Karin Westerwelle | Essay |

„La fausse monnaie“

Zur Ökonomie von Sprache und Geld bei Charles Baudelaire

Als der vermögende Immobilen-, Fabrik- und Aktienbesitzer Dambreuse kurz nach der 1848er Revolution stirbt, überführt man den Toten im pompösen Leichenzug auf den Pariser Friedhof Père-Lachaise. Dort prasselt dann die „Erde, mit Steinen vermischt“ auf seinen Sarg nieder – und lakonisch abschließend kommentiert der Erzähler in Flauberts Éducation sentimentale, den Lehrjahren des Herzens, die Grablegung mit vernichtender Kühle: „und es sollte von ihm auf dieser Welt keine Rede mehr sein“.

Über den Tod hinaus hat der kapitalistische Akteur für die Nachwelt keine Bedeutung mehr, er stiftet keine kulturelle Memoria. Im ironischen, mit Rache unterlegten Tonfall hält der Erzähler durch seine pointierte Formulierung die Beschränktheit irdischer Existenz und ihrer inhumanen Geistlosigkeit fest. Wenn auch der Anfang von Kultur und ihre Ausdifferenzierung notwendig an ökonomischen Überfluss gebunden sind, so stehen Geist und Kapital in Flauberts 1869 veröffentlichtem Roman nicht nur in produktiver Dynamik zueinander, sondern auch im Verhältnis des Ausschlusses.

Eine ähnliche Nivellierung des Humanen durch die Praxis des Geldes stellt – wie wir sehen werden – der Dichter Charles Baudelaire in der kurzen, äußerst konzentrierten Prosaerzählung La fausse monnaie, „Das Falschgeld“, heraus. Das Prosagedicht beleuchtet unter der Prämisse des Falschen und der scheinheiligen Täuschung das Verhältnis von Geld und (dichterischer) Sprache. Der Einsatz einer gefälschten Münze als Gabe an einen Bettler offenbart insofern das Böse, als dadurch alle menschlichen und ethischen Lebensverhältnisse dem Profit untergeordnet und damit eingeebnet werden. Dagegen erscheinen dichterische Fiktion und Imagination als Potenzen, die lebenswichtige Fragen stellen, Hypothesen aufwerfen, Paradoxa und Differenzen konstruieren. Der grüblerisch-melancholische Charakter des Erzählers präsentiert hypothetische Fallgeschichten, er erfindet innovativ erzählerische Konstellationen menschlicher Begegnungen, die wiederum gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in den Blick rücken. Im Zentrum von La fausse monnaie steht also nichts weniger als das Verhältnis von Geld und Sprache.[1]

Der Verkaufswert von Literatur

Die große französische Romanliteratur des 19. Jahrhunderts beschreibt und analysiert finanzielle Dynamiken großstädtischer Welt, sie diagnostiziert Habgier und Geiz als besondere Lebensformen des ökonomisch geschickten und zugleich skrupellos agierenden Menschen. Die Romane von Honoré de Balzac, Gustave Flaubert oder Émile Zola durchleuchten die Sprache des Geldes, die Technik des Pfandbriefes und den Aktienhandel; sie typisieren die Figur des Wucherers, des Spekulanten und Bankiers, sie erfassen aber auch das Komplement der Reichen, den Bettler und den Lumpensammler, den chiffonnier, in Paris. Den zeitgenössischen Leser schockierend und für den heutigen Leser faszinierend, drang der Stoff des Geldes unerbittlich in die Erzählplots der realistischen Literatur und in die Lyrik Baudelaires ein.

