Volker M. Heins | Rezension |

Die kommende Internation

Marcel Mauss als politischer Philosoph

Marcel Mauss:
Die Nation oder der Sinn fürs Soziale
Hrsg. von Marcel Fournier und Jean Terrier. Übers. von Christine Pries.
Deutschland
Frankfurt am Main 2017: Campus
360 S., EUR 34,00
ISBN 978-3593505831

Gleich nach dem Ersten Weltkrieg, als Marcel Mauss die verschiedenen Texte für das vorliegende, posthum erschienene Buch verfasste, galt in den Ländern Europas die jeweilige „Nation“ als leidenschaftliche Glaubenssache und Kriterium der Unterscheidung von Freund und Feind. Mauss spricht von „Krankheiten des nationalen Bewusstseins“ (S. 73). Fast hundert Jahre später verdienen die Überlegungen des französischen Anthropologen und Soziologen schon deshalb unser Interesse, weil diese Krankheiten auch heute wieder um sich greifen. Die Kritik des Nationalismus steht jedoch gar nicht im Mittelpunkt des Buches. Interessant ist das Buch vielmehr aus anderen Gründen: Mauss bietet eine strukturelle und analytische Bestimmung des Begriffs der Nation als einer sozialen Tatsache; er verschiebt die Aufmerksamkeit von internationalen Beziehungen zwischen Staaten zu intergesellschaftlichen Verhältnissen und Phänomenen; und er kombiniert auf verblüffende Weise eine nüchterne Krisendiagnose, die das Wahnhafte des modernen Nationalismus klar erkennt, mit einem historischen Optimismus.

Die Methode, die Mauss unter dem Eindruck der nationalistischen Hysterie seiner Zeit wählt, soll „die Nationen lehren, richtig über sich selbst zu denken“. Er betrachtet seine Herangehensweise sogar als „eine Art Psychiaterin“ (S. 63), die ihre Patienten von Zwangsvorstellungen oder narzisstischen Störungen befreien möchte. Nationen denken dann richtig über sich selbst, wenn sie erkennen, dass „Nation“ in erster Linie nicht ein Wertbegriff oder eine Glaubenssache ist, sondern der Name für etwas gänzlich Objektives: eine Gesellschaftsform oder ein „Zivilisationsstadium“. Die Nation wird von ihm definiert als „eine materiell und moralisch integrierte Gesellschaft mit einer stabilen und konstanten Zentralmacht, feststehenden Grenzen und einer relativen sittlichen, geistigen und kulturellen Einheit der Einwohner, die bewusst für den Staat und seine Gesetze eintreten“ (S. 84). Von dieser Gesellschaftsform gibt es nach Mauss nur ganz wenige Exemplare auf der Erde. Eigentlich lässt er nur Frankreich und merkwürdigerweise die USA gelten, obwohl in den Südstaaten zu Lebzeiten von Mauss ein Teil der Einwohner, nämlich die Afroamerikaner, noch unter einem apartheidsähnlichen System lebten. Die übrigen Gesellschaften, so Mauss, zerfallen in unterschiedliche Nationalitäten (Großbritannien), Sprachräume (Schweiz) oder Clans (Japan), sind nur unvollständig demokratisch und damit schwach integriert (Deutschland, Ungarn) oder sind demographisch und kulturell allzu „bunt zusammengewürfelt und rückständig“ (S. 85), um als vollwertige Nationen gelten zu können (viele Länder Lateinamerikas).

Das Ziel der oben genannten Definition besteht darin, den Begriff der Nation vollständig vom Nationalismus und den negativen Affekten zu lösen, die mit der Politik des Nationalismus einhergehen. Mauss möchte den Astralleib einer reinen, demokratischen und letztlich sozialistischen Nation freilegen, die nicht expansionistisch ist und sich nicht „gegen das Ausland“ (S. 73) richtet. Dabei verteidigt er seinen idealisierten Begriff der Nation, ohne zu übersehen, dass reale Nationen nicht ohne ein Element des Nationalismus zu haben sind. Jede Nation, so schreibt er, „hängt der Illusion an, auf der Welt an erster Stelle zu stehen“ (S. 102). Schlimmer noch: Anstatt die feudale Idee angeborener Privilegien zu verwerfen, demokratisieren die Nationen diese Idee bloß, indem sie dem Volk quasi-feudale Privilegien der „Abstammung“ (S. 99) andichten und damit andere Völker sowie Migranten herabsetzen. Wie sich die Nation als Zivilisationsstadium zum politischen Nationalismus verhält, wird allerdings nicht wirklich befriedigend geklärt. Hinzu kommt, dass Mauss selbst nicht immun ist gegen die von ihm geschilderte nationalistische Überlegenheitsfantasie, weil fast nur sein eigenes Land die hohen Standards seiner Definition einer echten Nation erfüllt.

