Sylvia Terpe | Rezension | 06.06.2016
Die Macht der Stimmungen
Heinz Bude über Stimmungen in Deutschland und Stimmung als soziologische Schlüsselkategorie
Man sollte in guter Stimmung sein, wenn man das neue Buch von Heinz Bude zur Hand nimmt. Denn nach Ansicht des Autors beeinflussen Stimmungen, wie „uns die Wirklichkeit zugängig wird, welche Gefühle, Erinnerungen und Gedanken sich nahelegen und welche von vornherein ausgeschlossen sind“ (22). In „geeigneter Stimmung“ (10) wird man auf vielen Seiten des schmalen Bandes Bezüge zu eigenen Erfahrungen herstellen können, man wird Freude haben an der lockeren und bildhaften Schreibweise des Autors, und vielleicht wird man durch seine Ausführungen sogar dazu angeregt, an der Entwicklung einer „Soziologie der Stimmung“ (10) mitwirken zu wollen. Heinz Budes Buch kann als facettenreiche Ideensammlung für ein solches Unterfangen geschätzt werden. Ist die Leserin in weniger geeigneter Stimmung, mag es aber auch als häufig rein assoziative Aneinanderreihung von Gedanken erscheinen, von denen man sich etwas mehr analytische Schärfe und tiefgreifende Analyse gewünscht hätte.
Indes verfehlt eine solche Kritik zumindest in Teilen die Intention sowie den Anspruch des Buches. Denn Bude hat sich bewusst für den „metaphorisch starken, aber definitorisch schwachen Begriff der Stimmung“ (38) entschieden. So kann er das Feld der ihn interessierenden Phänomene besonders weit ziehen und sich Letzteren aus verschiedenen Blickwinkeln nähern. Die in Essayform gehaltenen Kapitel vermitteln dem Leser somit eine mal genauere, mal allenfalls vage Ahnung sowohl von den Stimmungslagen, die nach Bude in der gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft herrschen, als auch von dem, was Stimmung als soziales (und damit soziologisches) Phänomen ausmacht. Da Bude keine expliziten Bezüge zwischen den Kapiteln herstellt, können sie durchaus für sich gelesen werden. Gleichwohl lassen sich zwischen einigen der skizzierten Stimmungen aufschlussreiche Beziehungen vermuten. Darüber hinaus regen seine Ausführungen dazu an, über die Abgrenzung der Stimmung von anderen affektiven Phänomenen und damit wiederum über den Kerngehalt eines Begriffs der Stimmung „als Schlüsselkategorie für den ganzen Menschen“ (38) nachzudenken. Darauf komme ich am Ende der Rezension zurück. Zunächst aber soll ein Blick auf jene kollektiven Stimmungen gerichtet werden, denen Budes Hauptaugenmerk gilt.
In Kapitel 1 („Wie es uns ist und wird“) versucht sich Bude an einer Zeitdiagnose, die zwischen den beiden Stimmungsfiguren des ‚empörten Antikapitalisten‘ und des ‚entspannten Systemfatalisten‘ unterscheidet. Die ‚Antikapitalisten‘ zeichne neben ihrer Empörung eine Mischung aus „Wut“, „Groll“ (17), „Systemaversion, Betrogenheitsempfindung“ (24) und „Verlassenheitsgefühl“ (25) aus. Die ‚Systemfatalisten‘ charakterisiere hingegen eine Haltung der „Gleichmütigkeit“ (18), sie wollten „loskommen von [den] negativen Bindungen, die einen eng, verbohrt und starr machen“ (26). Bei ihnen vermutet Bude eine bislang nur „untergründige Stimmung“ (26), die er – so kann der aufmerksame Leser immerhin ahnen – im letzten Kapitel („Die Zukünftigen“) vage umreißt. Hier beschreibt Bude die sogenannten ‚Zukünftigen‘, die „Abstand [nähmen] von einer Stimmung der Bedrücktheit und der Mattigkeit, die Visionen sofort als Ideologien denunziert“ (128). Sie suchten „mit sortierter Skepsis und wacher Verhaltenheit nach Wegen in einer Welt des schwindenden Raums und der vergehenden Zeit.“ (128) Während Bude die Vertreter der ‚Antikapitalisten‘ in allen sozioökonomischen Schichten und politischen Lagern ausmacht, wofür er verschiedene empirische Studien als Belege anführt, bleibt im ersten und im letzten Kapitel unklar, welche Personen oder soziale Gruppen für ihn die ‚Systemfatalisten‘– und damit vermutlich die potenziell ‚Zukünftigen‘ – repräsentieren. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was den einen zum ‚Antikapitalisten‘, den anderen aber zum ‚Systemfatalisten‘ bzw. ‚Zukünftigen‘ werden lässt. Klar scheint nur zu sein: „Die Stimmung ergibt sich aus der Situation, in der ich mich befinde“ (23).
