Annette Treibel | Rezension |

Fremde an unserer Tür

Zeitdiagnose und Appell – Zygmunt Baumans Blick auf die ‚Migrationskrise‘

Zygmunt Bauman:
Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Deutschland
Berlin 2016: Suhrkamp
125 S., EUR 12,00
ISBN 978-3-518-07258-5

Mit dem polnisch-britischen Soziologen, Zeitdiagnostiker und Gesellschaftskritiker Zygmunt Bauman starb am 9. Januar 2017 einer der weltweit profiliertesten und renommiertesten Sozialwissenschaftler. Das hier zu besprechende, im Original unter dem Titel Strangers at Our Door[1] erschienene Buch ist eine seiner letzten Veröffentlichungen.

In seinem knappen, in der deutschen Übersetzung gerade einmal 125 Seiten umfassenden Essay zur sozialen und politischen Debatte um die Migrationsproblematik nahm er pointiert und kritisch Stellung zu den Ursachen und den Konsequenzen der Entwicklungen des Jahres 2015, die im deutschen Kontext bis heute häufig sinnentstellend als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet werden.[2]

Baumans Text weist einen stark assoziativen Charakter auf. Er umkreist das Thema, nimmt es von verschiedenen Perspektiven in den Blick und enthält zahlreiche begriffliche Exkurse. Die Materialien oder besser: die Quellen, die dabei zum Einsatz kommen, lassen sich grob drei Ebenen zuordnen: Auf der (1) Ebene der tagespolitischen Auseinandersetzung stützt sich die Argumentation neben Kommentaren oder Stellungnahmen von PolitikerInnen und AktivistInnen vorrangig auf Medienberichte zur Flüchtlingszuwanderung und zur europäischen Migrationspolitik. Auf der (2) Ebene der politischen Analyse, die sich sowohl mit den aktuellen Migrationsbewegungen als auch mit der Migrationspolitik der europäischen Staaten befasst, werden zudem öffentlich stark beachtete Debattenbeiträge wie die des britischen Wirtschaftswissenschaftlers Paul Collier oder des französischen Anthropologen Michel Agier berücksichtigt.[3] Auf der (3) gesellschaftstheoretischen, zeitdiagnostischen und philosophischen Ebene wird schließlich der Fundus klassischer und zeitgenössischer PhilosophInnen und TheoretikerInnen bemüht, deren Namen von Kant und Hobbes über Heidegger, Arendt und Schmitt bis zu Hobsbawm, Beck oder Appiah reichen.

Die Auswahl der Referenztexte macht bereits deutlich, dass Bauman seinen Essay nicht primär als Beitrag zur Migrationsforschung verstanden wissen wollte. Befunde und Theorien aus diesem Forschungsfeld sucht man in dem Text vergeblich. Vielmehr handelt es sich um eine kritische Studie über die im Zuge der „flüchtlingspolitischen Krise“ in westlichen Gegenwartsgesellschaften wirksamen Diskurse und Mechanismen der Angst und Ausgrenzung. Auch wenn Diagnose, Kritik und Appell hierbei eng miteinander verknüpft sind und die mitunter mäandernde Argumentation keine expliziten Leitfragen, geschweige denn Thesen formuliert, wird doch deutlich, dass es Bauman vor allem um die beiden folgenden Fragestellungen ging: Was sagen der Migrationsdiskurs und der Umgang mit MigrantInnen über den Westen beziehungsweise den globalen Norden aus? Und wie stellen sich die Herausforderungen der Moderne im Hinblick auf das Zusammenleben mit Fremden dar?

