Anja Weiß | Rezension |

Viele Kapitalismen... und doch keine Alternative?

Rezension zu „Capitalism, Alone. The Future of the System that Rules the World“ von Branko Milanović

Branko Milanovic:
Capitalism, Alone. The Future of the System that Rules the World
USA
Cambridge, MA 2019: The Belknap Press of Harvard University Press
304 S., $ 29.95
ISBN 9780674987593

Es soll häufiger vorkommen, dass Ökonomen die Zukunft der Welt oder „ihres“ Landes vorhersagen. Dass sie Marx ebenso ausführlich und korrekt zitieren können wie die Klassiker der politischen Philosophie, darf man von den besseren unter ihnen erwarten. Dass sie eine Lesart entwickeln, die in marxistischer Manier Ungleichheit, Korruption und die Konzentration des Reichtums scharf kritisieren, während sie zugleich sowohl neoliberalen als auch autoritären Regierungsformen etwas abgewinnen können – das ist deutlich seltener. Mit ebendieser Mixtur wartet der ehemalige Weltbank-Ökonom Branko Milanovi´c in seinem neuen Buch auf.

Was meint Milanovi´c mit seiner im Titel anklingenden These „Capitalism, Alone“, die in der englischen Hardcover-Fassung mit einem kleinen Schräubchen illustriert wird? Wohl kaum, dass eine kleine Schraubendrehung ausreicht, um die Welt zu verändern. Vielmehr setzt Milanovi´c auf eine Analyse langfristiger Trends der politischen Ökonomie, die er mit einem eher vulgär-ökonomischen Menschenbild unterfüttert. Politische Ökonomie plus oberflächliche Anthropologie deuten in ihrer Verbindung nicht darauf hin, dass sich der bisherige Verlauf der Geschichte leicht verändern ließe.

Die These, wonach der Kapitalismus auf absehbare Zeit keine Konkurrenz habe, bildet allerdings nur den Anfangs- und Endpunkt des Buches. Im Hauptteil vergleicht Milanovi´c die liberal meritokratische Variante des Kapitalismus am Beispiel der USA mit dem politischen Kapitalismus anhand der Volksrepublik China. Was diese Systeme ökonomisch leisten, wo ihre Schwächen liegen und wie sie sich auf globale und innerstaatliche Ungleichheiten auswirken, sind die Leitfragen, denen seine Untersuchung nachgeht.

Im zweiten Kapitel definiert Milanovi´c den „liberal meritocratic capitalism“ als ein System, in dem Eigentum vererbt wird und ansonsten keine rechtlichen Barrieren existieren, die soziale Aufstiegsmobilität blockierten (S. 12). Freilich können Erbschaften unter Voraussetzungen, in denen offiziell nur Leistung zählt, besteuert werden, wenn damit mehr Chancengerechtigkeit garantiert wird. Die aktuelle, spezifisch meritokratische Variante des Kapitalismus vergleicht Milanovi´c sowohl mit dem klassischen wie dem sozialdemokratischen Kapitalismus. Im Ergebnis stellt sich heraus, dass sich das Verhältnis von Einkommen aus Kapital zu Einkommen aus Arbeit im Lauf der zurückliegenden Jahrzehnte deutlich zu Gunsten der Kapitalbesitzer verschoben hat. Außerdem leben die Kapitalbesitzer nicht nur von ihrem Geld, sondern erzielen auch die größten Erwerbseinkommen. Die Männer dieser privilegierten Schicht heiraten auch nicht mehr nach unten; vielmehr bevorzugen sie Ehen mit hochgebildeten Frauen, die in der Regel selbst hohe Einkommen erzielen. Gemeinsam sozialisieren sie – auch mit Hilfe teurer Privatschulen – Kinder, die ihrerseits wiederum über deutlich bessere Erwerbseinkommen verfügen, sobald sie ihre Berufstätigkeiten aufnehmen. So nimmt die Reichtumskonzentration aus unterschiedlichen systematischen Gründen immer weiter zu. Dass diese Spreizung selbst in Demokratien möglich ist, erklärt Milanovi´c nicht nur durch die Legitimität, die die herrschenden Klassen über ihre Tätigkeit als außerordentlich gut bezahlte managerial class und aufgrund der Monopolisierung hochwertiger Bildungsinstitutionen gewinnen, sondern auch durch „Spenden“ an die politische Klasse, deren extremes Ausmaß der Autor empirisch überzeugend belegt. In dieser Variante von Kapitalismus zielt Bestechung nicht direkt auf persönliche Bereicherung. Vielmehr brauchen die Politiker*innen Spenden, um Wahlen gewinnen zu können (S. 58). Sind sie dann erst einmal gewählt, halten diese Mitglieder der politischen Klasse – ganz unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Parteiprogrammen – eben die Systeme aufrecht, die solche Spenden zulassen, und sie müssen die politischen Wünsche der Oligarchen berücksichtigen, um ihre Wiederwahl zu sichern.

