschland
Berlin 2021: Ch. Links
448 S., 25,00 EUR
ISBN 978-3-96289-075-9

Die gegenwärtige Digitalisierungsforschung sowie ein breiter öffentlicher Diskurs drehen sich immer stärker um den Begriff der „Plattform“.[1] Plattformen gelten in vielen Bereichen mittlerweile als mächtige Infrastrukturen,[2] die wesentlich zur „Kuratierung von Sozialität“[3] beitragen oder ganze Märkte unter ihre Regie bringen.[4] Michael Seemann scheint mit seinem Buch Die Macht der Plattformen, das als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen wurde, also offene Türen einzurennen. Allerdings – so könnte man Seemann paraphrasieren – ist die Omnipräsenz des Plattformbegriffs seiner inhaltlichen Präzision eher abträglich:

„Was […] fehlt, ist eine Plattformtheorie, die über die spezifischen Einzelbetrachtungen der jeweiligen Fächer hinausgeht und sie gleichzeitig integriert […]. Es fehlt darüber hinaus eine systematische Auseinandersetzung mit der Macht der Plattformen: wie sie entsteht, wie sie agiert, wie ihre Mechanismen und Strategien funktionieren, wie sie Kontrolle ausübt und wie sie das politische und ökonomische Vorgehen der Plattform determiniert.“ (S. 15)

Die aufgezählten Desiderate möchte Seemann in seinem Buch in gleichzeitig systematischer wie historisch fundierter Art und Weise angehen.

Die ersten beiden Kapitel sollen dabei als theoretische Basis dienen, bevor Seemann in späteren Kapiteln Fragen von Macht und Kontrolle sowie die politischen und ökonomischen Folgen der Macht der Plattformen behandelt. Ausgehend von der allgemeinen Feststellung, dass Plattformen spezifische Orte („Erhebungen“) des Austauschs oder der Interaktion sind, entwickelt Seemann im ersten Kapitel in mehreren Schritten (vgl. S. 21 ff.) eine integrative und damit notwendig abstrakte Plattformdefinition : „Plattformen sind erwartete Vorselektionen potentieller Verbindungen, die unerwartete Anschlussselektionen konkreter Verbindungen wahrscheinlicher machen.“ (S. 31)

Plattformtypen und ihre Funktionsweisen

Die ermöglichende Funktion, die Plattformen im Hinblick auf Verbindungen im weitesten Sinne haben, geht stets mit spezifischen „Affordanzen“ (S. 16) einher, die die Art und Auswahl der Verbindung beeinflussen. Seemann nennt denkbar weite Beispiele: „Standards sind Plattformen“ (S. 53), „Sprachen sind Plattformen“ (S. 65) und sogar den Kapitalismus in seiner Gesamtheit könne man als Plattform verstehen (vgl. S. 311). Der Mehrwert einer derart umfassenden Definition liegt aus Sicht des Rezensenten weniger in der Eingrenzung des Gegenstands als im spezifischen Blickwinkel, den sie ermöglicht.

Die Frage nach Macht und Kontrolle ist argumentationsleitend für Seemanns Plattformtypologie. Schnittstellenplattformen definieren die „Anbindungen eines Systems mit seinen Subsystemen“ (S. 35). Auseinandersetzungen oder „Kriege“, wie Seemann es nennt, werden in diesem Fall vor allem darüber ausgetragen, „wer Schnittstellen definieren und den Zugang dazu kontrollieren kann“ (S. 35). Protokollplattformen, wie die des World Wide Web (HTTP, TCP/IP), zeichnen sich nach Seemann dadurch aus, dass sie nicht System und Subsystem verbinden, sondern „völlig verschiedene Systeme miteinander kommunizieren […] lassen“ (S. 39). Die großen Plattformunternehmen, die den aktuellen Diskurs beherrschen (z.B. Google, Apple, Facebook und Amazon), fallen in der Typologie Seemanns schließlich in die Kategorie der Diensteplattformen. Sie „organisieren […] Interaktion vornehmlich durch die Distribution von Dateneingabemöglichkeiten (über Apps und/oder Websites) und die Zentralisierung der Datensammlung und -verarbeitung“ (S. 42). Darüber hinaus zwingen sie ihren Nutzer:innen „Verbindungen einfach auf […] – wie zum Beispiel die Verbindung zwischen Mensch und Werbeanzeige“ (S. 45).