Aber was an der Situation ist ausschlaggebend? Einige der folgenden Kapitel liefern dazu erste Anhaltspunkte. In Kapitel 4 („Enttäuschung und Engagement“) unterscheidet Bude in Anlehnung an Albert O. Hirschman „zwei kollektive Grundstimmungen“ (77), die für ihn in zyklischem Wechsel die Stimmung einer Epoche ausmachen. „Im Mittelpunkt der einen Stimmung steht das gefährdete Ich, das seine kleine Lebenswelt gegen die Zumutungen Fremder, gegen die Forderungen der Gesellschaft und gegen die Ansprüche des Staates zu stabilisieren sucht. [...] Die andere Stimmung lebt von dem Gefühl, dass die Bekümmerung um das eigene Ich und den ihm gemäßen Lebenskreis nicht alles sein kann. Man sieht sich in einer offenen Welt, in der wenig gegeben ist und viel gemacht werden kann.“ (77f.) Obgleich die Beschreibungen nicht identisch sind, lassen sich doch Ähnlichkeiten mit den zuvor skizzierten Stimmungen der ‚Antikapitalisten‘ und ‚Systemfatalisten‘ bzw. der ‚Zukünftigen‘ erkennen – leider bleibt auch hier offen, ob der Autor das selbst so sieht. Als den stimmungsprägenden Faktor einer Situation bestimmt Bude in diesem Kapitel die „Tatbestände des sozialen Aufstiegs“. Für ihn bedeutet dies, dass man sich „zutraut, Positionen zu erobern und Ansprüche zu erheben“ (78) – woran man freilich auch in Enttäuschung scheitern kann. Allerdings ist unklar, woraus sich das für diese Argumentation so zentrale Selbstvertrauen ergibt. Kann es als weiteres Element einer aufstiegsaffinen Stimmung verstanden werden, müsste man nun wiederum nach seinen sozialen Ursachen fragen.
In Kapitel 5 („Das Verhältnis der Generationen“) trifft man auf eine weitere Gegenüberstellung von zwei Stimmungslagern. Da seien zum einen die „Mitte der 1950er Jahre geborenen Nachkriegsmenschen“ (82), zu denen übrigens der Autor selbst gehört und die er exemplarisch durch Angela Merkel (ebenso wie Heinz Bude Jahrgang 1954) vertreten sieht. Kennzeichnend für diese Kohorte sei „ein Stil der Beobachtung, der Zurückhaltung und der Abmessung“ (85). Ihre „Zwischenposition“ zwischen den Generationen der „68er“ und „der Babyboomer“ lege es ihnen „nahe, genauer zu lesen, präziser zu fragen und vorurteilsfreier zu urteilen“ (85). Dabei erkennt Bude überraschende Ähnlichkeiten mit der etwa halb so alten „Generation Y“, die er als „erste Generation nach dem Neoliberalismus“ (87) bezeichnet. Beiden gemeinsam sei nämlich ein „Stil des Sich-Bedeckt-Haltens, der Identifikationsscheu und der pragmatischen Lösungen“ (86) – auch darin kann der geneigte Leser wieder Parallelen zu den ‚Systemfatalisten‘ und den ‚Zukünftigen‘ erkennen. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass die Abgrenzungen Budes nicht so eindeutig sind, wie ich das hier darstelle. So spricht er etwa auch von der „Nachkriegskohorte der Babyboomer“ (86). Für den Leser ist somit nicht immer ersichtlich, zwischen welchen Kohorten oder Generationen Bude stimmungsmäßige Ähnlichkeiten und Unterschiede ausmacht sowie welche Kohorten für ihn überhaupt eine Generation im soziologischen Sinn bilden.