Im ersten Kapitel (S. 7–26) steckt Bauman den Rahmen seines Essays ab. Er weist darauf hin, dass Migration zwar kein neues soziales Phänomen sei, konstatiert angesichts der Ereignisse des Jahres 2015 aber eine neue Dramatik: zum einen aufgrund der ökonomisch und politisch erzeugten globalen Krisen, die auch in Zukunft Tausende von Menschen zur Migration zwingen würden; zum anderen wegen der steigenden Abwehrreflexe der Menschen in den Zielländern der MigrantInnen. Aus Angst vor Fremden und verunsichert durch eine zunehmend heterogene Gesellschaft („Mixophobie“, S. 14), so Bauman, würden immer mehr Menschen anfällig für die Sicherheitsversprechen xenophober und nationalistischer Bewegungen. Zwar gebe es auch jene, die die Vielfalt, insbesondere in Städten, als anregend („Mixophilie“, S. 14) empfänden oder mit MigrantInnen solidarisch seien.[4] Doch in den sich verschärfenden Kämpfen um Anerkennung seien die AnhängerInnen der Mixophobie auf dem Vormarsch.

Anschließend geht Bauman im zweiten Kapitel (S. 27–48) auf die Politik der sogenannten „Versicherheitlichung“ (securitization, S. 28) ein. Damit sind die – massenmedial durch entsprechende Fernsehbilder unterstützten – Bemühungen von PolitikerInnen gemeint, sich als tatkräftig im Kampf gegen Unsicherheit und Terrorismus zu inszenieren. Bauman zufolge handelt es sich dabei um nichts anderes als einen „Taschenspielertrick“ (S. 33), mit dem Regierungen Problemlösungen lediglich suggerierten – und das zu einem hohen Preis: Weit davon entfernt, die Lage zu beruhigen, trügen Feinderklärungen und die verschiedenen Arten der Dehumanisierung und Stigmatisierung von MigrantInnen nicht nur dazu bei, weitere Ängste (insbesondere vor Muslimen) zu schüren; vielmehr würden die solcherart Ausgegrenzten zu potenziellen neuen Mitgliedern von Terrorgruppen. Versicherheitlichung, so Bauman, leiste insofern der Radikalisierung Vorschub.

Das nachfolgende dritte Kapitel (S. 49–68) enthält Baumans Versuch, die politischen Erfolge von Populisten, Nationalisten oder Demagogen durch den Rückgriff auf verschiedene Konzepte der Angst zu erklären. „Kosmische Angst“, etwa vor dem Universum, so Bauman in Anlehnung an Michail Bachtin,[5] werde von den Machthabenden in „offizielle Angst“ (S. 52f.) transformiert. Zu ihren Ausprägungen gehörten Selbstausbeutung, Desorientierung und kafkaeske Vereinzelung der Menschen, die sich in den jüngeren Entwicklungsphasen der modernen Gesellschaft noch verstärkten.[6] Kosmopolitisches Bewusstsein, das dem entgegensteuern könnte, sei hingegen kaum entwickelt. Vor diesem Hintergrund versprächen die „Anwärter auf die Rolle des starken Manns oder der starken Frau“ (S. 68) Alternativen, ohne sie jedoch konkret unter Beweis stellen zu müssen.[7]

Waren die ersten drei Kapitel der Gegenwart gewidmet, tritt Bauman im vierten Kapitel (S. 69–86) gewissermaßen einen Schritt zurück, um die Problematik von Wanderungen in der Menschheitsgeschichte und den Umgang mit Fremdheit aus anthropologischer Perspektive in den Blick zu nehmen. In Folge von Urbanisierungs- und Migrationsprozessen seien Menschen zunehmend mit einer spezifischen Herausforderung konfrontiert: Sie müssten lernen, sich mit einer wachsenden Anzahl von Fremden zu arrangieren. Viele reagierten darauf jedoch abwehrend, indem sie den Radius des Raumes ihrer moralischen Verantwortlichkeit verringerten und so die Widersprüche ihres Handelns herunterspielten. Dadurch befänden sie sich in einem Bewusstseinszustand, den Bauman in Anlehnung an Leon Festinger als „kognitive Dissonanz“[8] bezeichnet: Bezogen auf die Neuankömmlinge, so Bauman, „läuft dieser Trick darauf hinaus, dass man von unserer (ansonsten unbedingten) moralischen Verantwortung ausgenommenen Menschen Eigenschaften zuschreibt, die ihr Bild beschmutzen und verunglimpfen. Die betreffende Gruppe wird als unserer Rücksicht und unseres Respekts unwürdig dargestellt, und dieses Bild rechtfertigt unsere Missachtung und mangelnde Fürsorge als verdiente Strafe für die unheilbaren Laster oder böswilligen Absichten derer, die wir übergehen und ignorieren, schlecht behandeln oder herzlos vernachlässigen“ (S. 82).