Plattformen weisen meist eine historisch gewachsene Schichtstruktur auf, bei der Plattform auf Plattform aufbaut beziehungsweise Plattformen sich gegenseitig als Infrastruktur dienen.

Unter den Stichworten „Koordination und Infrastruktur“ buchstabiert Seemann im zweiten Kapitel (S. 49 ff.) die Funktionsweise von Plattformen weiter aus. Indem Plattformen den Austausch ermöglichen, lösen sie Koordinationsprobleme. So sei es maßgeblich für den Aufstieg und Erfolg von Diensteplattformen, dass sie in der Lage seien, Koordinationsleistungen über spezifische Datenbankabfragen (sog. „Querys“) zu automatisieren (S. 84). Ohne genauer auf die einzelnen Stationen eingehen zu können, die Seemann – wie auch im Rest des Buches – kenntnisreich mit Anekdoten aus der Technikgeschichte und mit Hintergrundwissen aus der Computer- und Internettechnik anreichert, möchte ich die „vertikale Iteration“ (S. 73) von Plattformen als eine zentrale Erkenntnis des Kapitels festhalten. Plattformen weisen demnach meist eine historisch gewachsene Schichtstruktur auf, bei der Plattform auf Plattform aufbaut beziehungsweise Plattformen sich gegenseitig als Infrastruktur dienen (vgl. S. 72).

Kumulative Netzwerkmacht durch aufaddierte Entscheidungen

Ab dem dritten Kapitel (S. 87 ff.) konzentriert sich Seemann auf die Frage der Macht, wenn er die viel zitierten Netzwerkeffekte mit David Singh Grewals[5] Begriff der „Netzwerkmacht“ (network power) weiterdenkt. Es handelt sich dabei um eine Form der Macht, die auf dem Durchsetzen von Standards basiert und sich kumulativ verhält: Je verbreiteter ein Standard ist, desto eher kann er sich, mehr oder weniger stillschweigend, etablieren. Anfangs mögen wir Standards aufgrund ihrer intrinsischen Eigenschaften wählen, sobald sie sich aber als dominant durchsetzen, gewinnen ihre extrinsischen Eigenschaften an Gewicht. So kann ich mich durchaus für einen anderen Messenger-Dienst als den am weitesten verbreiteten entscheiden, das hat jedoch zur Folge, dass ich viele Menschen darüber nicht erreiche und dass ich selbst schwer erreichbar bin (vgl. S. 106 f.).

Nach Grewal (und Seemann) entsteht Netzwerkmacht vor allem über „aufaddierte Entscheidungen“ (S. 108). Meine Entscheidungen sind von den Entscheidungen anderer geprägt und wirken sich wiederum strukturierend auf die Wahl der anderen aus. Es handelt sich bei der Durchsetzung eines Standards also um den kollektiven Prozess einer Gruppe, die sich allerdings erst im Zuge dieser Durchsetzung als solche konstituiert (vgl. S. 108 f.). Die Netzwerkmacht adressiert die Träger:innen der aggregierten Einzelentscheidungen – hier folgt Seemann Gilles Deleuze – nicht mehr als (staatsbürgerliche) Individuen (im wörtlichen Sinne: Unteilbare), sondern als Dividuen. Letztere sind in erster Linie Merkmalsträger:innen von Eigenschaften, die sie mit anderen gemeinsam haben, sodass sie darüber zusammengefasst und als spezifische Zielgruppen angesprochen werden können (vgl. S. 113 ff.).

