Susanne Krasmann | Rezension | 29.05.2024
Leben und Nichtleben
Rezension zu „Geontologien. Requiem auf den Spätliberalismus“ von Elizabeth A. Povinelli

„Wenn, frei nach Gilles Deleuze, Begriffe das Verständnis dafür aufschließen, was zwar allgegenwärtig ist, sich unserem Blick jedoch entzieht“ (S. 15), dann ist „Geontologien“ ganz sicher so ein Begriff. Denn die US-amerikanische Anthropologin Elizabeth Povinelli bricht mit dem Neologismus eine fundamentale ontologische Unterscheidung auf: die zwischen Leben und Nichtleben. Diese Unterscheidung, so der Ansatzpunkt ihrer Kritik, ist das organisierende Prinzip spätliberaler Regierungsweisen und bezeichnend für eine Gegenwart, die von ausbeuterischem Kapitalismus und (post-)kolonialen Strukturen geprägt ist. Es ist die Gegenwart eines radikalen Klimawandels und das Zeitalter des Anthropozäns, in dem die Menschen sich selbst als eine „geologische Kraft“ bezeichnen:[1] weil sie ganz offensichtlich in der Lage sind, die Lebensgrundlagen auf der Erde systematisch und unwiderruflich zu zerstören und noch das Leben selbst auszulöschen.
(Manches) Leben auf der Erde – ausgebeutet, ausgeschöpft, vernichtet – wird aussterben, doch steht das Überleben des Planeten damit noch nicht zur Disposition.
Drei Bedeutungen und Fluchtlinien einer Kritik lassen sich dem Begriff der Geontologien entnehmen. Das geos steht erstens für das Geologische und das „Nichtleben“ (S. 17) – beziehungsweise für das, was nicht als Leben gilt, doch einst Leben war, und aus dem Leben geschöpft wurde und wird: der Stein, die Felsformation, die Kohle, das Erdöl. Heute sind es unter den sogenannten Energieressourcen die Seltenen Erden, die besondere begehrt und umkämpft sind. „Der Schlüssel zur riesigen Ausweitung des Kapitals“, so schreibt Povinelli, „war die Entdeckung einer Lebenskraft in toter Materie bzw. von Leben in den Resten von Leben: nämlich in Kohle und Erdöl. […] Der Kapitalismus ist eine gigantische Schmelzhütte und schaufelt das Lebende und das Tote in seinen Hochofen.“ (S. 265) Dabei birgt das Nichtleben selbst ein Potenzial, ein radikales Potenzial, wenn man bereit ist, weiter zu inspizieren, wie Nichtleben und Leben aufeinander verwiesen sind: „Das Nichtleben hat nämlich das hervorgebracht, was es nicht ist, Leben, und es wird mit der Zeit diese Erweiterung seiner selbst in sich zurückfalten.“ (Manches) Leben auf der Erde – ausgebeutet, ausgeschöpft, vernichtet – wird aussterben, doch steht das Überleben des Planeten damit noch nicht zur Disposition. „Das Leben ist lediglich ein weiteres inneres Organ eines Planeten, der auch dann noch da sein wird, wenn es nicht mehr da ist, wenn wir nicht mehr da sind“ (S. 277), so Povinellis düstere Aussicht, die sie mit vielen Klimaaktivist:innen ebenso wie Theoretiker:innen des Anthropozäns teilt. Für den Planeten, und vielleicht auch für die Existenz anderer Lebewesen, ist das menschliche Leben durchaus verzichtbar.