Ausgehend von diesem Befund widmet sich Bauman im nachfolgenden fünften Abschnitt (S. 87–96) wieder der Zeitdiagnose. Primär geht es ihm dabei um Kritik an der europäischen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen. In Anlehnung an Michel Agier[9] geht Bauman scharf mit den „Lippenbekenntnissen“ (S. 94) europäischer, insbesondere britischer Politiker ins Gericht und verweist auf das Engagement Hunderttausender Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, deren Handeln sich wohltuend von der ablehnenden Haltung anderer Nationen abhebe (S. 91).[10]

Der sechste und abschließende Abschnitt (S. 97–114) thematisiert in Anlehnung an Immanuel Kant und Hannah Arendt die moralischen Dilemmata zwischen Wissen, Willen und Handeln: „Impulsive Angst angesichts der Fremden, die unergründliche Gefahren mit sich bringen, tritt in Wettstreit mit dem moralischen Impuls, den der Anblick menschlichen Elends auslöst. Selten dürfte die Herausforderung für die Moral in ihrem Bemühen, den Willen zu überreden, ihrem Gebot zu folgen, gewaltiger gewesen sein; und selten dürfte das Bemühen des Willens, seine Ohren vor den Geboten der Moral zu verstopfen, qualvoller gewesen sein“ (S. 104). Bauman kritisiert in diesem Zusammenhang auch die aus seiner Sicht verbreitete Flucht der Zeitgenossen in die virtuelle Realität der digitalen Welt, die er nicht zuletzt auf deren im Vergleich zur reglementierten Wirklichkeit größeres Maß an Freiheit zurückführt (S. 101–109). Er konstatiert: „Ich gehöre der Offline-Welt, während die Online-Welt mir gehört“ (S. 101; Hervorh. im Original, A. T.). Ereignisse und Berichte, die wir nicht sehen wollen, entfernten wir in diesem Sinne aus unserem Blickfeld (S. 105). Und wenn wir Schuldige für unser Unbehagen und die „lästige Komplexität der Welt“ (S. 103) suchten, so seien die Migranten die perfekte Projektionsfläche.

Aus Sicht Baumans wirft der Umgang mit den MigrantInnen ein düsteres Bild auf den moralischen Zustand der Gegenwartsgesellschaften. Nicht genug damit, dass die massenhafte Ankunft hilfebedürftiger MigrantInnen die Menschen der Zielländer verunsichere, würden deren Ängste von PolitikerInnen und Medien auch noch nach Kräften geschürt. Diese Mechanismen wirkten umso stärker, als die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften sowieso schon angstgetrieben und konkurrenzorientiert seien. Bauman zufolge lassen sich die Angst- und Abwehrreflexe mit der zentralen Kategorie der „Leistungsgesellschaft“ erklären, die die alte Disziplinargesellschaft abgelöst habe (S. 59–62; S. 107–111) und die modernen Individuen zur Inszenierung und optimalen Gestaltung ihres eigenen Lebens zwinge: „Die in der Disziplinargesellschaft offiziell verbreitete und kultivierte Angst, als nicht konform gebrandmarkt zu werden, ist in der Leistungsgesellschaft durch die Angst vor dem eigenen Ungenügen ersetzt worden“ (S. 60). Im Zuge einer übersteigerten Individualisierung lebten Menschen heute vereinzelt, auf sich gestellt und auf der (meist erfolglosen) Suche nach einem Ersatz für verloren gegangene Gemeinschaften (S. 108). Sie neigten dazu, sich selbst oder ihre KonkurrentInnen für ihre Lage verantwortlich zu machen. Wo dennoch Gemeinschaftsbildungen erfolgten, so Bauman, geschehe dies nicht im Sinne der Solidarität, sondern primär aus dem Impuls, als feindlich empfundene Andere abzuwehren.

