Lars Gertenbach | Essay |

Elemente einer anderen Geschichte der Disziplinargesellschaft

Michel Foucaults Vorlesungen „Die Strafgesellschaft“ (1972–1973) und „Die Macht der Psychiatrie“ (1973–1974)

Sammelrezension zu:

Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1972–1973, übers. von Andrea Hemminger, hrsg. von Bernard E. Harcourt, Berlin 2015.

Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973–1974, übers. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, hrsg. von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2005.

Im Werk von Michel Foucault kommt den dreizehn Vorlesungsreihen, die er zwischen 1970 und 1984 am Collège de France gehalten hat, ein besonderer Stellenwert zu. Als Inhaber der Professur zur Geschichte der Denksysteme war er verpflichtet, jedes Jahr ein neues Forschungsvorhaben vorzustellen. Dieser Aufgabe entledigte er sich in erster Linie mittels der Vorlesungen, die dementsprechend vielfach den Charakter eines Entwurfs tragen. Auch wenn sie gelegentlich Forschungen skizzieren, die er in späteren Schriften ausführlicher umgesetzt hat, finden sich in ihnen ebenso viele nicht wieder aufgenommene oder abgebrochene Vorhaben wieder. Neben den zahlreichen Interviews und kleineren Texten, die in den vier Bänden der Dits et Écrits versammelt sind, lässt sich so auch über die Vorlesungen – inhaltlich wie stilistisch – ein anderer Foucault entdecken als in den Monografien.

Das Ergebnis ist eine merkliche Differenz zu Vorlesungen anderer Philosophen: Nicht nur legt Foucault wenig Interesse an den Tag, sich wie viele Kollegen an kanonischen Namen des Faches abzuarbeiten, es ist auch bemerkenswert, wie häufig er sich selbst korrigiert, das eigentlich anvisierte Vorhaben ab- oder unterbricht und mehr Fragen stellt als Antworten gibt. Nicht in allen, aber doch in vielen Vorlesungen spürt man eine experimentelle Haltung, ebenso wie einen tentativen, fast unsicheren Gestus: „Ich werde mit einer gewissermaßen spielerischen Hypothese beginnen. […] Ich frage mich, ob man nicht versuchen könnte […].“ – lauten etwa die ersten Sätze der Vorlesung Die Strafgesellschaft.[1] Noch stärker als die Monografien machen die Vorlesungen einen für Foucaults Arbeitsweise und Theorieverständnis eminent wichtigen Punkt sichtbar: dass Forschung nicht als sukzessive Umsetzung eines einmal gestellten Plans oder als Perfektionierung von Theoriegebäuden begriffen werden sollte. Symptomatisch hierfür sind auch die Vorliebe für Konjunktivformulierungen und die häufige Verwendung des Adverbs vielleicht (allein in seiner Antrittsvorlesung macht er 27-mal davon Gebrauch).[2] Die damit verbundene Forschungshaltung sowie die Neigung zu häufigen Reformulierungen seiner Thesen sind geradezu prototypisch in den Vorlesungen zu beobachten – „Ich werde anfangen […], ohne mir übrigens dessen, was ich Ihnen da sage, sehr sicher zu sein“.[3] Im Unterschied zu einigen anderen Philosophen bietet Foucault in seinen Vorlesungen dementsprechend keine Erläuterungen und Erklärungen seiner Monografien an.

Nicht zuletzt kommt den Vorlesungen deshalb Bedeutung zu, weil sie die Entwicklungsdynamik eines Werkes aufzeigen, das durch zahlreiche Brüche und längere Schreibpausen gekennzeichnet ist. Entsprechend sind gerade jene Vorlesungszyklen interessant, die sich im Zwischenbereich verschiedener Werkphasen von Foucault befinden. Neben der Lücke von den späten 1970er- bis zu den frühen 1980er-Jahren, in die nicht nur die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität, sondern auch die Hinwendung zur Antike und den Technologien des Selbsts fallen, findet sich eine zweite größere Leerstelle in den frühen 1970er-Jahren.