Aufbau und Ausweitung von Kontrolle

Auf der so zustande kommenden Netzwerkmacht bauen in der Theorie Seemanns wiederum verschiedene Kontrollregimes auf (Kapitel 4).[6] Regimes versteht Seemann als „implizite und explizite Regularien, die mitbestimmen, was auf einer Plattform möglich ist oder wahrscheinlich gemacht wird“ (S. 119). Weil, wie oben erläutert, Plattformen stets auf anderen Plattformen aufbauen, nur um selbst zur Plattform weiterer Plattformen zu werden, implementieren „alle Plattformen ein Infrastrukturregime“ (S. 123). Infrastrukturen sind die „akkumulierten Standards, Vorselektionen, Pfadentscheidungen, Klassifikationssysteme, die Plattformen strukturieren und damit vorgeben, wie wir mit ihnen interagieren“ (S. 122). Während Infrastrukturregimes dazu neigen, ihre eigenen Designentscheidungen zu invisibilisieren und zur Selbstverständlichkeit zu werden, sind Zugangsregime meist offensichtlicher, geht es hier doch um die „Fähigkeit zu bestimmen, wer Zugang zur Plattform bekommt und wer nicht“ (S. 125).

Spezifisch für Diensteplattformen sind die sogenannten Query-Regimes. Eine Query ist eine „Selektionsleistung der Verbindung im Auftrag“ beziehungsweise schlicht die „Abfrage einer Datenbank“ (S. 78). Durch algorithmische Vorselektionen priorisieren die Plattformen bestimmte Inhalte und zeigen beispielsweise Suchergebnisse in einer sich danach richtenden Reihenfolge an (vgl. S. 130), ohne dass dies für die Nutzer:innen einsichtig und nachvollziehbar wäre. Das Interface-Regime (S. 136 ff.) betrifft die Designentscheidungen an der unmittelbaren Schnittstelle zu den Nutzer*innen und beeinflusst darüber deren Verhalten. Beispiele für das Verbindungsregime (vgl. S. 138 ff.) sind direkte moderierende Eingriffe in Kommunikationen innerhalb sozialer Netzwerke, etwa um Fake News oder Hetze zu verhindern. Darunter fallen zum Beispiel auch Sperrmöglichkeiten, mit denen Nutzer*innen eigenständig andere User*innen blockieren können. Beim Graph-Regime (vgl. S. 140 ff.) stehen schließlich konkrete Verbindungen im Mittelpunkt. Graphen sind Repräsentationen von Netzwerken in Form von Meta- oder Verbindungsdaten. Im Rahmen von Targeting oder Personalisierung verwendet man Graphen, um Verbindungen nachzuvollziehen, wertvolles Wissen über die Netzwerke zu erhalten und gezielte Ansprachen zu ermöglichen.

Im fünften Kapitel (S. 145 ff.) analysiert Seemann verschiedene horizontale und vertikale „Strategien der Graphnahme“, mit denen Plattformen nach „Infrastrukturhegemonie“ (S. 147), das heißt nach größtmöglicher Netzwerkmacht und „Plattformsouveränität“ (S. 149) streben, um so ihre Kontrollmöglichkeiten auszuweiten. Dem Autor gelingt es hier auf überzeugende Weise, mit seinem begrifflichen Instrumentarium die Expansionsbestrebungen insbesondere der heute dominanten Diensteplattformen zu beschreiben, zu erklären und so der differenzierten Betrachtung zugänglich zu machen.

Regulierungsparadox und Übergangsregierung

Kapitel 6 (S. 191 ff.) ist der „Plattformpolitik“ gewidmet. Dabei geht es sowohl um die politischen Entscheidungen im Innern der Plattformen als auch um das Verhältnis der Plattformen zu anderen Instanzen. Seemann zufolge interessieren sich beispielsweise Staaten vor allem deswegen für Plattformen, weil diese die Möglichkeit besitzen, Kommunikationen zwischen Nutzer:innen zu moderieren und – durch die oben beschriebenen Query-Regimes – zu beeinflussen (vgl. S. 228 f.). Dabei komme es häufig zu einem „Regulierungsparadox“: „Die Macht der Plattformen wächst in dem Maße, wie die ihr zugewiesene Regulierungskompetenz steigt. Politiker*innen, die glauben, die Macht der Plattformen durch Regulierung einzuschränken, tun in Wirklichkeit meist das genaue Gegenteil.“ (S. 231)

Die klassischen Elemente des Kapitalismus – Eigentum, Produktivität aus Arbeit und marktförmige Steuerung von Ressourcen (vgl. S. 277) – greifen nicht mehr in gewohnter Art und Weise.