Die Geontologien stehen zweitens für eine „geontologische Macht“, hier knüpft Povinelli mit und gegen Foucault an den Begriff der Biomacht an. Für diese war die – oft stillschweigend wirksame – Unterscheidung zwischen dem lebenswerten, und also dem schützenswerten und zu fördernden Leben, das im Notfall auch zuerst gerettet werden muss, und dem nicht oder weniger lebenswerten Leben bestimmend, das auch sterben kann oder muss. Demgegenüber nimmt die „Geontomacht“ mit der Differenz von Leben und Nichtleben den fatalen Irrtum ins Visier, Letzteres ließe sich schadlos ausnutzen, ohne Ersteres zu tangieren. Beide Formen der Macht, die einander weder ausschließen noch ablösen, haben genau dies gemein: dass sie immer wieder neue Taktiken und Techniken der Macht im Namen des Lebens hervorbringen können und auf diese Weise auch das Gegenteil produzieren. „Ohne die Begriffe, ohne die Art, ohne Population, ohne Leben und Nichtleben“, so Povinelli im Anschluss an Foucault, „gibt es kein Aussterben, kein Massensterben.“ (S. 276)
An diese Einsicht schließt die dritte Bedeutung von Geontologien an: als systematische Befragung dessen, was gesellschaftlich jeweils als gegeben, als Seiendes oder als real Existierendes angesehen wird und was als menschengemacht und veränderbar gilt; wo wir mithin die Grenze ziehen zwischen Natur und Kultur, aber auch zwischen Lebendigem und toter Materie, zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen. Dabei beschreiben Ontologien nicht lediglich Vorstellungen davon, wie die Welt gestrickt ist und wie sie tickt; vielmehr heißt es, davon auszugehen, dass verschiedene Welten, so wie sie in einem ganz materiellen Sinne sind, gleichzeitig nebeneinander existieren. Der Plural im Begriff ist demnach Programm: Wer verschiedene Gesellschaften auf ihre Ontologien oder Kosmologien hin befragt,[2] der sollte sich darauf gefasst machen, dass die eigene vertraute Welt keineswegs die einzig mögliche ist.
Im Rahmen ihrer jahrelangen Feldforschungen bewegte sich Povinelli in den (den meisten von uns wohl) unvertrauten Welten der indigenen Beluyen-Community und des daraus hervorgegangenen Film- und Kunstkollektivs der Karrabing in Nordaustralien. Sie nimmt auf, wie die Indigenen den Dingen zuhören und ihnen folgen: dem Felsen, dem Fluss, der Schlange. Und sie verfolgt, wie sie die Zeichen lesen und wie dabei Beziehungen lebendig werden: wie der Berg, der auch eine heilige Stätte ist, auf seine Ausbeutung als Manganmine antwortet; wie der Nebel auch eine Schlange ist, die man beobachten muss. Dabei sind die Dinge keine Objekte, sondern weitere „Existenten“ und Gesprächspartner. Ihr Auftauchen ist als „Manifestationen“ dessen lesbar, wie sich die Welt gestaltet. Die Karrabing begreifen sich selbst als Teil dieser Welt, die sich in einem „Feld der Interpretationen“ immer wieder auch anders darstellen kann (S. 196 f.).[3] Das Denken, das hier sichtbar wird, ist weder von der Einteilung und Unterscheidung von Dingen noch von der Suche nach linearen Kausalitäten bestimmt. Eher nimmt es Geschehnisse in den Blick, die sich überlagern, und erfasst darin eine Gleichzeitigkeit, die „zu keiner Zeit den Horizont des Hier und Jetzt und Dort und Dann durchstößt“ (S. 43). Povinelli interessiert sich für diese Art von „Quasi-Ereignis“, das „immer nur nahhier und nahjetzt [hereish and nowish]“ ist und das von uns verlangt, „unsere Aufmerksamkeit auf Kräfte des sich Verdichtens, sich Manifestierens und sich Haltens [zu] richten, statt auf die Grenzen von Objekten“ (S. 44).
Die Lektüre des im Original bereits 2016 erschienenen Buchs (Geontologies. A Requiem to Late Liberalism, Duke University Press) ist keine leichte Kost, vielleicht auch, weil die Übersetzung zuweilen etwas sperrig geraten ist. Dabei schildert Povinelli immer wieder sehr anschaulich und mit einiger Fähigkeit zur Selbstironie alltägliche Begebenheiten ihres Lebens bei der indigenen Bevölkerung; und sie führt die Leser:innen luzide durch allerlei Lektüren westlichen Denkens, die von ganz ähnlichen Motiven inspiriert zu sein scheinen: posthumanistische Perspektiven, die an der anthropozentrischen Vorstellung vom Menschen als einer überlegenen Ausnahmeerscheinung unter