Daniela Russ | Rezension |

Skizze einer Notbremse

Rezension zu „The Progress of this Storm. Nature and Society in a Warming World“ von Andreas Malm

Andreas Malm:
The Progress of this Storm. Nature and Society in a Warming World
Großbritannien
London 2018: Verso
256 S., £ 16.99
ISBN 9781786634153

Seit die Grünen Autobahnen bauen, gibt es eine politische Lücke, die es zu füllen gilt. Der Konflikt um den Dannenröder Wald markiert nur den jüngsten Bruch zwischen Klimaaktivistinnen und grüner Partei: Mittlerweile haben sich in mehreren Kommunen und Bundesländern Klimalisten gebildet, die ihr Programm von der Maßgabe aus entwerfen, das Klimaabkommen von Paris einhalten zu wollen. Die Frankfurter Rundschau spricht von Listen „grüner als die Grünen“ und die FAZ vom „Vorrang der Natur“, der gegen ein ordentliches Verfahren in einem „modernen Industriestaat“ von den Protestierenden eingefordert werde.[1] Das Programm der Erlanger Liste etwa fordert konsequenten Klimaschutz, durch den es der Natur besser und sozial Benachteiligten zumindest nicht schlechter gehen solle.[2] Das klingt nicht direkt nach linker Politik. Und doch ist laut Andreas Malm globale Klassenpolitik im 21. Jahrhundert auf diesen entschiedenen Widerstand gegen die fossile Brennstoffwirtschaft angewiesen.

Mit „The Progress of this Storm: Nature and Society in a Warming World“ skizziert Andreas Malm nun eine Sozialtheorie für Handeln unter Bedingung des Klimawandels. Theorie wird hier nicht als System generalisierender Aussagen gedacht, sondern ist explizit zeitgebunden und hat einen emanzipativen Anspruch: wie kann man unter der Bedingung einer sich erwärmenden Welt im Bewusstsein der Freiheit handeln? Die „warming condition“ ist dabei weder ein physikalischer Zustand noch eine historische Epoche, in die Ereignisse wie in einen Setzkasten eingeordnet werden können. Die sich erwärmende Welt ist Bedingung im starken Sinne: sie bestimmt unsere Gegenwart und steht im Verhältnis zu allem, was geschieht. Sie bildet die „unfreien Stücke", aus denen die Menschen heute ihre Geschichte zu machen haben.

Malm entwirft die sich erwärmende Welt als Antithese zur Postmoderne. Wenn Frederic Jameson letztere als totale Gleichzeitigkeit des abgeschlossenen Modernisierungsprozesses charakterisiert, der sich von keiner Natur mehr abstoßen muss, dann beschreibt die „warming condition“ das Wiedereinbrechen ebendieser: nicht jedoch als natürlicher Rhythmus und Ordnung, die das Soziale bedingen, erhalten und ermöglichen, sondern als Sturm mit einer „twisted, multiplex temporality“ (S. 6). Unter Bedingung einer sich erwärmenden Welt reichen die zeitlichen Zusammenhänge Jahrhunderte in die Vergangenheit und in die Zukunft. Handlung und Resultat sind zeitlich und räumlich entkoppelt: die heutigen Temperaturen im Nahen Osten sind die Folge von Verbrennungsprozessen, die zu anderen Zeiten und an anderen Orten stattgefunden haben, und auch die aktuelle Politik kann sich erst in der Zukunft bewähren. Die Möglichkeit, durch Handlung oder Unterlassung so weit in die Ferne wirken zu können, „supercharges our moment with time.“ (S. 7) Unter diesen unübersichtlichen Bedingungen, so Malm, muss eine Theorie Sturmforschung betreiben und Handlungsorientierung bieten: sie muss also in der Lage sein, Natur und Gesellschaft als Momente eines historischen und global asynchron ablaufenden Prozesses zu unterscheiden (S. 16).