Die 2015 erschienene Vorlesung Die Strafgesellschaft (1972–1973) schließt zusammen mit der chronologisch darauffolgenden, aber bereits 2005 veröffentlichten Vorlesung Die Macht der Psychiatrie einen bedeutenden Teil dieser Lücke zwischen der Archäologie des Wissens (1969) und Überwachen und Strafen (1975). Inhaltlich interessant ist diese längere Schreibpause bei Foucault vor allem deshalb, weil er in ihr von der Diskursanalyse zur Analytik von Wissen/Macht-Verhältnissen übergeht. Die beiden Vorlesungen versprechen also zusammen mit den bislang nur auf Französisch vorliegenden Théories et institutions pénales (1971–1972) Aufschluss über den konzeptionellen und thematischen Wandel dieser bei Foucault immens wichtigen Werkphase.

Die Strafgesellschaft

Thematisch knüpft Die Strafgesellschaft an ein Programm an, das Foucault bereits in der Zusammenfassung der Vorlesung des Vorjahres skizziert hatte. In einer ersten Erweiterung der Diskursanalyse begann er dort, sich mit neuen Formen der sozialen Kontrolle und der „Ausbildung einer neuen Art Macht-Wissen“[4] zu beschäftigen. Dabei kündigte er bereits an, dass „die Erforschung dieser neuen Art und der Funktionen und Formen, die sie im 19. Jahrhundert annahm, […] in der Vorlesung des Jahres 1972–1973 unternommen werden [wird]“.[5] Der Hinweis auf die Verschränkung von Macht und Wissen deutet bereits auf die Arbeit an Überwachen und Strafen hin, vor allem das historische Material stellt aber den Bezug her: Foucault interessiert etwa, „welche Machtverhältnisse das historische Auftreten von so etwas wie dem Gefängnis möglich gemacht haben“ (SG: 123) oder wie „das Gefängnis […] Ende des 18. Jahrhunderts in das Strafwesen Einzug gehalten und dort sehr schnell den gesamten Raum eingenommen hatte“ (SG: 339).

Trotz der offenkundigen Überschneidungen und der direkten Auseinandersetzung mit dem Gefängnis wäre es aber verfehlt, die Vorlesung bloß als Rohfassung oder Vorläufer des Buches zu begreifen. Nicht nur diskutiert Foucault darin zahlreiche Themen, die im Buch kaum oder gar nicht mehr aufgegriffen werden, er schlägt in einigen Hinsichten auch eine andere Richtung ein. Zentral für die Argumentation ist zunächst die genauere Bestimmung des Machtkonzepts. Die auch aus späteren Werken bekannte Kritik an den (juridisch-repressiv konzipierten) Modellen des Ausschlusses und der Überschreitung (SG: 15, 18) wird hier allerdings – im Unterschied zu Überwachen und Strafen – nicht direkt in die Idee einer produktiven Disziplinarmacht überführt; vielmehr geschieht das erst in den letzten Vorlesungssitzungen (SG: 271) und vor allem in der darauffolgenden Vorlesungsreihe (MP: 42f., 76f.).

Prägend ist stattdessen die Terminologie des Bürgerkriegs: „Die tagtägliche Machtausübung muss man als einen Bürgerkrieg betrachten können: Macht auszuüben ist eine bestimmte Art, Bürgerkrieg zu führen, und all die Instrumente, die Taktiken, die man hier ausmachen kann, müssen in den Begriffen des Bürgerkriegs zu analysieren sein.“ (SG: 53)[6] Diese Stelle ist bemerkenswert, und zwar nicht nur, weil diesem Modell in den weiteren Arbeiten von Foucault keine so zentrale Rolle mehr zukommt.[7] Es eröffnet ihm auch einen anderen Zugang zum Thema. Wird das Gefängnis in Überwachen und Strafen eher aus der inneren Logik der Disziplin, als „Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus“[8] beschrieben, erscheint es hier noch primär als ein taktisches Mittel in historischen Kämpfen. Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen.