In der sich anschließenden Auseinandersetzung mit dem politischen Kapitalismus zeigt Milanovi´c im dritten Kapitel zunächst, wie verfehlt die Erwartungen der liberalen Modernisierungstheorie und des Marxismus waren. Während der Liberalismus daran scheitert, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu erklären, scheitert der Marxismus am Mauerfall und seinen Folgen. Im Übrigen teilen beide offenkundig falsche Vorstellungen darüber, was kommunistische Revolutionen in Ländern wie etwa China tatsächlich hervorgebracht haben. In verarmten, durch den Kolonialismus gebeutelten Ländern waren Milanovi´c zufolge kommunistische Revolutionen viel effektiver darin, die sozialen Voraussetzungen für Kapitalismus zu schaffen als jede andere politische Intervention. Gerade dadurch konnte es zur Entstehung der „politischen“ Variante des Kapitalismus kommen: Eine hocheffiziente technokratische Elite managt die ökonomische und soziale Ordnung, wobei die Bevölkerung durch ein hohes Wirtschaftswachstum zufrieden gestellt wird. Diese politisch-technokratische Klasse muss sich allerdings gegen Gesetze und partikulare Unternehmensinteressen durchsetzen können. Die Überwindung oder Neutralisierung solcher Widerstände bringt systematisch und in erheblichem Ausmaß Korruption hervor, die durch periodische Säuberungen eingehegt werden muss, ohne dass sie je verschwindet. Auch innerhalb des politischen Kapitalismus wächst die Ungleichheit. Jedoch kann Milanovi´c in seinem jüngsten Buch empirisch zeigen, was sich in seiner Studie aus dem Jahr 2016 nur angedeutet hatte:[1] Der Aufstieg Chinas und Indiens – den er im Fall von China als unmittelbarer Erfolg kommunistischer Revolutionen erklärt – hat erheblich dazu beigetragen, die Ungleichheit zwischen Haushalten auf globaler Ebene zu verringern.

In seinen großen argumentativen Bogen flicht der Autor kürzere Diskussionen zur Tragfähigkeit des Wohlfahrtsstaates, zur abnehmenden Mobilisierungsfähigkeit von Gewerkschaften und zur Dependenztheorie ein. Politische Prozesse weltweit werden erläutert, philosophische Positionen aufgerufen und kritisch gewürdigt. Im vierten Kapitel kommt er auf die Globalisierung zurück, wobei der vergleichende politische Ökonom wie schon 2016 für eine verstärkte Süd-Nord-Migration bei eingeschränkten Bürgerrechten der Migrant*innen plädiert. Das fünfte Kapitel gibt einen Ausblick auf mögliche Zukunftsszenarien.

Gerade diese ergänzenden Diskussionen stellen freilich die eigentliche Schwäche des neuen Buches dar, das im Vergleich zu Milanovi´cs früheren Werken doch enttäuscht. Wo er sich auf seine Expertise in der (politischen) Ökonomie stützt, ist seine Position nachvollziehbar. Soziale Ungleichheiten in der Welt werden in innovativer Weise auf den Punkt gebracht. Das sind genau die Stärken, die man an diesem Autor seit Langem schätzt. Allerdings geht er in seiner jüngsten Veröffentlichung derart fließend von ökonomischer Empirie zu ökonomischen Gedankenexperimenten und politisch-strategischen Überlegungen über, dass die Leser*in nie weiß, ob sie gerade einem Spitzenökonom folgt oder den Ausführungen eines Privatmanns, der auf der Grundlage seiner letzten Lektüren vorm Kamin über Gott und die Welt schwadroniert.