Zwischen den ungleichen Verbündeten der Nachkriegskohorte und der Generation Y stehen nach Bude jedenfalls „Generation Golf“ (82) bzw. „Generation X“ (83), deren Angehörige mit „Neid auf diese generationelle Paarbildung“ (88) blicken würden. Sie empfänden Letztere als „Affektkoalition einer falschen Stabilisierung, die nicht sehen will, was in der Welt sonst noch passiert.“ (88) Bude scheint der Generation X bzw. Golf damit jene Mischung aus Empörung und Enttäuschung zuzuschreiben, mit der er zuvor die ‚Antikapitalisten‘ charakterisierte. Bezüglich der stimmungsprägenden Ursachen argumentiert er nun, dass „die heute Vierzigjährigen aus der ‚Generation Golf‘ [...] gar nicht so selten auf das falsche Pferd gesetzt“ hätten (83); es mache eben „eine ganz andere Stimmung, ob man die Erfahrung gemacht hat, da gelandet zu sein, wo man überhaupt nicht hinwollte – oder ob man sich bei Berufs-, Bindungs- und Lebensentscheidungen Optionen offenhält, um den Zufall als Chance begreifen zu können.“ (83) Denkt man dies weiter, steckt darin die Behauptung, dass die einen also Entscheidungen getroffen hätten, die sie heute unzufrieden machten, weshalb sie mit Skepsis auf die Optionsvielfalt blicken würden. Die anderen hingegen empfänden ebendiese Vielfalt als Bereicherung und würden sich gar nicht erst auf eine Entscheidung festlegen. Aus welcher konkreten Erfahrung heraus sich allerdings ihr Optimismus ergibt, wird nicht weiter beleuchtet. Das Vorhandensein bloßer Optionen oder Chancen kann es nicht sein – denn diese hatten die anderen ja (oder nur scheinbar?) auch.
Doch immerhin deutet Bude in diesen Kapiteln an, worauf er die Entstehung kollektiver Stimmungen zurückführt: und zwar auf die Erfahrung konkreter Lebenssituationen, die er als Verarbeitung der Möglichkeiten und Restriktionen im Kontext spezifischer Beziehungskonstellationen versteht. Das ist ein Anfang, aber Budes Ausführungen dazu bleiben doch recht ungenau. Es wäre schön gewesen, wenn der Autor die von ihm selbst aufgeworfene Frage „Aber wie kann man sich den Prozess des Gestimmtwerdens durch eine gesellschaftsgeschichtliche Situation vorstellen?“ (23) zumindest an einem Beispiel intensiver diskutiert und somit auch einen gehaltvolleren Begriff ‚der Situation‘ sowie ‚der Erfahrung‘ entwickelt hätte.
Stattdessen ergänzt Bude das von ihm entworfene Stimmungsbild in Kapitel 3 („Ansteckungskreise und Schweigespiralen“) mit einigen Gedanken zu den Medien, die er als vermittelnde Instanzen bei der Konstitution der „Stimmungsträger des Publikums, der Masse und der öffentlichen Meinung“ (48) beschreibt. In Kapitel 7 („Das Gefühl des Geschlechts“) macht er schließlich den Wandel der Geschlechterverhältnisse als Ursache für eine veränderte „Stimmung der Gesellschaft“ (110) aus. Demzufolge habe die „moralische Modernisierung der sexuellen Praktiken und des sexuellen Selbstverständnisses eine Verhandlungs- oder Konsensmoral hervorgebracht“ (112), die nun Unsicherheiten erzeuge, welche wiederum „‚unerlaubte‘ Sehnsüchte nach archaischen Rollen und traditionellen Formen der Weiblichkeit und Männlichkeit“ produzierten (117). Auch hier geht es also wieder um eine Optionsvielfalt, die als Chance und Bereicherung oder eben als Bedrohung empfunden werden kann. Wie in den anderen Kapiteln werden diese Thesen allerdings nur angerissen. Zwar geben sie Denkanstöße, doch werfen sie letztlich mehr Fragen auf, als angesichts der Kürze des Buches beantworten werden können. So wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie sich der Autor das Verhältnis zwischen all diesen Stimmungen und den sie erzeugenden Faktoren vorstellt. Welche Stimmung entsteht oder setzt sich durch, wenn man einer bestimmten Generation, einem Geschlecht sowie einer aufsteigenden oder vom Abstieg bedrohten Schicht angehört und darüber hinaus auch noch Nutzer verschiedener Medien ist?
