Philipp Staab | Rezension |

Dividuell aktiviert

Dennis Eversberg erklärt, wie Arbeitsmarktpolitik Subjektivitäten produziert

Dennis Eversberg:
Dividuell aktiviert. Wie Arbeitsmarktpolitik Subjektivitäten produziert
Deutschland
Frankfurt am Main 2014: Campus
686 S., EUR 45,00
ISBN 9783593500591

Knapp 700 eng bedruckte Seiten sind ein stattlicher Umfang für eine soziologische Dissertation, zudem auch einschüchternd. Hat man dennoch den Mut gefasst, sich dem Buch zu widmen, besteht am Ende kein Anlass, das ordentliche Lektürepensum zu bedauern. Zwar ist der Untertitel des Buches ein wenig unglücklich gewählt. Er suggeriert, Arbeitsmarktpolitik – gemeint sind damit vor allem jene Reformen, die in Deutschland während der 2000er-Jahre als „Agenda 2010“ von der Schröder-Regierung angestoßen wurden – produziere „Subjektivitäten“. Doch sind soziologische Sondierungen zur Erzeugung bestimmter Weisen menschlichen Denkens, Fühlens und In-der-Welt-Seins gerade nicht Eversbergs Programm. Vielmehr interessiert den Autor das rekursive Verhältnis von Macht und individueller Widersetzlichkeit. Was Eversberg thematisiert, ist das Wechselspiel, in dessen Verlauf sich Subjektivitäten verändern, ohne dass unterstellt würde, Individuen seien willige Empfänger ideologischer Indoktrination. Einfach ausgedrückt heißt das: Eine Qualifizierungsmaßnahme ändert nicht einfach den Menschen entsprechend einer vorgegebenen Blaupause. Sie versucht zwar, Einfluss auf seine Subjektivität zu nehmen. Doch sorgen Kooperation wie Widerstand, Fehlinterpretationen wie Überanpassungen, letztlich dafür, dass sich die Praxis derjenigen, die durch eine Maßnahme adressiert werden, nie so verändert, wie es unter Umständen intendiert war. Also produziert Arbeitsmarktpolitik keine Subjektivitäten, sondern beeinflusst sie allenfalls, freilich in ganz spezifischer Weise.

Zunächst liefern Eversbergs empirische Erkundungen, die in einer Aktivierungsmaßnahme für langzeitarbeitslose Jugendliche vorgenommen wurden, eine tiefenscharfe Beschreibung des Hin und Her zwischen den Imprägnierungsversuchen der Ausbilder oder Coaches und den Reaktionen der Jugendlichen. Aufschlussreich an diesen Befunden ist Eversbergs Nachweis, dass diese Wechselwirkung einer ganz eigenen Logik folgt, die er „Dividualisierung“ nennt. Sie findet freilich im Kontext von Klassenverhältnissen statt, die mit dem zu simplen Bild bloß vertikaler Schichtung nicht zu erfassen sind. Dem Autor liegt also an Differenzierung der sozialen Wirklichkeiten, halbe Sachen sind ihm völlig fremd. Bevor die Leserin zum empirischen Kern der Arbeit vordringt, hat sie mehr als zweihundert Seiten theoretischer Operationalisierung zu überwinden. In den Werkstätten namhafter Theoretiker (selbstverständlich sind Herrschaftskritiker wie Pierre Bourdieu und Michel Foucault vertreten) nimmt der Autor eine systematische Inventur vor, um sich mit einem wohlsortierten Werkzeugkasten und prononcierten Forschungshypothesen für seine empirische Analyse zu präparieren.

Dem theoretischen Muskelspiel ist ein Kapitel vorgeschaltet, das eine materialistisch orientierte, historische Kontextualisierung des Aktivierungsbegriffs bietet. Eversberg zeigt, wie die Strukturveränderungen des Kapitalismus seit den 1960er-Jahren Anreize für neue Prozesse der Landnahme gesetzt haben. Sie zielten, soweit die Arbeitsmarktpolitik betroffen war, vor allem auf die Subjektivitäten bestimmter Segmente innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Aktiviert werden sollten jene Arbeitnehmer_innen, die sich gewissermaßen bequem im warmen Stall des Fordismus eingerichtet hatten. Denen, die das Privileg eines heute geradezu nostalgisch verklärten Normalarbeitsverhältnisses genossen, sollte beigebracht werden, sich als „Arbeitskraft“ im strengen Sinne des Wortes zu präsentieren. Die Botschaft lautete, sich dem Markt nicht schlicht zur Verfügung zu stellen, sondern in Bezug auf die Verwertung eigener Arbeitskraft zu einem wirklich aktiven Subjekt zu werden. Sie selbst hatten für ihre „Employability“ zu sorgen.