Nicht alle Literaten oder Künstler gehörten in der bürgerlichen Epoche zur brotlosen Bohème. Einige Schriftsteller erzielten hohe Gewinne mit ihrer literarisch-künstlerischen Produktion, andere Künstler führten Auftragskunst aus, die beispielsweise von den hohen Verwaltungsbeamten des Zweiten Kaiserreichs reich entlohnt wurde. Zu den Schriftstellern, die mit ihren Theaterstücken und Romanen auch ökonomisch überaus erfolgreich waren, zählte der mit Baudelaire bekannte Dichter, Theater- und Romanautor Victor Hugo. Als dieser 1885 starb, hinterließ er ein Vermögen von ungefähr sieben Millionen Francs. Ähnlich erfolgreich erwirtschaftete der für Witz und Leichtigkeit anerkannte Autor des Boulevardtheaters Eugène Scribe durch seine Theaterstücke beträchtliche Geldsummen, die für seine Lebens- und Schaffenszeit bis 1856 auf 5.750.000 Francs beziffert wurden.[2]

Der bedeutende Fotograf und Freund Baudelaires Nadar, der zunächst in Paris zur armselig hungernden Bohème gehörte, verdiente schließlich als begabter Porträtfotograf ausreichend Geld, sodass er sich in den 1860er-Jahren ein großes Atelier am Boulevard des Capucines leisten konnte. Auch der Dichter und Kunstkritiker Charles Baudelaire träumte zeitweilig davon, durch Theaterprojekte seine finanzielle Lage gänzlich zu sanieren. Baudelaire wusste natürlich, dass sich seine Lyrik und seine Literaturkritik oberflächlicher Lektüre verweigerten und er nicht für ein Massenpublikum schrieb. An seinem Erfolg in der Nachwelt hatte er allerdings keine Zweifel.

Am eigenen Leib erfuhr Baudelaire Reichtum und Armut. Als junger Mann kam er mit seiner Volljährigkeit am 9. April 1842 in den Besitz des von seinem leiblichen Vater Joseph-François Baudelaire (1759–1827) geerbten Vermögens, er gab in Paris viel Geld aus und unterschrieb Wechsel oder Schuldscheine für Kleidung, Kunstwerke und Möbel. Aus dem väterlichen Vermächtnis verkaufte Baudelaire 1842 Aktienanteile und Immobilien im Pariser Vorort Neuilly. Der mit ihm befreundete Dichter Théodore de Banville schildert in seinen Erinnerungen eine Lebensperiode, als der vermögende Baudelaire, extrêmement riche, eine Wohnung exquisiter Möbel besaß, die er nach je neuen Entdeckungen austauschte und wiederverkaufte. In nur zwei Jahren soll der junge Baudelaire 50.000 Goldfranken ausgegeben haben.

Um der leichtfertigen Verschwendung des Vermögens vorzubeugen, setzte der Familienrat unter Verantwortung der Mutter Baudelaires, Caroline, und ihres zweiten Ehemanns, des späteren Generals Jacques Aupick, 1844 einen juristischen Rat ein (conseil judiciaire). Baudelaire wurde rechtlich entmündigt, er konnte also nicht mehr eigenständig über sein Erbe verfügen und hatte genauso wenig das Recht, selbstständig Verträge abzuschließen. Ein juristischer Vormund, der Familienanwalt und Notar Narcisse-Désiré Ancelle, wurde für die Geldgeschäfte Baudelaires und die Verwaltung der dem jungen Mann zugemessenen Rente von monatlich 200 Francs eingesetzt.

Sein Leben lang empfand Baudelaire die Entmündigung (interdiction) als Kränkung und gravierende Entehrung seiner Person. Einer der scharfsinnigsten Diagnostiker der bürgerlichen Gesellschaft wurde von ihrer Justiz als unmündig erklärt. Nach dem Tod Baudelaires verwaltete Ancelle Baudelaires Nachlass, er zahlte die mit dem Schriftsteller befreundeten Gläubiger aus und prozessierte mit Erfolg gegen einen der Hauptgläubiger, der im Besitz von hohen Schuldscheinen war.

Baudelaires Existenz war in Sachen Geld – liest man seine Korrespondenz – ein Alptraum. Offensichtlich konnte er nicht gut mit seinem Einkommen haushalten. Da er mit seinen Veröffentlichungen von Gedichten und Prosakritiken in der zeitgenössischen Presse nur geringe Summen verdiente, überstiegen seine Ausgaben beständig seine Einnahmen. Dennoch war Baudelaire trotz Schulden und immer wieder hinausgeschobener Fristen zu tilgender Schuldscheine kreditwürdig, denn zeitlebens unterstützte ihn seine Mutter, die nach dem Tod des General Aupick (1857) über eine solide Witwenrente verfügte, mit hohen Geldzuwendungen. Sie beglich auch die drängenden Forderungen der Gläubiger.