den Spezies und an der liberalen Vorstellung von einem souveränen Subjekt rütteln, das glaubt, seine Welt selbstbestimmt gestalten zu können und das – zumal in Gestalt des Anthropos als einer aggregierten, geologisch wirksamen Kraft – doch so viel Schaden und Zerstörung anrichtet; Neue Materialismen, die die Bedeutung und Kraft der Dinge und anderer Lebewesen um die menschliche Existenz herum herausstellen und diese Existenz immer schon auf die Mit-Welt – und nicht bloß ihre Umwelt, in deren Zentrum die Menschen stehen – verwiesen sehen; poststrukturale Anthropologien schließlich, die alternative Kosmologien entdecken und dabei sind, auch im hiesigen Denken eine ontologische Wende herbeizuführen.[4] Doch Povinelli zeigt konsequent auf, wie die genannten Ansätze der kategorischen Unterscheidung von Leben und Nichtleben sowie Subjekt und Objekt gleichwohl verhaftet bleiben – und damit letztlich weiterhin der Logik einer geontologischen Macht folgen.[5]
Drei Figuren sind Povinelli zufolge symptomatisch für die heutige Erosion der Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem: (1) Die Wüste (die Sahara) steht für den geologischen Ort, der einst „von Leben erfüllt“ war (S. 36), das jetzt nicht mehr existiert. Sie ist der Schrecken der Auslöschung, der Ver-Wüstung von Leben, und bildet zugleich das Movens, neue Orte zu erschließen, an denen Leben möglich sein wird, sowie neue Technologien zu entwickeln, welche die Logik der Ausbeutung und Ausschöpfung nur fortsetzen werden. (2) Die Figur der Animist:in findet sich in einem Vitalismus wieder, der nun auch den Dingen Leben zuschreibt – ohne indes seinerseits „am Leben schlechthin interessiert zu sein“ (S. 38). Jane Bennetts Konzept der Vibrant Matter (2019) oder Brian Massumis spinozistisch-affekttheoretisch inspirierte Vorstellung einer Ontomacht (2010) laufen somit Gefahr, so Povinellis unerbittliche Kritik, einem fröhlichen Vitalismus zu frönen, der allen Existenzformen das zu sein auferlegt, was wir selbst am Leben schätzen: dass es sich entfalten und gedeihen möge. Die Unterscheidung von lebenswerten und nichtlebenswerten Entitäten ebenso wie von Leben und Nichtleben wird Povinelli zufolge so nicht aufgehoben, eher noch bekräftigt. Dabei seien Kapitalist:innen die größten Animist:innen, weil sie verschiedene „Existenten“ auf der Basis solcher Unterscheidungen einer „Verwertbarkeit unterwerfen“ (S. 41). (3) Das Virus schließlich setzt diese Gewalt noch fort. In Gestalt des Krankheitserregers (Povinellis Beispiel ist Ebola, es könnte ebenso gut COVID-19 sein) oder der Terrorist:in nistet es sich in die Gesellschaft ein wie ein Parasit. Es lebt davon, die Grenzen von Leben und Tod beständig zu unterlaufen, und sorgt auf diese Weise für eine fundamentale Verunsicherung (S. 39 f.).
Wie aber können wir zu einem postgeontologischen Denken gelangen, das den Logos kategorialer Unterscheidungen aufbrechen, vielleicht überwinden kann? Und wie verabschieden wir uns von einer Politik der kulturellen Anerkennung des Anderen, die doch wieder nur auf eine Art der Vereinnahmung hinausläuft, wie sich das gegenwärtig etwa auch in den gutgemeinten Einforderungen von Rechten der Natur zeigt? In den Augen der indigenen Menschen würde eine solche Anerkennung ihres Widerstands gegen die Siedlerpolitik nur dazu führen, „dass man die dynamische Ordnung der Beziehungen von Mensch und Land in die bestehende politische Ordnung übersetzt“ (S. 196) – und so ihre Sprache in die beherrschende Denkweise überführt. Deshalb besteht Povinelli darauf, wie wichtig das Zuhören ist. Anders als bei Jacques Rancière gehe es dabei allerdings nicht darum,[6] den Indigenen eine Stimme zu verleihen, um aus dem Lärm wiederum einen Logos zu machen.[7] Diese „Großzügigkeit, unsere Form der Semiose auf sie auszudehnen“, bedeute nichts anderes, als sich der Möglichkeit zu verschließen, unsere Welt provinziell erscheinen zu lassen: als eine, vielleicht nicht so wichtige Welt unter vielen (S. 228).
Als „eine spätliberale Herrschaftsform“ sei die Geontomacht bereits in ihren „Grundfesten erschüttert“ (S. 34). Doch was (danach) kommen wird, ist noch nicht ausgemacht, und kann vielleicht auch nicht ausgemacht werden.