Eines von vielen Beispielen ist seine Auseinandersetzung mit dem Thema Migration: Milanovi´c behauptet zunächst (S. 137 ff.), die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit seien vergleichbar. Dabei kommt ein rein ökonomistisches Menschenbild ins Spiel, demzufolge Menschen eben dorthin wandern, wo sie ihre Arbeitsproduktivität mit dem besten Ertrag werden einsetzen können. Dass es sich um ein reines Gedankenexperiment handelt, das dem tatsächlichen Migrationsgeschehen keineswegs gerecht wird, bleibt unerwähnt.[2] Empirische Einwände gegen und Relativierungen gegenüber dem großen Bogen seines Arguments mögen aus Milanovi´cs Perspektive vernachlässigbar sein. Andererseits hält ihn sein ökonomischer Fokus nicht davon ab, ins weite Feld der Kulturgeschichte abzuschweifen, was er – man kann es nicht anders sagen – durchaus trickreich tut. Zunächst empfiehlt er als Ökonom, Migration zuzulassen (S. 139), und kritisiert seinen Kollegen Borjas dafür, die rückständige Kultur von Migrant*innen zur Gefahr für die Institutionen des Aufnahmelandes zu erklären. In Wahrheit hätten beispielsweise die USA ebendiese Migrant*innen zum eigenen, ökonomischen Vorteil genutzt. Dann räumt er jedoch ein, es gäbe historische Beispiele dafür, dass Migration die Kultur des aufnehmenden Landes zerstört habe (S. 141). So hätten etwa die Römer den Goten, die vor den Hunnen flohen, zunächst Schutz gewährt. Danach seien die Römer jedoch darauf verfallen, die Kinder und Frauen der schutzlosen Goten zu entführen und die Männer zu versklaven. Die darauffolgende Revolte der Goten hätte zum Untergang des Römischen Reiches beigetragen. Schließlich verweist der Autor in zwei Sätzen auf die europäische Migration in die Kolonialreiche, die für die gastfreundliche indigene Bevölkerung katastrophal verlaufen sollte. Beide Beispiele sollen die Schlussfolgerung untermauern, dass das „large-scale mixing of people of different cultures might, rather than leading to higher income for all, produce clashes and wars that could make everyone worse off“ (S. 141). Milanovi´c verwendet also historisch mehr oder weniger weit zurückliegende Beispiele, bei denen eine Bevölkerungsgruppe (die sesshaften Römer und die mobilen Kolonisatoren) eine andere bis zur Auslöschung unterwirft. Daraus folgert er, Migration gefährde die Stabilität sozialer Ordnungen, obwohl er zugleich auf die Wohlstandsgewinne hinweist, die zumal in den USA durch die Aufnahme rückständiger Migrant*innen erwirtschaftet wurden. Wie kann man von derart gegensätzlichen Beispielen zu Milanovi´cs Plädoyer kommen, Migration sei politisch nur durchsetzbar, wenn die Rechte der Migrant*innen beschnitten würden? Gar nicht, und das ist der Haken an der Sache. Solche Passagen in dem Buch erinnern mich an die Meinungsspalte meiner Tageszeitung. Täglich bewundere ich die Leitartikel dafür, wie gekonnt sie durchaus widersprüchliche Meinungen bedienen, auf dass alle Abonnent*innen der Zeitung bei der Stange bleiben.

Wo Milanovi´c neue Argumente für die je eigene Position liefert, macht es Freude, ihn zu lesen. Harte Kapitalismuskritiker kommen ebenso auf ihre Kosten wie alle, aus deren Sicht die chinesische Staatsführung effizienter agiert, als es demokratische Systeme können. Allerdings spielt er nicht nur politisch mit dem Feuer, wenn er zwischen neoliberalen, politisch-autoritären und marxistischen Argumenten herumlaviert. Das ganze Buch krankt daran, dass er keine Trennlinie zwischen fachlicher Kompetenz und persönlicher Meinungsäußerung zieht. Große Themen wie die Endlichkeit natürlicher Ressourcen werden auf gerade einmal zwei Seiten abgehandelt (S. 200). Wichtige Fragen, die den Kern seines Arguments betreffen, bleiben ebenfalls unbeantwortet: Gehört Russland auch ohne Kolonisierung zum politischen Kapitalismus? Warum wächst Indiens Wirtschaft, auch wenn es dort keinen politischen Kapitalismus à la China gibt? Lassen sich die hohen Wachstumsraten Chinas selbst dann noch aufrechterhalten, wenn das Land sich nicht mehr durch niedrige Löhne globale Wettbewerbsvorteile sichern kann? Schade!

Als alter Milanovi´c-Fan würde ich das Buch trotz allem empfehlen und zwar für Leser*innen, die wenig über die vernetzte Weltwirtschaft und globale Ungleichheiten wissen, aber eine verständliche und aufschlussreiche Einführung suchen. Inhaltlich ist die Studie aus dem Jahr 2016 deutlich besser, allerdings bietet das neue Buch aktuellere Zahlen und nicht zuletzt wird an den empirischen Daten zu Korruption in West und Ost deutlich, dass die Industrieländer des „hoch entwickelten“ Nordens wenig Anlass haben, sich selbst zu verklären. Man kann das Buch auch jenen empfehlen, die es nicht als fachwissenschaftliche Literatur lesen, sondern als einen Diskussionsbeitrag, der gängige und innovative Argumente in der Welt der Wirtschaftsweisen präsentiert. Originell ist diese Monografie schon deshalb, weil sie die gut begründete These vertritt, dass kommunistische Revolutionen in armen Ländern der effektivste Weg zum Kapitalismus sind.

  1. Branko Milanovi´c, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016.
  2. Weltweit leben trotz erheblicher „citizenship premiums“ nur 3 Prozent der Weltbevölkerung außerhalb ihres Geburtslandes (IOM, World Migration Report 2013, Genf). Dieser Befund lässt sich nicht allein durch geschlossene Grenzen erklären. Wir wissen etwa aus der Süd-Erweiterung der EU, dass trotz großer Ungleichheiten und des Abbaus von Grenzkontrollen die Migration von Arbeitskräften eher die Ausnahme als die Regel darstellte.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Wirtschaft Soziale Ungleichheit Kapitalismus / Postkapitalismus

Anja Weiß

Anja Weiß ist Professorin für Makrosoziologie und Transnationale Prozesse an der Universität Duisburg-Essen. Sie forscht zur Soziologie Globaler Ungleichheiten, zu hochqualifizierter Migration und zu transnationalen Forschungsdesigns in den qualitativen Methoden.

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