In ständiger Suche nach Geld, in der Obsession, angehäufte Schulden begleichen zu müssen, der Pein der Verfolgung durch Gläubiger ausgesetzt, wechselte Baudelaire in Paris ständig seine Wohnungen oder lebte unstet über lange Jahre in einem Hotel in der Rue d’Amsterdam. Seine gänzlich unbürgerliche Lebenssituation streifte die Armutsgrenze: Kalte Wohnungen, die er nicht heizen konnte, ohne Mobiliar, erst recht ohne Bibliothek, gehörten zu seinem Lebensalltag als Dichter und Kunstkritiker. Sein Briefwechsel ist geprägt von ständigen Bittgesuchen an die Mutter, sie möge ihm Geld vorstrecken und dringliche Schulden für ihn bezahlen. Den Freunden – dem Fotografen Nadar, dem Maler Édouard Manet, dem Verleger Auguste Poulet-Malassis – schuldete Baudelaire zeitlebens größere oder kleinere Summen. Seine Honorare für Beiträge in Zeitungen verpfändete er schon im Voraus.

Baudelaires Aufenthalt in Brüssel seit April 1864, der bereits an sein Lebensende fiel, war der desolaten finanziellen Situation in Paris geschuldet. Dem mittellosen Dichter war die französische Hauptstadt unerträglich geworden. Ende Dezember 1863 hatte er eine Uhr im Pfandhaus, dem Mont-de-Piété in Paris, versetzt, die er noch im Januar 1865 von Brüssel aus über Ancelle auszulösen hoffte. Trotz finanzieller Misserfolge in Brüssel – seine Vorträge brachten nur wenig Geld ein, belgische Verleger hatten kein Interesse an einer Gesamtausgabe seines Werks – schien es ihm unmöglich, an eine Rückkehr nach Paris zu denken. Dafür wäre viel Geld nötig gewesen: je ne peux pas traverser Paris sans distribuer de l’argent“ („ich kann Paris nicht durchqueren, ohne Geld zu verteilen“), schrieb er am 20. Juni 1864 an seine Mutter.[3]

Sortieren und Beobachten

In seiner Lyrik, den 1857 (und 1861 mit einer neuen Sektion) erschienenen Fleurs du mal, wie in seinen Prosagedichten, die unter dem Titel Spleen de Paris postum verlegt wurden, richtet sich Baudelaires Blick auf die Pariser Welt und die Analyse der Erscheinungsformen städtischer Zivilisation, die jenseits der Oberfläche von schönen Straßen, Häusern, Palästen oder Monumenten liegen. Mehr als materielle Ansichten von Paris interessieren den Dichter Sitten und Gebräuche des großstädtischen Menschen. Dazu gehören Leidenschaften und Laster, das Verborgene und Unsichtbare sowie flüchtige Erscheinungen. Pauperismus, Prekarität und bürgerliche Hypokrisie bilden zentrale Themen der Gedichte und Prosagedichte Baudelaires. Neue Figuren und Typen halten auf hoher Abstraktionsebene Einzug in die Literatur. Dazu gehören die verarmte Muse, die Prostituierte, der Lumpensammler, ärmlich lebende Witwen, der exilierte Jahrmarktskünstler sowie die in der Stadt vagabundierenden Armen – Kinder und Erwachsene – überhaupt.

Baudelaires Sprache ist grundsätzlich ironisch unterwandert, sie vertraut nicht auf die Möglichkeit direkter Mitteilung und transparenter Bedeutung. Die kurzen Prosastücke des Spleen von Paris zeigen auf den ersten Blick charakteristische Szenen und Situationen großstädtischer Begegnungen von typisierten Figuren auf dem Boulevard oder auf Pariser Plätzen; die knappen, aber konzentrierten Stücke bebildern auch Träume, Wunschvorstellungen oder Fantasien des Menschen. Baudelaires Darstellung geht aber über eine Pariser Sozialtypologie weit hinaus, weil er – wie Leser bei genauerer Lektüre erkennen – selbstverständliche Alltagspraxis oder konventionelle Deutungen methodisch und auf extrem kalkulierte Weise in Frage stellt. Das Mittel der szenenhaften Durchleuchtung städtischer Welt liegt in Baudelaires Sprachakrobatik.