Die sozialtheoretische Skizze, wie Malm sie zeichnet, ist keine gängige Form soziologischer Erkenntnis. Als Form ist sie dennoch überzeugend – aus der sich erwärmenden Welt und ihren politischen Kämpfen heraus bleibt jede Theorie Versuch, Entwurf, Skizze. Anhand einer Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen theoretischen Ansätzen – von dem New Materialism, über die Philosophy of Mind zur Kritischen Theorie – arbeitet Malm die Elemente heraus, aus denen eine Theorie der sich erwärmenden Welt bestehen sollte: Sie sollte sich dem epistemologische Realismus verpflichten, sie muss in der Lage sein, Eigentum und Kapital zu begreifen, sollte Widersprüche nicht auflösen, sondern den Blick auf sie schärfen, und eine ungeordnete Natur denken können. Am Ende bleibt in seiner Skizze jedoch die Spannung zwischen dem „positiven" Realismus der empirischen Klimaforschung und dem „negativen" Realismus einer Kritischen Theorie unaufgelöst. Es ergibt sich, was der Buchdeckel illustriert – ein unfertiges, brüchiges Bild einer stürmischen See.

Malms polemische Auseinandersetzung mit Konstruktivismus, Theorien des Hybriden und neuen Materialismen ist der Relevanz, die diese Ansätze in der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Diskussion haben, angemessen. Malm entwickelt hier weniger neue Argumente – er greift insbesondere auf Kate Sopers Arbeiten zurück – als dass er den Beitrag dieser Ansätze für eine Theorie der „warming condition" aufzeigt. Konstruktivistische Theorien begreifen Natur als sprachliches (Noel Castree, Donna Haraway) oder soziales, das heißt durchaus materielles (Neil Smith, Steven Vogel) Produkt. Malm gesteht zu, dass wir Natur anhand von Sprache begreifen und die Brennstoffwirtschaft diskursiv und materiell konstruiert ist (S. 39). Sie ist aber nicht als bloßes Konstrukt zu fassen: „It refers to the part of the inhabited world that humans encounter but have not constructed, created, built, or conjured up in their imagination, and that part is very prevalent indeed.“ (S. 42 – kursiv im Original) Theorien, die Natur durch und durch als Produkt von Begriffen verstehen, tragen laut Malm eher dazu bei, die Handlungsfähigkeit der Menschen in der Natur zu vernebeln als sie zu konkretisieren

Der schärfste Angriff richtet sich jedoch gegen Bruno Latour, der auf der Grundlage eines neuen Materialismus für die Aufgabe des Natur- und Gesellschaftsbegriffs plädiert. Malm versucht nachzuweisen, dass Latour das kartesische Denken in zwei Substanzen – hier: Natur und Gesellschaft – trotz seiner ausdrücklichen Ablehnung desselben nicht überwindet. Denn nur wenn sich beide substanziell voneinander unterschieden, würde ihre Kombination den Kollaps der Kategorien und ihr Aufgehen in einer neuen, einheitlichen Substanz bedeuten. Diese Substanz ist „agency“, die Fähigkeit, einen Unterschied zu machen, eine gedämpfte und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, die sich kaum von der bloßen Existenz unterscheiden lässt (S. 95). Ein solch schwacher Handlungsbegriff gehe damit einher, dass unintendierte Folgen nicht menschlichen Handlungen zugerechnet würden, sondern dem unerwarteten Handeln eines anderen Akteurs.[3] Mit dem Philosophen John McDowell hält Malm dagegen, dass auch das unerwartete Ergebnis die Handlung (und Verantwortung) nicht einfach an den nächsten Akteur „abgibt“, sondern eine Wahrheit darüber erzeuge, was in erster Instanz getan wurde.[4]