Baumans Kritik an der Leistungsgesellschaft geht einher mit einem eindringlichen Plädoyer an die westlichen Gesellschaften, denen er die Aufgabe zuweist, mehr „moralische Verantwortung“ (S. 81) zu übernehmen. An Dramatik lässt es Bauman dabei nicht fehlen. Ihm zufolge steht die Menschheit buchstäblich an einem Scheideweg: „Wir nähern uns einer Gabelung auf dem Weg in unsere möglichen Zukünfte (oder haben sie vielleicht bereits erreicht), wobei der eine Weg zu kollektivem Wohlergehen, der andere zur kollektiven Auslöschung führt – und sind dennoch immer noch nicht imstande, unser Bewusstsein, unsere Zielsetzungen und unser Tun auf das Niveau der bereits bestehenden (und mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht mehr rückgängig zu machenden) Globalität unserer die gesamte Menschheit umspannenden wechselseitigen Abhängigkeit zu heben: ein Umstand, der dafür sorgt, dass die Wahl zwischen Überleben und Aussterben von unserer Fähigkeit abhängt, ‚auf engstem Raum‘ zusammenzuleben, in Frieden, Solidarität und Kooperation, inmitten von Fremden, die ähnliche Meinungen und Vorlieben haben mögen wie wir – oder auch nicht“ (S. 71f.).

Insgesamt hinterlässt Baumans Essay einen zwiespältigen Eindruck, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist inhaltlicher Art und betrifft die verknappte Argumentation, die streckenweise nicht nur holzschnittartigen, sondern geradezu verabsolutierenden Charakter hat. Das gilt insbesondere dort, wo Bauman mehr auf Pathos als auf Analyse setzt, etwa wenn er behauptet, „wir“ befänden uns mit Blick auf die moralischen Anforderungen in einer historisch einzigartigen Situation (S. 104).

Wer ist dieses „Wir“, für das Bauman zu sprechen vorgibt? Ist es das „Wir“ der BürgerInnen von Gesellschaften, die mit unterschiedlichen Formen von Migration zu tun haben? Sind diejenigen von ihnen, die selbst einmal eingewandert sind, in dieses „Wir“ inkludiert? Baumans Antwort fällt eher beiläufig aus: „Wir“, das seien die „Normalen“ (S. 43) im Sinne von Goffman,[11] also die Nicht-Ausgegrenzten. Das derart adressierte „Wir“ ist freilich in zweifacher Weise im Text präsent: einmal als Subjekt von Handlungen und Einstellungen, zum anderen als Objekt, an das Mahnungen adressiert werden. Doch trotz dieser Unterscheidung bleibt das von Bauman als Träger einer neuen Aktivität auserkorene Kollektivsubjekt der vermeintlich etablierten und integrierten westlichen NormalbürgerInnen vage. Der alle Arten sozialer Differenzierung einebnende Begriff suggeriert eine Homogenität zwischen den BewohnerInnen der Aufnahmeländer, die es in der Realität nicht gibt. Er täuscht darüber hinweg, dass Menschen, die in einer sozialen Hinsicht nicht ausgegrenzt sind, in einer anderen Hinsicht sehr wohl stigmatisiert oder marginalisiert sein können. So entsteht ein grobkörniges Schwarzweißbild von „uns“ und „ihnen“, das am Ende keiner der beiden Gruppen gerecht wird.

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Tonlage des Buches: Baumans Grundsatzkritik an der Panikmache der Machthaber, Populisten und Medien wirkt in Teilen selbst alarmistisch, um nicht zu sagen apokalyptisch: Da ist von „moralischen Ungeheuerlichkeiten“ die Rede, werden Handlungen als „irrsinnig kurzsichtig“ abgetan oder Militäreinsätze in Afghanistan und Irak als „unglückselige und verhängnisvolle militärische Interventionen“ (vgl. S. 8–11) kritisiert. Als politisch informierte Zeitgenossin, die über eigene Anhaltspunkte zur Beurteilung der europäischen Flüchtlingspolitik oder dem Vorgehen des Westens in vielen Regionen der Welt verfügt, hätte ich eine sparsamere Verwendung von Superlativen und Adjektiven begrüßt. Der in Teilen überbordende Stil überlagert die inhaltlichen Aspekte. Das ist sicherlich kein Zufall, sondern der Intention Baumans geschuldet.