Erstens lässt sich die Transformation der Strafpraxis sowie die Geburt der Überwachungs- und Kontrolltechniken stärker auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Zeit beziehen. Das Gefängnis steht im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Arbeiter als (für das Bürgertum) „gefährliche Klasse“ (SG: 238ff.) oder den Anforderungen bei der Durchsetzung der kapitalistischen Arbeitsdisziplin. Ausführlich beschäftigt sich Foucault folglich mit der strategischen Intelligenz der bürgerlichen Klasse (SG: 229) oder der Art und Weise, wie die Individuen körperlich und psychisch „für eine bestimmte Zeit an einen bestimmten Produktionsapparat gebunden werden“ (SG: 315). Besonders der letzte Punkt erhellt Foucaults Kritik an Karl Marx, der zufolge die politische Ökonomie durch eine politische Anatomie der Körper zu ergänzen sei: „Es ist falsch, mit einigen berühmten Nachhegelianern zu sagen, dass das konkrete Wesen des Menschen die Arbeit ist. Die Zeit und das Leben des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Vergnügen, Diskontinuität, Feiern, Ausruhen, Bedürfnis, Moment, Zufall, Gewalt etc. Diese ganze explosive Energie muss man nun in eine dauernd und dauerhaft zu Markte getragene Arbeitskraft transformieren. Man muss das Leben in Arbeitskraft synthetisieren, was den Zwang des Beschlagnahmesystems erfordert.“ (SG: 316)

Das Gefängnis wird zweitens weitaus stärker in Verbindung zu Arbeits- und Produktionsformen gesetzt als zu den abstrakten Theorien des Strafrechts. Foucault geht es eher um „Taktiken der Bestrafung“ (SG: 95) als um die Entwicklung des Rechtswesens. Ein besonderes Augenmerk legt er auf die zentrale Rolle, die dabei der Zeit zukommt, nicht zuletzt weil hierin eine Verwandtschaft mit der Lohnarbeit bestehe. „Das Strafsystem lässt als Sanktion des Verbrechens die Gefängnis-Form auftauchen, die […] eine Verwandte der Lohn-Form ist: Genau wie man für die Arbeitszeit einen Lohn bezahlt, nimmt man umgekehrt die Zeit in Freiheit als Preis für ein Vergehen.“ (SG: 105)

Drittens setzt er dadurch der Etablierung des Gefängnisses einen anderen Bezugspunkt entgegen als später im Buch. Im Zentrum steht weniger das abstrakte und allgemeine Modell disziplinärer Macht, das im Gefängnis seine paradigmatische Umsetzung findet. Stattdessen geht es um die Verallgemeinerung der spezifischen Form des Gefängnisses (SG: 147) und deren Rolle in den gesellschaftlichen Kämpfen wie auch bei der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise.

Und viertens hat der spezifische Zugang zum Thema die konzeptionelle Folge, dass sich die Kritik an der repressiven Konzeption der Macht (in den Begriffen des Ausschlusses und der Überschreitung) anders begründet als im Buch: Sie fußt nicht auf der gesellschaftstheoretischen These einer historischen Verwandlung der Macht selbst (von Souveränität zu Disziplin), sondern auf der sozialtheoretischen Annahme einer prinzipiellen Unzulänglichkeit dieser Modelle für eine historisch-politische Analyse von Machtbeziehungen.