Interessanter und überzeugender sind die Überlegungen im Buch zu zwischengesellschaftlichen Verhältnissen und „intersozialen Phänomenen“. Hier präsentiert Mauss, der sich auch in seinem berühmten Essay über Die Gabe mit der Herstellung und Aufrechterhaltung von Beziehungen nicht innerhalb, sondern zwischen politischen Gemeinschaften befasst, einen weiteren Baustein zur Soziologie der internationalen Beziehungen.[1] Der wichtigste Befund dieses Teils lautet, dass viele Phänomene und Felder des modernen Lebens „von ihrem Wesen her intersozial“ (S. 123) sind und nicht an den Grenzen der Nationen haltmachen. Das gilt für Ökonomie, Technik, die Künste, Religion und moralische Überzeugungen. Mauss spricht von den zahllosen ideellen und materiellen „Anleihen“ (emprunts), die Nationen im Zuge ihrer Entwicklung bei nahen und fernen Nachbarn machen, und vom „Zustand wachsender wechselseitiger Durchlässigkeit und Abhängigkeit“ (S. 114) zwischen den Gesellschaften. Dieser Trend, den wir heute Globalisierung nennen, bringt die Nationalisten aller Länder in Schwierigkeiten, wenn sie darauf bestehen, dass ihre Nationen sich selbst genügen und allein aus ihrer tausendjährigen Geschichte schöpfen. Der ideologische Aufwand, der betrieben werden muss, um an der Fiktion ganz und gar eigensinniger Nationen festzuhalten, wächst proportional zur wachsenden Reichweite intersozialer Phänomene.

Aus dieser Diskrepanz leitet Mauss seinen Optimismus ab. Wenn das Leben in den meisten Sphären der Gesellschaft zunehmend intersozial verläuft und die Zivilisation in der globalen „Zirkulation“ (S. 117) von Gütern und Praktiken besteht, dann wandeln sich auch die Nationen, die sich nicht mehr als Bollwerke gegen die Außenwelt, sondern als Stellwerke und Knotenpunkte zwischen In- und Ausland verstehen müssten. Zugleich möchte Mauss an der Idee der politischen „Unabhängigkeit“ (S. 343) der Nationen auch unter den Bedingungen wachsender wechselseitiger Abhängigkeit festhalten. In diesen Formulierungen steckt die ganze Ambivalenz seiner Argumentation. Es sind vor allem zwei Themen, die eine heutige Leserschaft besonders ansprechen dürften: die Themen des Kolonialismus und der europäischen und transeuropäischen Vereinigung der Nationen.

Im Einklang mit seiner These, dass Nationen erst in einem bestimmten Zivilisationsstadium entstehen, verteidigt Mauss die Kolonialisierung von Ländern, sofern sie das Ziel einer von außen herbeigeführten Entwicklung verfolgt. Es ist „für die Marokkaner [besser,] von Franzosen regiert zu werden als von Gangstern, und für den Araber, unter englischer Schutzherrschaft zu sehen und nicht unter türkischer“ (S. 170). Das schreibt er, obwohl er auch sieht, dass weltweit viele unterdrückte Bevölkerungen im Vergleich zu den „weißen Rassen“ aufsteigen und sogar dabei sind, „reicher zu werden“ (S. 106). Mauss formuliert seine Überlegungen als ein engagierter Intellektueller, der zu seiner Zeit an politischen Debatten teilnimmt, in denen er gegen die koloniale Raubwirtschaft und für einen „gebenden“ Kolonialismus streitet.[2] Der politische Zweck dieser ersehnten Neuorientierung war eng verknüpft mit der von Sozialisten wie dem zweimaligen Premierminister Albert Sarraut propagierten Idee von „Eurafrika“ – einer friedlichen Anbindung großer Teile Afrikas an die „echten“ Nationen Europas, allen voran Frankreich.[3] Hier zeigt sich die Doppelbödigkeit des evolutionistischen Denkens, das nicht gefeit ist gegen die Versuchungen des Eurozentrismus.