Eversberg interpretiert das Ensemble dieser Initiativen als einen Prozess, in dem es um arbeitsmarktpolitische Neujustierungen im Rahmen gegebener Klassenverhältnisse ging: Jene Teile der Arbeitnehmerschaft, die für vergleichsweise niedrige Löhne mit relativ geringen Anforderungen an ihre Selbsttätigkeit und einem hohen Maß an institutioneller Sicherheit entschädigt worden waren, sollten sich ein neues Selbstverständnis aneignen. Erwartet wurde die Anpassung an Arbeitskräfte, die schon seit geraumer Zeit einem höheren Risiko auf Arbeitsmärkten auch höhere Dividenden in Bezug auf Lohn und Status abgerungen hatten. Die neue Ausrichtung an den Ungewissheiten des Arbeitsmarktes sollten die zu Aktivierenden allerdings unter Bedingungen einüben, die auf eine Absenkung ihrer finanziellen Perspektiven hinausliefen. Die sich daraus ergebende Herrschaftsproblematik – wieso sollten die Betroffenen die Verschlechterung ihrer Lage einfach schlucken? – wurde mittels der sanktionsbewehrten Reform des Wohlfahrtsstaates gelöst.

Im Fokus des empirischen Interesses steht „KapUZe“, eine aktivierungspolitische Pilotmaßnahme, an der zwischen 2007 und 2008 mehrere Dutzend Jugendliche teilnahmen, die eine Grundsicherung gemäß dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) bezogen. Es handelte sich um ein Public-Private-Partnership, in deren Rahmen eine Leiharbeitsfirma im Auftrag der jeweiligen ARGEn die Jugendlichen, die zuvor bei einem Eignungstest reüssiert hatten, zeitweise als Leiharbeitnehmer beschäftigte, um sie an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Die Jugendlichen wurden dabei von sozialpädagogischen Coaches begleitet. Eversberg liefert eine detaillierte Analyse der Entstehungsgeschichte von KapUZe sowie der Rationalität des Projekts, dessen oberstes Ziel darin bestand, die Beschäftigungsfähigkeit der Teilnehmer zu erhöhen. Mit Foucault und Gilles Deleuze deutet Eversberg dieses Optimierungsunterfangen als ein Phänomen neuer „kontrollgesellschaftlicher Herrschaftsmodi“, das eine Antwort auf die „Krise der Erschließungsmilieus“ (361) von Arbeitskräften darstelle. Hinter diesen analytischen Begriffen verbirgt sich die verhältnismäßig etablierte Einsicht, der zufolge weder Familie noch Schule als traditionelle Erschließungsmilieus die betreffenden Jugendlichen angemessen an die Herrschaftsformation des Arbeitsmarktes heranführen. Auch der Betrieb fungiere nicht mehr als klar strukturiertes Erschließungsmilieu, jedenfalls nicht für jene Randbelegschaften, zu denen die Jugendlichen als Zeitarbeitnehmer gehörten. Die Zeitarbeitsfirma ist für Eversberg denn auch das Sinnbild des von ihm beobachteten neuen Herrschaftsmodus, ein Urbild „flexibler Instabilität“: „Nicht das geordnete, überschaubare, strikt geordnete Fabrikmilieu, sondern diese ‚metastabile‘ Modulation […] ist es, in die die Subjektivierungstechnologien eines Kontrollprojektes wie KapUZe die Teilnehmenden integrieren sollen, indem sie sie in ihrer Subjektivität verankern.“ (362)

Dabei fungiert die Zeitarbeitsfirma ihrerseits tatsächlich nicht als ein Erschließungsmilieu, das ein Individuum womöglich erfolgreich in eine hierarchische Ordnung integriert. Vielmehr exekutiert sie einen Herrschaftsmodus, der auf Dividuierung abzielt, das heißt auf eine Aufspaltung des Individuums in Eigenschaften und Merkmale, die mehr oder weniger marktgängige Assets darstellen. Den deutlichen Beleg für einen solchen Subjektivierungszugriff liefern sowohl die Potenzialeinschätzungen der ARGEn als auch die persönlichen Entwicklungspläne, wie sie die Zeitarbeitsfirma erstellt. „KapUZe schafft und nutzt seiner Konzeption nach eine Reihe von Codes, die die einzelne Teilnehmerin in einzelne Bestandteile zerlegen, als Bündel dieser Bestandteile sichtbar machen, die einzelnen Bestandteile zum Bearbeitungsgegenstand erklären und ihre Bearbeitung […] dann auch praktisch organisieren sollen. Kurz: Das Projekt ist ein Dividualisierungsprojekt.“ (366)