Im Prinzip richten sich die Vorlesungen damit auch gegen das Streben nach Linearität und Vereinfachung in historischen Erklärungen. Indem Foucault detailliert beschreibt, wie sich aus vielfachen Umbrüchen ein komplexes Zusammenspiel von Strafrechtssystem, Moral, Recht und kapitalistischer Ökonomie ergibt, plädiert er für eine zugleich komplexere und konkretere historische Analyse – sei es bei der Geburt des Gefängnisses, der Disziplinarmacht oder der Etablierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Er wendet sich gegen einfache Kausalmodelle, in denen die Strafrechtspraxis etwa aus den Anforderungen der Produktionsweise, vorherrschenden Ideologien oder der inneren Logik der Institutionen abgeleitet oder als Reaktion auf allzu konkrete historische Probleme dargestellt wird (Urbanisierung, Verelendung, Kriminalität etc.). Charakteristisch für die Vorlesungen ist beispielsweise, dass die Entwicklung der Strafpraxis mit einer Genealogie der Moral verknüpft wird,[9] indem Foucault etwa darlegt, wie das Gefängnis als Buß- und Besserungsanstalt „mit dem Gewicht der christlichen Moral“ (SG: 133) ausgestattet ist, sich aus den Praktiken der Quäker und anderer Religionsgemeinschaften heraus entwickelt (SG: 146) und zur Moralisierung der Arbeiterklasse eingesetzt wird (SG: 154).

Obwohl Foucault am Ende der Vorlesungen auch allgemein von der Disziplinargesellschaft spricht (SG: 271), entwirft er insgesamt ein weitaus vielschichtigeres Bild als das eines großen Bruchs zwischen Vormoderne und Moderne. Genau darin bleibt letztlich das spätere Buch maßgeblich hinter der Vorlesung zurück. Denn Überwachen und Strafen wird nicht nur von Foucault-Gegnern so gelesen, als ginge es um eine weitgehend vollendete historische Ablösung und Ersetzung von einer Machtform durch eine andere. Foucault legt ja selbst eine solche epochale Differenz nahe. Seine emphatische Betonung des historischen Bruchs zwischen dem Souveränitäts- und dem Disziplinarmodell lässt nur wenig Raum für nuancierte Analysen der Verschränkungen und Vermischungen verschiedener Machtformen. Das Gleiche gilt beispielsweise für seine generelle Kritik juridisch-repressiver Machtmodelle und die Zurückweisung von Guy Debords These der Gesellschaft des Spektakels. Die geradezu monolithische Schilderung der Disziplinargesellschaft, die Ausführungen zur Isomorphie der Fabriken, Schulen, Kasernen, Spitäler und Gefängnisse[10] sowie die Beschreibung des Panoptismus als „endlos verallgemeinerungsfähiger Mechanismus“[11] haben zu einem guten Teil dazu beigetragen, dass die Rezeption diese Thesen nicht nur zu einer umfassenden Theorie der Moderne erhoben hat, sondern deren Protagonisten später auch voller Erstaunen behaupten konnten, Foucault habe in seinem Spätwerk nun (endlich) das Subjekt entdeckt. Die Vorlesungen offenbaren, wie sehr das Buch bestimmte Vorarbeiten der Vorlesungen selektiv zuspitzt. Gerade dieser Punkt wird noch deutlicher, wenn man die anschließende Vorlesung Die Macht der Psychiatrie mit hinzuzieht.

Die Macht der Psychiatrie

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Vorlesungsreihen nicht viel gemeinsam zu haben: hier Strafinstitutionen, dort Psychiatrie, hier die Bindung der Arbeiterklasse an den Produktionsapparat, dort die Macht über den Wahnsinn und die Anomalie. Und während die eine Vorlesung die Umrisse eines zukünftigen Buches erkennbar werden lässt, greift die andere Arbeiten im Umkreis von Wahnsinn und Gesellschaft wieder auf, die zu diesem Zeitpunkt bereits zwölf Jahre zurückliegen. Was begründet also diese Verschiebung des Interesses? Obwohl der Themenwechsel von der Strafpraxis zur Psychiatrie durchaus bemerkenswert ist, führt Foucault doch zentrale Gedankenstränge seiner vorigen Vorlesung fort. So ist Die Macht der Psychiatrie keine Neuauflage früherer Werke, sondern der Versuch, sich der Psychiatrie erstmals unter explizit machtanalytischen Gesichtspunkten zu widmen. Im Kern kartografiert Foucault dieses für ihn bekannte Feld anhand seiner These der Disziplinargesellschaft neu, zu der er am Ende von Die Strafgesellschaft gelangt ist. Er problematisiert nicht nur die auch in seinem Werk allzu vertraute Identifikation von Psychiatrie und Ausschluss, sondern fragt nach dem Funktionieren der Psychiatrie innerhalb des Disziplinarapparats sowie der Disziplinarmacht in der Psychiatrie. Statt um eine Rückkehr zu früheren Arbeiten handelt es sich damit um eine Art Anwendungstest der nunmehr entwickelten und in dieser Vorlesung noch weiter auszuarbeitenden These der Disziplinarmacht.