Laut Malm gilt es gegen Latour die Einheit und die Differenz von Natur und Gesellschaft zu denken. Historisch gesehen steht die Vermehrung von Hybriden in einem direkten Zusammenhang zu diesem Dualismus; Latours Hybride seien „a negation of [Cartesianism] only in the way the hangover is a negation of the binge“ (S. 51). Malm schlägt stattdessen vor, von einer gemeinsamen materiellen Grundlage und emergenten Phänomenen wie Leben, Geist, und Gesellschaft auszugehen, die jeweils über identifizierbare Eigenschaften verfügen (S. 53). Kombinationen dieser Phänomene – die Kopfschmerzen beim Denken und das Pflanzen von Bäumen – sind die Regel. Das bedeute jedoch nicht, dass man soziale und natürliche Momente nicht voneinander trennen könne; diese Differenzierung sei die Grundlage jeder Umweltpolitik, jedes Autobahnbaus und absolut notwendig für die Möglichkeit, die Ursachen ökologischer Probleme zu beseitigen (S. 61).

Man kann Malms Buch folglich in erster Linie gegen Latour lesen. Interessanter ist es jedoch, es im Kontext einer epistemologischen und dezidiert linken Debatte zu verstehen. Klimarealismus ist laut Malm Grundlage jeder Theorie einer sich erwärmenden Welt. Im Anschluss an Roy Bhaskars „Realist Theory of Science“ betont Malm noch einmal, dass Erkenntnis zwar nur gedanklich (wohl eher sozial beziehungsweise sprachlich) möglich ist, das jedoch nicht bedeute, dass die Natur selbst gedanklich erzeugt sei. Man müsse anerkennen, dass es zu dem Prozess, den die Klimawissenschaft beschreibe, einen Referenten – den Klimawandel – in der Natur gibt (S. 128). Doch auch dann spricht man begrifflich (wie auch sonst!) über Unbegriffliches. Malm ist vorsichtig genug, den Referenten nicht „Klimakrise“ zu nennen (wie es Teile der Klimabewegung zweifellos tun würden). An anderer Stelle spricht er jedoch davon, dass das Klima selbst gestört ist – ohne zu erwähnen, dass es sich um eine Störung handelt, die mit uns zu tun hat, weil sie ein Klima betrifft, in dem wir leben müssen (S. 73). Ein erkenntnistheoretisch sensibilisierter Marxismus muss hier jedoch feiner formulieren; eine Handlungstheorie der sich erwärmenden Welt muss für den politischen Konflikt über die sprachliche Fassung dieses nicht-sprachlichen Referenten gewappnet sein.

Sie muss das auch, weil Malms Beteuerung, die Wissenschaft sei nicht der Feind progressiver Politik (S. 132), zwar richtig sein mag, aber als Haltung zu wissenschaftlicher Autorität in Zeiten des Klimawandels nicht ausreicht. Im Unterschied zu Teilen der Klimabewegung ist für Malm Klimapolitik zweifellos Klassenpolitik, Widerstand muss sich zuallererst gegen die großen Energie-Unternehmen und die Ultra-Reichen richten (S. 189, 195).[5] Dass die faktische Klimapolitik, die nicht mit dem Widerstand der Klimabewegung rechnen muss, jedoch eine der EEG-Umlagen und Benzinabgaben – kurz: der Konsumsteuern – ist, thematisiert Malm nicht. Für Menschen, die ihren Arbeitsplatz oder Teile ihres Einkommens aus klimapolitischen Notwendigkeiten verlieren, ist Klimawissenschaft ein politischer Feind – umso mehr wenn die Politik auf sie verweist, als ginge es um eine Reparatur des Klimas da draußen und nicht um eine andere Gesellschaft im Hier und Jetzt. Eine Theorie für die sich erwärmende Welt muss diesen Konflikt begreifen und auf die Rolle, die wissenschaftliche Autorität in ihm spielt, reflektieren.