Art und Stil der Argumentationsführung lassen Rückschlüsse auf die mit der Veröffentlichung avisierte Zielgruppe zu. Offensichtlich sind die AdressatInnen des Buches weniger die sozialwissenschaftlichen FachkollegInnen der scientific community als eine breitere, politisch und zeitdiagnostisch interessierte Öffentlichkeit, die mit der mehr intervenierenden als informierenden Schrift nicht so sehr aufgeklärt als aufgerüttelt werden soll. Als Dokument einer eingreifenden Soziologie zeugt es von der humanen Gesinnung des Autors, der – im Zuge seines ereignisreichen Lebens selbst mit der Erfahrung der Flucht konfrontiert – seinem Publikum die Augen für ein unterschätztes Problem von globaler Tragweite öffnen wollte.

Bei der Frage nach den AdressatInnen und der Intention des Buches sind die unterschiedlichen visuellen Strategien interessant, mittels derer die Verlage in England und Amerika beziehungsweise in Deutschland Baumans Botschaft zu verbreiten hoffen. Während das Cover von Polity Press Bilder einer sich langsam öffnenden Tür zeigt, setzt man beim Suhrkamp Verlag auch optisch auf Dramatisierung und flankiert den in gleicher Wirkungsabsicht veränderten Titel mit rot eingefärbtem Stacheldraht. Wenn man davon ausgeht, dass Verlage kommerzielle Akteure sind, die Titel und Cover an ihre Marktbeobachtungen koppeln, so scheint die Vermutung gewesen zu sein, dass man die anglo-amerikanischen LeserInnen eher mit optimistischem Humanismus und die deutschen LeserInnen mit Düsternis gewinnen könne. Das Buch jedenfalls enthält beide Botschaften: Die Lage ist hochkomplex und besorgniserregend, aber nicht unabänderlich, es liegt vielmehr an ‚uns‘, wie es weitergeht.

Baumans Essay deckt ein wichtiges Segment einer Öffentlichen Soziologie ab, die nicht trotz, sondern wegen ihrer eingebauten Ambivalenz[12] intensiv rezipiert wird. Sie wird wahrgenommen, weil sie gleichermaßen bewegt wie beunruhigt. Die Frage, ob nun der Stacheldraht tatsächlich der deutschen Lesart und die sich öffnende Tür der anglo-amerikanischen Lesart entspricht, ist an dieser Stelle nicht zu klären. So oder so – Baumans Stimme wird in den gegenwärtigen und zukünftigen Debatten in Wissenschaft und Politik fehlen. Die Mechanismen der Angst und Ausgrenzung in westlichen Gesellschaften hat er zutreffend beschrieben. Die Besonderheit seines Zugangs rührt aus der engen Koppelung von Person, Biografie und öffentlichem Wirken. Insofern mag es in Zukunft ähnlich lautende Analysen zur Festung Europa, zu den Ambivalenzen der Moderne, zu Kapitalismus und Rassismus geben – die Eindringlichkeit Baumans werden sie kaum erreichen.