Ein exzellentes Beispiel für Baudelaires sprachkünstlerische und analytische Durchdringung des Verhältnisses von Geld und Wort sowie von Ethik und Ästhetik gibt das eingangs angeführte Prosagedicht La fausse monnaie.[4] Es erschien zum ersten Mal 1864 in der Zeitschrift L’Artiste; im 20. Jahrhundert regte es unter anderem Jacques Derrida zu einem Kommentar an.[5] Baudelaires kurzes, überaus komplexes Prosastück nimmt eine charakteristische Szene der Pariser Straßenöffentlichkeit auf, aber es provoziert eine geradezu unabschließbare Fülle von Fragen,[6] denen sich auch heutige Leserinnen und Leser in einer historischen Situation kommerzialisierter Welt und ökonomisierten Wissens gegenübersehen.

Die von Baudelaire imaginierte Szene handelt davon, dass eine falsche Münze als Almosen an einen Bettler verschenkt und damit erneut in Umlauf gebracht wird. Durch die imaginativen Vorstellungen und hypothetischen Überlegungen, die ein als erfinderisch-grübelnder Typus vorgestellter Erzähler über die Praxis des Falschgeldes anstellt, taucht der Leser keineswegs in eine durch Schein und Täuschung verstellte fiktionale Welt des trügerisch Irrealen ein. Im Gegenteil: Erst die Überlegungen und Hypothesen des Erzählers, der mögliche szenisch-theatralische Verwicklungen durchspielt, in die der Bettler aufgrund des Falschgelds geraten könnte, führen die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Funktionen des Falschgeldes in ihrer zwischenmenschlichen Verwicklung und Drastik vor Augen. Das Erfindungsvermögen des Erzählers steht damit einer sich im bloßen Akt der Vorteilsnahme erschöpfenden leeren und scheinhaften Geldpraxis gegenüber.

Die großstädtische Szene des Dialogs und das Changieren von Außenansicht der Handlung und reflexiver Innenansicht stellen sich folgendermaßen dar: Zwei Protagonisten, der Ich-Erzähler und ein Freund, kommen gemeinsam aus einem Tabakbüro. Während der Freund sein Wechselgeld sorgfältig nach Gold- und Silbermünzen sowie kleineren Metallmünzen wie in eine Registrierkasse den unterschiedlichen Taschen seiner Kleidung einsortiert, wundert sich der Erzähler bei sich über die seltsam akkurate Verteilung der Münzen, die der Freund vornimmt. Dem gründlichen Geldsortierer tritt von Beginn an die Figur des präzisen Beobachters und melancholischen Denkers gegenüber. Daraufhin begegnet den beiden Männern – wie im Pariser Straßenbild realistisch vorstellbar – ein Bettler, der ihnen zitternd seine Mütze entgegenhält.

Während der Erzähler in die Augen des Bettlers sieht und beginnt, über den Ausdruck von bettelnden Augen im Allgemeinen, deren „Beredtsamkeit“ zwischen Ergebenheit und Vorwürfen schwanke, zu reflektieren, stellt sich heraus, dass die Opfergabe (offrande) des Freundes sehr viel beträchtlicher als diejenige des Erzählers ausgefallen ist. Dieser kommentiert den Akt der Gabe des Freundes zunächst in direkter Rede und hebt bestätigend hervor, dass es ein Vergnügen sei, überrascht zu werden, und ebenso ein Vergnügen darin bestünde, eine Überraschung zu produzieren. Im Französischen ist hier von plaisir (also nicht von ‚Freude‘) die Rede, im Zusammenhang mit der „Überraschung“ rückt der Begriff in die Nähe eines ästhetischen Vergnügens, in dem hintergründig durchaus sadistische Komponenten mitschwingen. Der Erzähler bekommt nunmehr die ruhig vorgebrachte, einsilbige Erklärung zu hören, dass es sich bei der Silbermünze im Wert von zwei Francs um Falschgeld handele: „‚C’était la pièce fausse‘“. Es entsteht dabei der Eindruck, als würde der Freund die eigene übermäßige Freigebigkeit, seine prodigalité, rechtfertigen wollen, derart ungewöhnlich erscheint folglich die Praxis, einem Bettler eine größere Münze zu geben.