Ebenso aufschlussreich sind Mauss‘ Überlegungen zur Zusammenarbeit der Nationen. Die Gründung des Völkerbunds nach dem Ersten Weltkrieg ist für ihn das Sinnbild für die mächtige historische Tendenz, „immer umfangreichere Föderationen und Konföderationen“ (S. 164) zu schaffen. Diese Tendenz ist nicht die Folge des guten Willens von Politikern, sondern ergibt sich aus der Intensität intersozialer Phänomene in allen Lebensbereichen. Auch hier erkennen wir freilich eine gewisse Unentschiedenheit. Mauss antizipiert die spätere französische Idee „supranationaler“ europäischer Institutionen, um sie sogleich zu verwerfen.[4] Statt auf die Ermächtigung einer „Supranation“ (S. 347), die sich die einzelnen Nationen einverleibt, dränge die Entwicklung der globalen Kooperation auf die „Verwirklichung der Internation“ (S. 343). Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung – hier nimmt Mauss die Montanunion nach dem Zweiten Weltkrieg vorweg – liege in der Schaffung einer zwischenstaatlichen Kontrolle der Verfügung über Rohstoffe wie Kohle oder Erdöl.

Die Stärken und Schwächen des Buches lassen sich leicht benennen. Die große Stärke sehe ich darin, dass Mauss ein überzeugender Kritiker dessen ist, was man den kosmopolitischen Fehlschluss nennen könnte: Aus der Tatsache, dass sich die intersozialen Kontakte vervielfachen und die Nationen stärker als früher aufeinander angewiesen sind, um drängende Probleme zu lösen, folgt nicht, dass die Nationen und ihre Staaten obsolet werden oder gar verschwinden. Die zentrale Schwäche besteht auf der anderen Seite darin, dass Mauss systematisch die Blockaden unterschätzt, die die Realisierung vieler der von ihm hellsichtig analysierten Kooperationspotenziale innerhalb und zwischen den modernen Nationen bis heute verhindert haben. Auf dieses Defizit verweist auch Axel Honneth in seinem Vorwort. Offenkundig kann der barbarische „Fetischismus“ der Nation und der von ihr erzeugten Fiktion der „Rasse“ (S. 99) zu einer Macht herangezüchtet werden, die stark genug ist, um die wachsende moralische Abhängigkeit aller Nationen vergessen zu machen. Mit der Frage, wie dieses „Paradox super-realer Fiktion“[5] überhaupt entstehen und wirksam werden kann, haben sich erst später Theoretiker wie Benedict Anderson oder Albrecht Koschorke befasst. Anders als Mauss haben wir die Illusion verloren, dass „Tatsachen“ von sich aus etwas bedeuten und von allein ihren Weg in die Köpfe der Menschen finden.

  1. Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1990. Vgl. zudem: Journal of International Political Theory 14 (2018), 2, (Special Issue on Marcel Mauss in International Studies, ed. by Volker M. Heins, Christine Unrau und Kristine Avram) (im Erscheinen).
  2. Der Ausdruck „gebender Kolonialismus“ passt zu Mauss‘ politischer Philosophie, auch wenn er erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Alexandre Kojève geprägt wurde. Vgl. Alexandre Kojève, Düsseldorfer Vortrag: Kolonialismus in europäischer Sicht, in: Piet Tommissen (Hg.), Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. 6, Berlin 1998, S. 126–143.
  3. Vgl. Sven Beckert, American Danger: United States Empire, Eurafrica, and the Territorialization of Industrial Capitalism, 1870–1950, in: The American Historical Review, 122 (2017), Nr. 4, S. 1137–1170; Grégoire Mallard, The Gift as Colonial ldeology? Marcel Mauss and the Solidarist Colonial Policy in the Interwar Era, in: Journal of International Political Theory 14 (2018), Nr. 2 (im Erscheinen).
  4. Zu den französischen Ursprüngen der Idee supranationaler Entscheidungsfindung vgl. Craig Parsons, A Certain Idea of Europe, Ithaca, NY 2003.
  5. Benedict Anderson, A Life Beyond Boundaries, London 2016, S. 156. Vgl. auch Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main 2012.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Staat / Nation Politische Theorie und Ideengeschichte Macht Kolonialismus / Postkolonialismus

Volker M. Heins

Prof. Dr., ist Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und lehrt Politische Theorie an der Universität Duisburg-Essen (UDE). Er ist außerdem Mitglied des Vorstands am Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research an der UDE.

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