Die Wendigkeit, mit der Povinelli ihre Gedanken ausführt, ist einzigartig: Souverän bringt sie ganz unterschiedliche Literaturen – von Autor:innen des Globalen Südens wie Achille Mbembe und W.E.B. Du Bois bis hin zu den unterschiedlichsten Ausprägungen eines Neuen Materialismus, spekulativen Materialismus, spekulativen Realismus und objektorientierter Ontologie – miteinander ins Gespräch und verbindet dabei ethnografische Forschung mit originärer Theoriebildung. Povinellis Analysen der Geontomacht haben direkt oder indirekt in mancher Hinsicht die Anthropozändebatten inspiriert. Dort finden sie ihr Echo in der Kritik, wir suchten beständig die Verbundenheit zu neuen Welten, um sie uns letztlich zu eigen zu machen; und wir versuchten uns einzurichten, anstatt uns der Erschütterung auszusetzen, dass wir nicht so weiterdenken und -machen können wie gehabt – und das Leben auf der Erde womöglich besser ohne uns auskommt.[8] Als „eine spätliberale Herrschaftsform“ sei die Geontomacht bereits in ihren „Grundfesten erschüttert“ (S. 34). Doch was (danach) kommen wird, ist noch nicht ausgemacht, und kann vielleicht auch nicht ausgemacht werden: weil der Lärm, der Dissens, die Kraft der Kritik ein unvorhersehbares Movens bleiben wird; und weil vielleicht auch „andere sensorische Interpretanten“ nun zum Zuge kommen müssen (S. 228). Das Requiem auf den Spätliberalismus bedeutet deshalb, „weder ohne Hoffnung noch voller Hoffnung“ zu sein (S. 55). Eher mündet es, frei nach Donna Haraway, in die Aufforderung, „unruhig zu bleiben“.[9] Denn es gibt keine einfachen Antworten und keine leichten Auswege.
Fußnoten
- Dipesh Chakrabarty, The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35 (2009), 2, S. 197–222 (meine Übers., S.K.).
- Zum Konzept der Kosmologien siehe Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur [2013], übers. von Eva Moldenhauer, mit einem Nachw. von Michael Kauppert, Berlin 2022.
- „Unsere Filme sind weder Fiction noch Non-Fiction“, heißt es in der Beschreibung zur Ausstellung des Filmkollektivs der Karrabing im Haus der Kunst in München vom 27. März bis 10. September 2023. „Sie stammen aus dem Land unserer Vorfahren, und dorthin kehren sie zurück. Sie erwachsen aus dem Leben, in dem wir mit unseren durlg (Träumen) koexistieren, und sind zugleich ein Teil davon.“ Siehe Karrabing Film Collective. Wonderland [24.4.2023]
- Siehe dazu auch Heike Delitz, Amerindianische Anthropologie [23.4.2024], in: Soziopolis, 1.9.2021.
- So etwa Eduardo Kohn, dessen Feldforschungen im brasilianischen Amazonasgebiet der Perspektive Povinellis sehr nahezukommen scheinen. Denn sie zeigen, wie Menschen und Dinge beziehungsweise Entitäten „jenseits des Menschlichen“ semiotische Verbindungen eingehen. Ders., Wie Wälder denken. Anthropologie jenseits des Menschlichen, übers. von Alexander Weber, Berlin 2023, S. 19. Mit Charles Sanders Pierce davon ausgehend, dass Zeichen nicht nur sprachlicher Natur sein müssen: nicht nur bedeuten, sondern auch tun, gelingt es Kohn, Zeichenprozesse selbst als etwas Lebendiges begreifbar zu machen. „Das Leben denkt, Gedanken sind lebendig.“ Ebd., S. 28. Durch die Brille der indigenen Bevölkerung erschließt sich so, „wie Wälder denken“. Allerdings geht dies Povinelli nicht weit genug. Vielmehr zementiere Kohn die Trennung von Leben und Nichtleben erneut, indem er die Semiose nur den lebendigen Wesen, nicht aber den nichtlebendigen Dingen zugestehe (S. 214).
- Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. von Richard Steurer, Frankfurt am Main 2002.
- Gerade in dieser Hinsicht unterscheidet sich Povinellis Perspektive im Übrigen auch von Bruno Latours Idee einer politischen Repräsentation der Dinge, die letztlich wiederum voraussetzt, dass deren Stimmen und Begehren denen der Menschen gleichen. Ders., Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, übers. von Gustav Rößler, Frankfurt am Main 2010.
- David Chandler, Ontopolitics in the Anthropocene. An Introduction to Mapping, Sensing and Hacking, London / New York 2018; Claire Colebrook, Who Would You Kill to Save the World? Lincoln, NE 2023.
- Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übers. von Karin Harrasser, Frankfurt am Main / New York 2018.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Kapitalismus / Postkapitalismus Ökologie / Nachhaltigkeit
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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