Neben der Politik ist die „politische Ökonomie“ (S. 275 ff.) das zweite Anwendungsfeld, an dem Seemann die Folgen der Plattformmacht durchspielt (Kapitel 7). Jenseits der rivalisierenden Großthesen eines „digitalen Postkapitalismus“ (S. 277 ff.) oder eines „digitalen Hyperkapitalismus“ (S. 287 ff.) wähnt uns Seemann gegenwärtig in einem „Interregnum“ (S. 304), in dem die klassischen Elemente des Kapitalismus – Eigentum, Produktivität aus Arbeit und marktförmige Steuerung von Ressourcen (vgl. S. 277) – nicht mehr in gewohnter Art und Weise greifen: „Dabei sind es die veränderten Machtdynamiken, nicht die veränderten Produktionsverhältnisse, die den Wesenskern der neuen politischen Ökonomie der Plattformen ausmachen.“ (S. 305)

Das Buch endet mit einem Epilog (S. 335 ff.), in dem Seemann anhand der exemplarischen Analyse der Musikplattform Spotify sein gesamtes theoretisches Instrumentarium präsentiert sowie dessen Anwendbarkeit demonstriert. Im Anschluss formuliert er zehn Prognosen hinsichtlich der weiteren Entwicklung digitaler Plattformen (S. 352 ff.), bevor er einige Handlungsempfehlungen gibt, wie die Macht der Plattformen begrenzt, aber auch wie sie im Kampf gegen die Klimakrise ins Positive gewendet werden kann (S. 371 ff.).

Michael Seemann hat in gewisser Weise ein hybrides Werk vorgelegt: Einerseits weist das Buch einen wenig akademischen, teilweise anekdotischen und gut lesbaren Stil auf, der vermuten lässt, dass es mit Blick auf ein breiteres Publikum geschrieben wurde. Andererseits muss sich die Arbeit als Dissertation auch an wissenschaftlichen Standards und Konventionen messen lassen. Gerade in dieser Hinsicht entsteht in Teilen der Eindruck mangelnder Tiefenschärfe – etwa wenn der Autor sich eher kursorisch als systematisch auf verschiedene theoretische Schwergewichte (Luhmann, Foucault, Gramsci, Deleuze etc.) bezieht. Wer sich daran nicht stört, stößt auf ein beeindruckendes Maß an Detailkenntnis und bekommt hilfreiche Differenzierungen an die Hand, die dazu beitragen, Machtverhältnisse und -strategien im Digitalen besser zu verstehen. Unterm Strich ist Die Macht der Plattformen ein Buch, das dazu geeignet ist, nicht nur der Digitalisierungsforschung, sondern auch der Politik neue Impulse zu geben.

  1. Vgl. Nick Montfort / Ian Bogost, Racing the Beam. The Atari Video Computer System, Cambridge, MA 2009. Der Titel ist der erste der Reihe platform studies der MIT Press, in der mittlerweile zwölf Bücher erschienen sind.
  2. Jean-Christophe Plantin / Carl Lagoze / Paul N. Edwards / Christian Sandvig, Infrastructure Studies Meet Platform Studies in the Age of Google and Facebook, in: New Media & Society 20 (2018), 1, S. 293–310.
  3. Ulrich Dolata, Plattform-Regulierung. Koordination von Märkten und Kuratierung von Sozialität im Internet, in: Berliner Journal für Soziologie 29 (2019), 3–4, S. 179–206.
  4. Philipp Staab, Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin 2019.
  5. David Singh Grewal, Network Power. The Social Dynamics of Globalization, New Haven, CT 2008.
  6. Seemann ordnet die Regimes danach, ob sie eine sogenannte Level-I- oder Level-II-Kontrolle ausüben, das heißt ob sie vorwiegend auf der infrastrukturellen Ebene Verbindungen kanalisieren oder ob sie auch konkrete Verbindungen beeinflussen können (vgl. S. 32 f. und S. 117 ff.).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Gruppen / Organisationen / Netzwerke Politik Technik

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Jonathan Kropf

Dr. Jonathan Kropf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Projekt „Faire digitale Dienste: Ko-Valuation in der Gestaltung datenökonomischer Geschäftsmodelle“ (FAIRDIENSTE) am Fachgebiet Soziologische Theorie in der Fachgruppe Soziologie der Universität Kassel.

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