Ein kalkulierender Erzähler

Der Erzähler beginnt nun aufs Neue, geistig-imaginativ über die ökonomische Spekulation des Freundes, die großzügig falsche Gabe, zu spekulieren. Zunächst setzt er sich selbst durch eine geflügelte Sentenz (chercher midi à quatorze heure) als vertrackten, am Paradoxen interessierten Charakter ins Unrecht, so als wären alle im Folgenden angestellten Überlegungen zum Handlungsvorfall an den Haaren herbeigezogen, so als würden sie auf imaginativem Schein und literarischem Trug beruhen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der Erzähler kommt sofort zu dem Urteil, dass die Handlung des Freundes nur dann zu entschuldigen wäre, wenn hinter seinem scheinheiligen Verhalten eine Art Experiment und tatsächliches Erkenntnisinteresse auszumachen wären. Das Falschgeld in der Hand des Bettlers – anders gesagt, ein vorgetäuschter Reichtum in der Hand eines sozial marginalisierten Armen – müsste, so die Hypothese des Erzählers, Anfänge von Handlungen und neue Geschichten erzeugen: Die falsche Münze könnte den Bettler ins Gefängnis bringen; ein Bäcker oder ein Schankwirt – an diese Orte des Brotverkaufs und des Alkoholkonsums würde sich der Bettler, gesellschaftlich stereotyper Einschätzung entsprechend, vermutlich als erstes begeben – könnte den Bettler der Falschmünzerei bezichtigen; der Bettler könnte auch einfach für einige Tage ohne weitere Dramatik über ein annehmliches Vermögen verfügen.

Doch der Erzähler wird schließlich von seinem Freund in seinen Träumereien und Spekulationen, neue Handlungen und Situationen zu erfinden, wiederum unterbrochen. Der Freund stimmt nun scheinbar der anfänglich gemachten Hypothese zu, dass tatsächlich kein süßeres Vergnügen existiere, als einen Menschen damit zu überraschen, ihm mehr zu geben, als dieser eigentlich für sich erhoffte. Auf der einen Seite definiert der Freund damit die Gabe als einen Überschuss gegenüber der Erwartungshoffnung. Auf der anderen Seite hat der Freund den Erzähler offenbar nicht richtig verstanden, denn mit seiner Aussage verwandelt er einen präzise spekulativen Aussagesatz über das ästhetische Vergnügen der (auch bösen) Überraschung in ein religiös-erbaulich süßes Vergnügen über ein Mehr an ökonomischer Zuwendung.

Im Gebrauch und im Diskurs, das heißt dem Hin- und Herlaufen der Rede, wurde die Aussage des Erzählers umgedeutet und verfälscht. Denn der Erzähler sprach von dem Vergnügen an der Überraschung, der Freund spricht dagegen von einem „Mehr-Geben“ (donnant plus), das ein höchst süßes Vergnügen (un plaisir plus doux) verschafft. Tatsächlich jedoch hat der Freund nicht mehr, sondern mit der Falschmünze weniger als eine minimale Gabe gespendet; zugleich unterschlägt er oder lässt unberücksichtigt, dass in seinem süßen Vergnügen tatsächlich eine böse Lust steckt.

Die Aussage des Freundes mag allgemein wahr sein, hier beruht sie situativ auf einer Lüge hinsichtlich der (falschen) Spende und hinsichtlich der emotionalen Empfindung. Die Worte des Spenders sind folglich auf zweifache Weise lügnerisch falsch und usurpatorisch. Noch einmal kommentiert der Erzähler das Vorgefallene, nunmehr indem er direkt und tief in die Augen des Freundes – wie zuvor in die Augen des Bettlers – blickt und zu einer unmittelbaren Deutung von dessen eigentlicher Handlung und Motivation kommt.