Entsprechend korrigieren die Vorlesungen die Herangehensweise seiner früheren Arbeiten. Dabei orientiert sich Foucault weniger an den Prozeduren des Ausschlusses, sondern beschäftigt sich mit der spezifischen Rolle der Psychiatrie bei der Etablierung des Disziplinarmodells. Er schildert die psychiatrische Macht nicht als ausschließende und unterdrückende Instanz, sondern als Wissen erzeugende Praxis, die als Wahrheitsinstanz auftritt (MP: 194). Neben der hieran anschließenden Analyse des Wandels der medizinisch-therapeutischen Praxis besticht Foucaults Schilderung der „Mikrophysik der Anstaltsmacht“ (MP: 271) dadurch, dass sie die Wahrheitsspiele und Wissensformen ins Zentrum rückt, die mit der Einführung eines Dispositivs der Disziplin in den Anstaltsraum (MP: 271) und der Etablierung der Normalitätsmodelle (MP: 301) in der Psychiatrie einhergehen. Besonders die Darstellung der doppelten Einführung der Norm ist hier instruktiv: Am Beispiel der im 19. Jahrhundert viel diskutierten „Idiotie“ wird deutlich, wie einerseits der Erwachsene normativ als Endpunkt einer Entwicklungsvorstellung gesetzt wird und andererseits die Kindheit zum bevorzugten Wissensfeld der Psychiatrie wird, weil sich mit ihr eine Vorstellung von Normalität als (durchschnittliche) Entwicklung verbinden lässt. Der Psychiatrie gelinge es so, bestimmte Phänomene wie die „Idiotie“ aus dem Bereich der Krankheiten herauszunehmen und als Probleme der (kindlichen) Entwicklung zu begreifen (MP: 301ff.).

Diese (und andere) Umbrüche sind deshalb für Foucault von zentraler Bedeutung, weil sie der Psychiatrie über die Behandlung des Wahnsinns hinaus einen völlig neuen Aktionsradius eröffnen. Sie gestatten ihr, „nicht mehr nur eine kontrollierende Macht zu sein, die den Wahnsinn korrigiert, sondern zu etwas Allgemeinerem und Gefährlicherem zu werden, nämlich zu einer Macht über das Anormale, zu einer Macht, die bestimmt, was anormal ist, es kontrolliert und korrigiert.“ (MP: 319) Der Titel der Vorlesungsreihe spielt damit nicht nur auf die Betrachtung der Psychiatrie unter dem Gesichtspunkt der Macht an, sondern auch auf deren doppelte Funktion: als Macht über den Wahnsinn und als Macht über die Anomalie (MP: 319).

Interessant ist zudem, dass Foucault erst in den Vorlesungen zur Psychiatrie eine ausführliche Analyse des Panoptismus vornimmt. Daran zeigt sich nicht zuletzt, dass diese Machtform für ihn keineswegs mit dem Gefängnis in Eins fällt, weshalb ihre Ausbreitung auf andere Institutionen kaum als Angleichung an das Modell des Gefängnisses zu verstehen ist. Angedeutet wird das bereits in Die Strafgesellschaft, insofern das Disziplinarmodell dort primär als allgemeine Form beschrieben wird. Eine solche ist zwar am Ende auch im Gefängnis erkennbar, sie hängt funktional jedoch vor allem mit dem kapitalistischen Produktionsapparat zusammen. Die Macht der Psychiatrie geht aber in mindestens zwei Hinsichten noch über die Beobachtungen aus der Strafgesellschaft hinaus.