  1. Zygmunt Bauman, Strangers at Our Door, Cambridge/UK; Malden/USA 2016.
  2. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) spricht in seinem Jahresgutachten 2016 nicht von „Flüchtlingskrise“, sondern von „flüchtlingspolitischer Krise“ und verweist damit meines Erachtens zutreffend darauf, dass die Ursachen der Krise eher im politischen Umgang mit der Fluchtthematik als bei den Flüchtlingen selbst zu suchen sind: SVR, Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer, Berlin 2016, S. 19. Ähnlich auch Daniel Loick, We Refugees / Wir Flüchtlinge, in: EUtopia. Ideas for Europe 9 (2015).
  3. Michel Agier, Managing the Undesirables. Refugee Camps and Humanitarian Government, Cambridge u. a. 2011; Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, übers. v. Klaus-Dieter Schmidt, München 2014 (Orig.: Exodus. How Migration is Changing Our World, Oxford u. a. 2013).
  4. Mit dieser Thematik hatte Bauman sich über Jahrzehnte auseinandergesetzt. Von den zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen sei in diesem Zusammenhang folgendes Interview empfohlen: Zygmunt Bauman, „Das Fremde ist auch etwas Aufregendes.“ Interview mit Klaus Taschwer, in: Der Standard v. 9.11.2010.
  5. Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. Gabriele Leupold, Frankfurt am Main 1995, S. 377 (Orig.: Tvorestvo Fransua Rable i narodnanaja kul’tura Srednevekov’ja i Renessansa, Moskau 1965).
  6. Die uneingelösten Versprechen der Moderne (Freiheit, Individualität, Fortschritt, Konsum u. a.) sind der rote Faden in Baumans Gesellschaftsdiagnosen. Besonders plastisch auseinandergesetzt hat er sich damit in seinem vielbeachteten und einflussreichen Buch Flüchtige Moderne, übers. v. Reinhard Kreissl, Frankfurt am Main 2003 (Orig.: Liquid Modernity, New York u. a. 2000).
  7. Populisten, Nationalisten oder Demagogen pochen – gleichgültig ob in Deutschland, Frankreich, in den USA, der Türkei oder Ungarn – auf angestammte Privilegien und berufen sich dabei auf ihre ethnische Herkunft. Die Begeisterung für starke Führungsfiguren hilft überdies, den als Überforderung und Benachteiligung wahrgenommenen Pluralismus abzuwehren und auf Eindeutigkeit zu zielen.
  8. Leon Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, übers. v. Volker Möntmann, Bern 1978.
  9. Agier, Managing the Undesirables. Agier gilt Bauman als „der wohl scharfsinnigste, konsequenteste, inzwischen erfahrenste und kenntnisreichste Erforscher des Schicksals von weltweit derzeit mehr als 200 Millionen Migranten” (S. 88).
  10. Der positive Verweis Baumans auf die deutsche ‚Willkommenskultur‘ dient – so ist anzunehmen – der idealtypischen Gegenüberstellung unterschiedlicher Haltungen von PolitikerInnen und BürgerInnen. Überdies konnte Bauman den Wandel der öffentlichen Meinung in Deutschland nicht mehr einarbeiten. Grundsätzlich ist und bleibt das Engagement Hunderttausender Haupt- und Ehrenamtlicher in Deutschland in nationaler wie internationaler Perspektive eine erklärungsbedürftige Besonderheit. Erste Analysen hierzu liegen inzwischen vor: Vgl. Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Forschungsbericht des Forschungs-Interventions-Clusters ‚Solidarität im Wandel?‘, Berlin 2017.
  11. Vgl. Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, übers. v. Frigga Haug, Frankfurt am Main 1967, S. 13: „Uns und diejenigen, die von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen, werde ich die Normalen nennen“ (Hervorh. im Original und ebenso bei Bauman, S. 43; A. T.).
  12. „Ambivalenz“ ist ein Schlüsselbegriff in Baumans Werk und bezüglich seiner internationalen Rezeption, für die der folgende Sammelband vielfältige Positionen bietet: Matthias Junge / Thomas Kron (Hg.), Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, 3. erweiterte Aufl. Wiesbaden 2014 (1. Aufl. 2002).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Migration / Flucht / Integration Gesellschaft Demokratie

Annette Treibel

Prof. Dr. Annette Treibel ist seit 1996 Professorin für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migration, Soziologische Theorien, Gender und Öffentliche Soziologie. Von 2011 bis 2015 war sie Sprecherin der Sektion „Migration und ethnische Minderheiten“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seit 2011 ist sie Mitglied im Rat für Migration. 2015 veröffentlichte sie das Buch Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland (Frankfurt am Main u. New York: Campus).  Soeben (Juli 2017) erschien der von ihr zusammen mit Stefan Selke herausgegebene Sammelband Öffentliche Gesellschaftswissenschaften. Grundlagen, Anwendungsfelder und neue Perspektiven (Wiesbaden: Springer VS).

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