Mit anderen Worten könnte man also fragen, warum manche Erfahrungen, in einer bestimmten Art von Situation, in der Lage sind, Stimmungen zu erzeugen, die situationsübergreifende Wirkungen entfalten – andere hingegen nicht. An einigen Stellen deutet Bude an, dass Stimmungen (auch) aus Affekten und episodenhaften Gefühlen hervorgehen können, sich letztere also in Stimmungen verdichten und verfestigen können (43). Im Kontext seiner Ausführungen zu Etablierten-Außenseiter-Figurationen (Kapitel 6) wird dieser „Interaktionsweg“ (43) kurz erwähnt. Konkret merkt Bude an, dass „Gefühle von Scham, Neid, Rache und Angst [...] in die Stimmung“ (103) zwischen Etablierten und Außenseitern eingehen und auf Seiten der Etablierten eine „Stimmung hochmütiger Angespanntheit, missgünstiger Aufmerksamkeit und unnachgiebiger Verbissenheit“ erzeugen könnten (95). Abstrahiert man diese Aussage, so liegt die Vermutung nahe, dass zumindest manche Stimmungen aus der Erfahrung emotional aufgeladener (Interaktions-)Situationen erwachsen – sei es nun aus einmaligen, aber intensiven, oder eben aus weniger intensiven, aber dafür wiederholten Gefühlserlebnissen.
Dieser Überlegung könnte man mithilfe der von Emile Durkheim geprägten Arbeiten des Mikrosoziologen Randall Collins über rituelle Interaktionsketten[1] oder aber Hans Joas‘ Ideen über Erfahrungen der Selbsttranszendenz[2] weiter nachgehen. Auch an anderen Stellen drängen sich Anknüpfungspunkte zur Emotionssoziologie und ihren Überlegungen zur sozialen Genese und Wirkung affektiver Phänomene auf und es ist erstaunlich, dass Bude diesen Forschungszweig, der seit fast dreißig Jahren besteht[3], an keiner Stelle berücksichtigt. Vielmehr verweist er auf die (ältere) Emotionspsychologie, auf Martin Heidegger, den phänomenologischen Gefühlsansatz von Hermann Schmitz sowie die ästhetische Debatte in den Literaturwissenschaften. Dieser Blick über die disziplinäre Fachgrenze hinaus kann inspirierend sein, doch ist er viel zu knapp gehalten, um einen Mehrwert gerade im Vergleich zu den emotionssoziologischen Arbeiten erkennen zu lassen.
Unter dem Begriff der Emotion oder des Gefühls werden bei Letzteren zudem nicht nur kurzfristige und episodenhafte, sondern auch länger andauernde emotionale Zustände verhandelt. So findet man etwa bei Jack Barbalet den Begriff des emotionalen Klimas, der Budes Idee der Stimmung nahekommt.[4] Helmut Kuzmics und Sabine Haring wiederum haben in Anlehnung an Norbert Elias das Konzept eines emotionalen Habitus entwickelt, das ebenso wie der Begriff der Stimmung dazu geeignet sein könnte, als ‚Schlüsselkategorie für den ganzen Menschen‘ zu fungieren.[5] Die Erkenntnisse und konzeptuellen Vorschläge aus der Emotionssoziologie könnten hilfreich sein, um die Vielzahl der von Bude unter dem Begriff der Stimmung diskutierten Beispiele weiter aufzuschlüsseln. Eine solche Differenzierung und Abgrenzung von ähnlichen Phänomenen dürfte wiederum die konkreten Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen von Stimmungen nachhaltiger erhellen. Ganz grundsätzlich könnte man dann auch noch einmal der Frage nachgehen, inwiefern es berechtigt und sinnvoll ist davon zu sprechen, dass Stimmungen „ein Gefühl der Welt vermitteln“ (9f.), so wie es der Buchtitel nahelegt. Die Charakterisierung einer Stimmung als „Grundton oder Gesamtfärbung des Auffassens und Erlebens“ (22) oder als „Art und Weise, wie ich in der Welt bin“ (39) ist eine erste Annäherung, muss aber sicher noch weiterentwickelt werden. Wenn das Buch von Heinz Bude Lust darauf macht – oder mit anderen Worten: wenn es einen in die Stimmung versetzt, diesen und ähnlichen Fragen weiter nachzugehen –, hat es zumindest den Weg hin zu einer Soziologie der Stimmung geebnet.
Fußnoten
- Randall Collins, Interaction Ritual Chains, Princeton, NJ, 2004.
- Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1997.
- Einen guten Einstieg und Überblick geben Konstanze Senge / Rainer Schützeichel (Hrsg.), Hauptwerke der Emotionssoziologie, Wiesbaden 2013.
- Jack M. Barbalet, Emotion, Social Theory and Social Structure. A Macrosociological Approach, Cambridge 1998.
- Helmut Kuzmics / Sabine Haring, Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg. Soziologische Studien zum militärischen Untergang der Habsburger Monarchie, Göttingen 2013.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.
Kategorien: Gesellschaft Affekte / Emotionen
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