Zum einen beschreibt Foucault, wie Elemente der panoptischen Machtform in die psychiatrische Anstalt Einzug halten, sodass diese nach dem Modell der Sichtbarkeit, der Entindividualisierung und Entkörperlichung der Macht neu konstruiert wird (MP: 113ff.). Zum anderen skizziert er ein weitaus komplexeres Bild der Verschränkung verschiedener Machtformen. So schildert Foucault am Beispiel der Familie, wie diese die Disziplinarapparate gerade dadurch akzeptabel mache, dass sie ihnen selbst nicht angehöre, sondern nach dem Modell souveräner Macht funktioniere: „Die Familie ist, insofern sie einem nichtdisziplinären Schema, einem Souveränitätsdispositiv gehorcht, das Scharnier, die für eben das Funktionieren aller Disziplinarsysteme absolut unentbehrliche Einraststelle.“ (MP: 123) Sie wird als Instanz beschrieben, die „die Individuen dauerhaft an die Disziplinarapparate fixieren, die sie gewissermaßen in die Disziplinarapparate injizieren wird“ (MP: 123). Die schroffe Gegenüberstellung von Disziplin und Souveränität wird hier also deutlich relativiert. Die Schilderung nimmt eher spätere Ausführungen zum Wechselspiel von souveräner, disziplinärer und gouvernementaler Macht[12] vorweg, als dass sie auf die in maximalem Kontrast gehaltene Beschreibung aus Überwachen und Strafen zuliefe.

Schluss

Eingangs habe ich angedeutet, welche Relevanz die Vorlesungen von Foucault gerade angesichts des bruchhaften Charakters seines Werkes haben können. Die vorangegangenen und (notwendigerweise) kursorischen Anmerkungen sollten allerdings auch unterstreichen, dass es verfehlt wäre, sie lediglich als Kitt einer Werklücke zu begreifen – dafür sind sie sowohl zu uneindeutig wie auch zu reichhaltig. Sie können stattdessen als Ausgangspunkt dienen, um Foucault noch einmal anders zu lesen und die ausgetretenen Pfade der Rezeption ein Stück weit zu verlassen. Dazu beitragen kann auch die sehr sorgfältige Edition der Vorlesungen, die neben der gutinformierten Kommentierung einen ausführlichen Fußnotenapparat bereithält, der über die konkrete Arbeitsweise von Foucault sowie dessen Auseinandersetzung mit anderen Theorielinien Auskunft gibt. Dadurch werden zahlreiche, sonst verborgene Referenzpunkte sichtbar.

Nimmt Foucault z.B. in Überwachen und Strafen durchaus positiv auf Erving Goffman Bezug, wird anhand der Vorlesungen ersichtlich, dass er sich im Hinblick auf das „Funktionieren der Anstaltsinstitution“ (MP: 70) deutlich von dessen Thesen abwendet. Auch zu Emile Durkheim geht Foucault auf Distanz, wenn er in Bezug auf das Verhältnis von Strafe und Moralisierung betont: „Die Geschichte des Strafwesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehört im Wesentlichen nicht zur Geschichte der Moralvorstellungen [wie Durkheim in seiner Arbeitsteilungsstudie betont, L.G.]; sie ist ein Kapitel aus der Geschichte des Körpers.“ (SG: 353) Nicht zuletzt machen die Kommentierungen auch deutlich, in welchem Maße beide Vorlesungsreihen an zeitgenössischen Fragen und Problemen ausgerichtet sind: auf der einen Seite die politischen Kämpfe um das Gefängnis, in die Foucault als Aktivist unmittelbar involviert war, und auf der anderen Seite die antipsychiatrische Bewegung, die er mit Sympathien begleitete. Es wird so erkennbar, dass Foucaults Wende von der Diskursanalyse zur Analytik der Macht auch mit diesen Kämpfen zusammenhängt. Dabei motivieren sie bei Foucault aber nicht nur das Interesse an diesen Themen, sie haben auch entscheidenden Anteil an dem explorativen Gestus und dem tentativen Vorgehen der Vorlesungen selbst. Gerade das hebt Letztere von den Büchern ab. Denn wenn Foucault in Überwachen und Strafen betont, dass es seine Absicht ist, „die Geschichte der Gegenwart zu schreiben“[13], dann ist zwar dieser Aktualitätsbezug gemeint. Um zu verstehen, wie eine solche Genealogie anhand des historischen Materials vorgeht und durch welche Auseinandersetzungen, Umbrüche und Dynamiken sich die für die Gegenwart zentralen Institutionen herausgebildet haben, mag es aber hilfreicher sein, sich den Vorlesungen zuzuwenden.