Doch ist diese Strategie auch erfolgreich? Begreifen sich die Jugendlichen irgendwann selbst als Bündel zu optimierender Assets, die unter dem leitenden Imperativ agieren, die eigene Marktanpassung sicherzustellen? Zunächst stellt Eversberg fest, dass die Zeitarbeitsfirma, die die Maßnahme durchführte, ihre eigenen hehren Ansprüche an eine marktorientierte Dividuierung der Jugendlichen faktisch nicht einzulösen vermochte. In den Betrieben hatten die Jugendlichen nämlich zeitweilig Tätigkeiten nachzugehen, deren Erledigung keine Dividuen verlangten, sondern integrierte Personen und ganze Individuen. Von daher funktionierten die Betriebe ihrerseits, um es in Eversbergs Worten zu sagen, weiterhin und durchaus als Erschließungsmilieus. (444) Solange ein Jugendlicher in deren Arbeitsabläufe eingebunden sei, müsse er – Dividuierungsrhetorik hin oder her – nach den dort geltenden Regeln spielen. Sonach stellt Eversberg heraus, dass es bei Lichte besehen keineswegs im Interesse der Leiharbeitsfirma liege, die Jugendlichen in marktkompetente Akteure zu verwandeln. Würde die angesteuerte Metamorphose gelingen, würde sich der Jugendliche ja aus der Abhängigkeit von der Firma befreien und womöglich anderswo bewerben können. (445) Schließlich verfüge die Zeitarbeitsfirma nicht über die Macht, durchzusetzen, was ihr offizielles Programm verspreche. Bei Eversberg, dem begriffliche Präzision über Schönheit der Wissenschaftsprosa geht, klingt das resümierende Fazit so: Die „Problematik besteht darin, dass es sich bei der Zerlegung der Qualifizierung in Module und der Dokumentation erfolgreich absolvierter Einheiten durch Zertifikate eben nicht um eine genuine Kontrolltechnologie, sondern um eine kleinteilig heruntergebrochene Disziplinartechnologie handelt.“ (446) Ist die Dividuierungsideologie also nur Marketingrhetorik und heiße Luft? Eversberg scheint diese Frage weitgehend zu bejahen. Auch wenn er ein differenziertes Wechselspiel zwischen den Dispositionen der Jugendlichen, der Disziplinartechniken der Zeitarbeitsfirma und den jeweiligen Anforderungen der Betriebe rekonstruiert, in denen die Probanden zum Einsatz kommen, vermerkt seine Bilanz, „subjektivierende Wirkungen“ seien „insgesamt kaum nachweisbar“ gewesen. (620)