Der Blick in die Augen des Freundes verrät dem Erzähler die eigentliche Motivation der scheinheiligen Gabe: Sie liegt erstaunlicherweise in der Anmaßung seiner „unbestreitbaren Reinheit“ (une incontestable candeur). Diese verblüffende Charakterisierung, die dem Freund und scheinheiligen Geber paradoxerweise eine weiße Reinheit des Herzens zuspricht, bezieht sich auf das der Handlung zugrundeliegende Kalkül, das auf einer Gleichsetzung irdisch-materieller und geistig-immaterieller Dinge beruht.

Das erzählerische Kalkül, die Entfaltung unterschiedlicher Geschichten und Handlungen, die den Erzähler geistig erfinderisch beschäftigen, hatte der Freund dabei keineswegs im Sinn. Vielmehr besteht sein ökonomisches Kalkül in einer unterordnenden Vereinheitlichung und Entdifferenzierung, auch die Spende untersteht rationalistischem Ökonomiestreben: „Ich sah da ganz klar, dass er zur gleichen Zeit einen Akt der Barmherzigkeit und ein gutes Geschäft machen wollte; vierzig Sols und das Herz Gottes verdienen; das Paradies ökonomisch hinwegtragen; schließlich gratis eine Lehrbescheinigung bekommen, ein barmherziger Mann zu sein.“ In der Handlung des Freundes, die auch die mildtätige Gabe und damit den gesamten Bereich ethischen Handelns der Logik des ökonomischen Profits unterwirft, sieht der Erzähler – ähnlich wie es Baudelaire in Blick auf Debatten der Aufklärung erfasst – ein naturhaftes, nicht durchschautes Böses am Werk.

Dichtung und Falschgeld

Unser kommentierendes Resümee des Prosagedichtes macht erkennbar, dass Baudelaires Komposition eine Fülle von Reflexionen aufwirft. In dieser dichterischen Potenz, bei seinen Rezipienten eine kritische Dynamik sowie immer neue Differenzen von Sinn und Bedeutung zu erzeugen, liegt bei der Schwierigkeit über Wahr und Falsch zu entscheiden, die eigentliche Stärke des Prosastücks. In der aktuellen Gegenwart der umfassenden Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche beeindruckt das Prosagedicht den Leser, weil es anhand der hypokriten Spende des Falschgeldes die Unterordnung aller Perspektiven des menschlichen Lebens oder der Humanität unter ein ökonomisches Eigeninteresse ausweist.

Während der Spender mit der Falschmünze religiös-ethische Normen und Werte aushöhlt – denn er hat keine Skrupel, die barmherzige Gabe an den Armen zu simulieren –, tritt der Erzähler als Beobachter der beobachteten Unterwerfung der Religion unter ökonomisches Interesse durch seinen Sprachgebrauch entgegen: Zwar wird der christlich geprägte Begriff des Almosens im Prosatext ausgespart, aber das Wort offrande im Sinne einer Weih- oder Opfergabe sowie Wörter wie charité (Barmherzigkeit oder Mildtätigkeit) und l’homme charitable („der mildtätige Mann“) verweisen auf zwischenmenschliche Verhältnisse außerhalb des monetären Systems.

Die scheinheilige Spende an den Armen wird mithin auf einer abstrakten Ebene mittels einer religiös-theologischen Begrifflichkeit durchleuchtet, von der der Freund aufgrund seiner hypokriten äußeren Praxis unberührt ist. Von allen Deutungsmöglichkeiten der scheinheiligen Geberpraxis, die der Erzähler als hypothetische Motivation und Erklärung formuliert, ist wohl der Repräsentations- und Distinktionsgewinn die wichtigste: Es handelt sich für den Spender darum, öffentlich als homme charitable zu gelten. Leser*innen vermittelt sich dabei – in einer erneuten Verschiebung von Sinn und Bedeutung – die Einsicht in einen ambivalenten Kern der caritas, also in die scheinheilige öffentliche Repräsentation der Nächstenliebe.[7]