  1. Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1972–1973, übers. von Andrea Hemminger, hrsg. von Bernard E. Harcourt, Berlin 2015, S. 13 (im Folgenden: SG).
  2. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1991, bspw. S. 25.
  3. Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973–1974, übers. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, hrsg. von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2005, S. 71 (im Folgenden: MP).
  4. Michel Foucault, Theorien und Institutionen des Strafvollzugs, in: ders., Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Band II: 1970–1975, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarb. von Jacques Lagrange, übers. von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt am Main 2002, S. 486–490, hier S. 489.
  5. Ebd.
  6. Dieser Passage geht eine Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes voraus, in der sich Foucault gegen die in der politischen Theorie vorherrschende Gleichsetzung von Bürgerkrieg und Krieg aller gegen alle ausspricht (SG: 44ff.). Statt den Bürgerkrieg wie bei Hobbes auf naturgegebene Beziehungen zwischen Menschen zurückzuführen, begreift ihn Foucault als gesellschaftlich gestiftete Auseinandersetzung zwischen Kollektiven. Als Begriff soll er den des Klassenkampfes ersetzen, der in der Regel zu binär und herrschaftsförmig gedacht werde. Erst damit lasse sich der Bürgerkrieg als allgemeines Modell der Macht begreifen: „Der Bürgerkrieg ist die Matrix aller Machtkämpfe, aller Machtstrategien und folglich auch die Matrix aller Kämpfe um und gegen die Macht. Er ist die allgemeine Matrix, die erlauben wird, die Einrichtung und Funktionsweise einer speziellen Strategie des Strafvollzugs zu verstehen: die der Einsperrung.“ (SG: 29)
  7. Bereits in Überwachen und Strafen wird von Krieg meist in Bezug auf die souveräne Machtform gesprochen. Spätestens mit der Einführung des Gouvernementalitätsbegriffs 1978 setzt Foucault auf ein anderes Verständnis von Macht. Eine zentrale Rolle spielt das Modell des Krieges nur noch in der Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft der Jahre 1975–1976.
  8. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1977, S. 264.
  9. Vgl. hierzu auch Anmerkung des Herausgebers Bernard E. Harcourt in SG, 396f.
  10. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 292.
  11. Ebd., S. 277.
  12. Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität Bd. I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, übers. von Claudia Brede-Konersmann, hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt am Main 2004, S. 23 u. 161.
  13. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 43.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Benjamin C. Seyd.

Kategorien: Gesellschaft Geschichte der Sozialwissenschaften

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Lars Gertenbach

PD Dr. Lars Gertenbach vertritt die Professur für Allgemeine Soziologie an der Universität Osnabrück und ist Privatdozent an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte befinden sich im Schnittbereich von Soziologischer Theorie und Kultursoziologie. Zuletzt beschäftigte er sich unter anderem mit der Akteur-Netzwerk-Theorie, dem Aufstieg der Kulturtheorien, gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen und der Geschichte der Soziologie.

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