Warum diese überzeugend begründete Erkenntnis sich nicht im Titel der Studie niedergeschlagen hat, der ja behauptet, Arbeitsmarktpolitik erzeuge Subjektivitäten, bleibt das Geheimnis des Autors. Was Eversbergs tatsächlichen Befund angeht, ist die Sachlage eindeutig: Minutiös wird nachgezeichnet, wie hochgradig selektiv die Jugendlichen auf die Angebote des Dividuierungsprogramms zugreifen. Was nun diese Selektivität angeht, so beobachtet Eversberg zudem einen bemerkenswerten Ungleichheitseffekt. Am besten wissen diejenigen Jugendlichen die Aktivierungsmaßnahme für sich zu nutzen, die bereits mit einer Ressourcenausstattung an den Start gehen, die dem Dividualisierungsparadigma korrespondiert. Eversberg formuliert diesen Befund folgendermaßen: „Da die Technologien von KapUZe in ihrer übergeordneten Artikulation angelegt waren auf die Erzeugung dividualisierender Situationen und die Produktion dividualisierender Subjektivitäten, da sie strategisch darauf ausgerichtet waren, dem zeitgenössischen Modus der Produktion dividueller Arbeitskraft den Teilnehmenden gegenüber zur Wirksamkeit zu verhelfen, ist die Frage der Fähigkeit zur praktischen Aneignung dieser Technologien oder des Zwangs zur Unterordnung unter sie im Kern eine des Verhältnisses zu den Produktionsmitteln auf dem aktuellen Stand der (sozial- und selbst-)technologischen Entwicklung, konkret: den Produktionsmitteln der eigenen Individualität als ‚Kompetenzsubjekt‘.“ (622 ) Gemeint scheint mit dieser, stark generalisierenden, Aussage zu sein, dass im Kontext der Aktivierungsmaßnahme ein spezifisches Potenzial der Aneignung von Kontrollversuchen durch die vermeintlich Herrschaftsunterworfenen zu beobachten ist: Der Jugendliche mag „Ja“ zu allem sagen, wie er sich letztlich verhält – ob er beispielsweise trotz generellem „Ja“ nur umsetzt, was ihm aus seiner Sicht nutzt –, ist seine Sache und hängt von seinen jeweiligen Fähigkeiten ab, was Abgrenzung und Selbstbehauptung angeht. Die „Produktionsmittel der eigenen Subjektivität“ (Eversberg) sind also insofern ‚demokratisiert‘, als sie durch die partiell Unterworfenen gestaltbar sind. Die Jugendlichen unterscheiden sich daher hinsichtlich ihre Skills, die besagten ‚Produktionsmittel‘ zum Einsatz zu bringen.

Eversberg entlässt seine Leserschaft mit einer Unschärfe, die seinem begrifflichen Muskelspiel geschuldet ist. Freilich vermittelt die sich hieraus ergebende Mehrdeutigkeit interessante Denkanstöße. So beobachtet Eversberg ja keineswegs einfach die Reproduktion von Klassen in einem herkömmlichen, vertikal-schichtungstheoretischen Sinne. Er kapituliert als Soziologe auch nicht vor der Subjektivität der Akteure, reduziert die jeweiligen Ungleichheitseffekte also keineswegs auf nur individuelle Faktoren, die sich gewissermaßen aus der Einzigartigkeit der jeweiligen Subjekte ergeben. Vielmehr thematisiert Eversberg Klassen von Subjekten, die gegebenenfalls derselben Schicht angehören, sich jedoch durch ihr subjektives Vermögen unterscheiden, die Dividuierungsimperative entweder für eigene Zwecke zu nutzen oder sich ihnen auszuliefern. Ausschlaggebend für den Umgang mit den Offerten sind individuell unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen, die man alltagssprachlich wohl am ehesten als Cleverness bezeichnen würde. Dabei unterscheiden sich die jeweiligen „Individualitätsklassen“ (640) dadurch, dass die Fähigkeiten zu einer mehr oder weniger umfassenden Aneignung der Dividuierungsanforderungen individuell variieren. In diesem Zusammenhang weist Eversberg darauf hin, dass die Unfähigkeit zur Anpassung vornehmlich dort zu beobachten ist, wo die Flexibilität der jeweiligen Personen etwa durch eine starke Fixierung auf respektable Beruflichkeit eingeschränkt wird. Außerdem spielen individuell variierende Selbstführungskompetenzen und Fremdführungsbedürfnisse keine unbedeutende Rolle für den Umgang mit den Angeboten. Deren etwaige Effizienz wird offenbar auch durch Unterschiede hinsichtlich der individuell variierenden Fähigkeit zu autonomer Alltagsgestaltung und Lebensplanung beeinflusst.

Eversberg regt mit dieser Differenzierung dazu an, die Vektorlogiken sozialer Ungleichheit neu zu konzipieren, nämlich anhand subjektiver Individualisierungskompetenzen, die selbstverständlich nicht unbedingt mit spezifischen Berufsklassen korrelieren. Wie sich solche Kompetenzen zur Ausprägung individueller Lebensführung unter sozialstruktureller Perspektive verteilt finden, ist daher eine animierende Frage, die das Buch aufwirft. Ob seine Befunde anschlussfähig an eine klassentheoretische Debatte über die Entwicklung sozialer Ungleichheit in der Gegenwart sein werden, wird sich an der Möglichkeit ihrer Verbindung mit vertikalen Dynamiken sozialer Stratifizierung entscheiden.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Tine Haubner.

Kategorien: Arbeit / Industrie

Philipp Staab

Philipp Staab ist Professor für die Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Einstein Center Digital Future (ECDF).

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