Baudelaire greift in seinem Prosagedicht La fausse monnaie auf szenisch stark kodierte Situationen zurück, die bereits berühmte Vorlagen in der Literatur der französischen Klassik besitzen. Durch diese Rückbezüge präzisiert sich auch die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes im Verhältnis zur Religion in historischer Perspektive. Fragt man etwa, warum die beiden Freunde ausgerechnet aus einem Tabakbüro heraustreten, so lässt sich zunächst feststellen, dass Tabak als Luxusprodukt auf Vergnügen und Verschwendung verweist. Geld löst sich auf der einen Seite mit dem Rauchen des Tabaks in Luft auf; Rauchgebilde illustrieren auf der anderen Seite metaphorisch die imaginativen Fähigkeiten und träumerischen Gebilde, die Dichter und Autoren ersinnen. Leere und Fülle liegen hier nahe beieinander. Insofern könnte man auch sagen, dass der Tabakladen der Raum der „fausse monnaie“ ist, weil an diesem Ort alle Gegensätze und möglichen Differenzen vereint sind. Ferner ist zu bemerken, dass in einer berühmten Tabakszene zu Beginn des Dom Juan von Molière der Diener Sganarelle eine Lobrede auf den Tabak hält. Er betont den Austausch des Produkts Tabak selbst unter Fremden und hebt die gesellschaftsbildende Funktion gemeinsamen Rauchens hervor, die den honnête homme forme.

Die Begegnung mit dem Bettler hat ebenfalls ein berühmtes Vorbild in Molières Dom Juan: Der Konventionen und Zwänge bezweifelnde Libertin Dom Juan will einem Bettler ein Geldstück nur unter der Bedingung geben, dass dieser Gott verflucht. Der Bettler willigt allerdings nicht ein und setzt damit das Geld nicht an die Stelle Gottes. Eine ähnliche Sünde wird in der großstädtischen Paris-Szene bei Baudelaire dem Bettler nicht mehr abverlangt, vielmehr haben sich die theologischen und ökonomischen Verhältnisse beim bürgerlichen Geldsortierer und karitativen Betrüger gänzlich verschoben: Dieser ist es, der Gott bereits verflucht hat – denn er ‚spendet‘ lediglich eine falsche Geldmünze, und er hat sich bereits an die Stelle Gottes gesetzt, mit dem Makel, dass die Situation der Armut weiterhin besteht.

  1. Vgl. mein kürzlich erschienenes Buch: Baudelaire und Paris. Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie, München/Paderborn 2020, insbes. das Kapitel „Die Regeln des Geldes“, S. 285–346.
  2. Vgl. Jean-Claude Yon, Eugène Scribe. La Fortune et la liberté, Saint-Genouph 2000.
  3. Alle Zitate folgen der Ausgabe: Charles Baudelaire, Œuvres complètes I–II, hrsg. von Claude Pichois, 2 Bände, Paris 1975 und 1976. Aus dem Briefwechsel zitiere ich nach: Charles Baudelaire, Correspondance I–II, hrsg. von Claude Pichois, in Zusammenarbeit mit Jean Ziegler, 2 Bände, Paris 1973, hier S. 376. (Übersetzungen, soweit nicht anders vermerkt, von der Verf., K. W.)
  4. Vgl. auch die Übersetzungen in: Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris. Kleine Prosagedichte, hrsg. und übers. von Irène Kuhn, Darmstadt 2011, sowie ders., Le Spleen de Paris / Der Spleen von Paris. Gedichte in Prosa, übers. von Simon Werle, Reinbek bei Hamburg 2019.
  5. Vgl. Jacques Derrida, Donner le temps, 1. La fausse monnaie, Paris 1991.
  6. Vgl. die Interpretation des Prosagedichtes von Hermann Doetsch in: ders., Flüchtigkeit. Archäologie einer modernen Ästhetik bei Baudelaire und Proust, Tübingen 2004, S. 239–261.
  7. Vgl. Christina Bonhoff, Hypokrisie und Macht. Kritik der bürgerlichen Gesellschaft bei Stendhal und Daumier, Würzburg 2015.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.

Kategorien: Geld / Finanzen Kultur Kunst / Ästhetik Moderne / Postmoderne Stadt / Raum

Karin Westerwelle

Karin Westerwelle ist Professorin für französische und italienische Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Ihr Buch "Baudelaire und Paris. Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie" erschien 2020 im Wilhelm Fink Verlag.

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