Vielleicht sind das nur Lücken, die Skizzen nun einmal zu eigen sind. Malm selbst knüpft immer wieder an negative Begriffe von Natur an (S. 67, siehe auch 28), die sich kaum mit einem positiven Realismus der empirischen Klimawissenschaft verbinden lassen. Das letzte Kapitel widmet sich dieser Negativität sogar als eines der Natur eigenen Prinzips: es geht um Natur als Widerstand oder um widerständige Natur. Zu diesem Widerstand gehört, dass die Natur nicht im Kapitalismus aufgeht, sie bleibt ein Störfaktor und eine Produzentin von Unordnung (S. 201). Ebenso widerständig bleibt die Natur aber auch gegenüber den begrifflichen Zugriffen der Klimawissenschaft und unseren Emanzipationsbestrebungen. „The idea of liberation of nature stipulates no such plan or intention in the universe“, zitiert Malm Herbert Marcuse, „liberation is the possible plan and intention of human beings, brought to bear upon nature.“ Klimapolitik als Klassenpolitik zu verstehen bedeutet dann, anzunehmen „that nature is susceptible to such an undertaking, and that there are forces in nature … which could support and enhance the liberation of man.“[6] Das politische Sprechen über diese Kräfte wäre dann keine wissenschaftliche Aussage und könnte sich folglich auch nicht hinter selbiger verstecken („unite behind the science!“). Es müsste stets seinen Bezug zur Befreiung ausweisen.

Die Haltung, die dieser Befreiung zugrunde liegt, ist nach Malm auch heute eine nicht-affirmative (S. 223). Malm spricht mit Benjamin vom Fortschritt als zerstörerischem Sturm. Doch aus dem Benjamin‘schen „what we call progress is this storm“ wird „the progress of this storm”. Eine rätselhafte Wendung – geht es um das Verfolgen der Sturmtrajektorie oder um die Möglichkeiten für eine progressive Politik, die der Sturm eröffnet? In jedem Fall impliziert sie eine Art neu ansetzender Rationalität, die die zum Sturm gewordene Vernunft überwindet. In den Thesen zum Begriff der Geschichte variiert Walter Benjamin die Marx’sche Allegorie der Revolution als Lokomotive der Weltgeschichte. Vielleicht, schreibt Benjamin unter dem Eindruck der Vermählung von technischem Fort- und gesellschaftlichem Rückschritt, sind aber „die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“[7] In der Lokomotive ist die Notbremse jedoch vorgesehen, sie ist zum Greifen konstruiert und basiert auf demselben stählernen Mechanismus wie der Fortschritt. Wenn der Fortschritt ein Sturm ist, muss eine Notbremse jedoch erst noch entworfen werden – obwohl man sich längst schon auf hoher See befindet.

  1. Paul Siethoff, Grüner als die Grünen, www.fr.de/politik/gruener-gruenen-13569369.html (2.12.2020), Carsten Knop, Es reicht am Dannenröder Forst, www.faz.net/aktuell/rhein-main/der-dannenroeder-forst-und-die-grenzen-der-gewaltlosigkeit-16999846.html (2.12.2020).
  2. Wahlprogramm der Klimaliste Erlangen für die Kommunalwahl 2020, www.klimaliste-erlangen.de/wahlprogramm/(2.12.2020).
  3. Bruno Latour, Facing Gaia: Eight Lectures on the New Climatic Regime, Cambridge 2017, S. 133 f.
  4. John McDowell, Acting as one intends, in: Jonathan Dancy / Constantine Sandis (Hg.), Philosophy of Action: An Anthology, Oxford 2015, S. 145–157, hier S. 155, zitiert auf S. 95.
  5. Andreas Malm, How to Blow up a Pipeline, London 2020.
  6. Herbert Marcuse, Counterrevolution and Revolt, Boston 1972, S. 66.
  7. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19, Berlin 2010, S. 153.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Ökologie / Nachhaltigkeit Kritische Theorie

Daniela Russ

Daniela Russ ist Postdoc an der University of Toronto. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Historischen Soziologie sowie in der Wirtschaftssoziologie und der Kritischen Theorie der Natur.

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