Sylvia Terpe | Rezension | 03.04.2017
Vom Mitgefühl zur Fairness
Michael Tomasello schreibt eine Naturgeschichte der menschlichen Moral
Von ihren Gründervätern wurde die Soziologie immer auch als eine Disziplin verstanden, die sich mit Moral beschäftigt. Für Emile Durkheim war sie eine Moralwissenschaft, die die „moralische Wirklichkeit […] erkennen und verstehen kann“.[1] Max Weber interessierte sich mit seiner zentralen Kategorie des wertrationalen Handelns immer auch für die moralischen Motive menschlichen Tuns.[2] Heutzutage führt die Moral in der Soziologie ein Nischendasein. Sie spielt zwar in verschiedenen Teil-Soziologien noch immer eine Rolle, aber zusammenhängende Darstellungen fehlen.[3] Große Abhandlungen zum Thema Moral findet man hingegen in anderen Disziplinen. Viele von ihnen bewegen sich an der Schnittstelle von Psychologie, Neurowissenschaften und Philosophie,[4] einige haben eine dezidiert evolutionstheoretische Perspektive.[5] Dazu gehört auch das Buch von Michael Tomasello.
Tomasello entwirft in seiner Naturgeschichte der menschlichen Moral ein „evolutionäres Szenario“ (13), demzufolge die Anpassung der Menschen an veränderte Umwelt- und Lebensbedingungen die Ausbildung bestimmter psychischer Mechanismen begünstigte – Mechanismen, die ihrerseits erst die Fähigkeit und Motivation zu Moral mit sich brachten. Die „phantasievolle Rekonstruktion historischer Ereignisse“ (232) verknüpft Tomasello mit einer Fülle experimenteller Untersuchungen, die er teils selbst mit Schimpansen und Bonobos durchführte oder die von anderen Wissenschaftlern mit Kleinkindern gemacht wurden.
Für den Laien oder fachfremden Leser ist das Buch nicht immer leicht zugänglich. Fachtermini, überladene Sätze und teils dichte Argumentationen erschweren die Lektüre. Andererseits kommt Tomasello seinen Lesern mit etlichen Zusammenfassungen entgegen, die das Gesagte immer wieder – auch mit anderen Worten – auf den Punkt bringen. Tomasellos Argumentation wird im Folgenden in ihren Grundzügen vorgestellt. Anschließend soll es um die soziologisch interessanten Aspekte seiner Darstellung von der Entwicklung der menschlichen Moral gehen.
Die Entwicklung der Menschen zu moralischen Wesen vollzog sich nach Tomasello in zwei Schritten. Der erste fand vor ca. 400.000 Jahren zur Zeit der Frühmenschen statt, der zweite setzte vor ca. 150.000 Jahren mit dem Aufkommen der modernen Menschen ein. In beiden Schritten kam es zu einer „Ausweitung der mitfühlenden Anteilnahme“ über den engen Kreis der „Verwandten und Freunde“ hinaus (12, 15, 69). Diese „erste Moral des Mitgefühls“ (69) dehnte sich im ersten Schritt auf potentielle Partner bei der Nahrungssuche, im zweiten Schritt auf alle Personen einer „Kulturgruppe“ aus (134, 144 ff.).
Der Entwicklung dieser Moral des Mitgefühls räumt Tomasello nur wenig Raum ein. Denn letztlich geht sie seines Erachtens auf dieselben Veränderungen zurück wie die Entwicklung einer zweiten, in seinen Augen wichtigeren Form von Moral: der „Moral der Fairneß“ und „Gerechtigkeit“ (11 f.). Während die Moral des Mitgefühls ihre Vorläufer in der „mitfühlenden Anteilnahme“ (12) der Menschenaffen hat, erkennt Tomasello in der Moral der Fairness eine für den Menschen einzigartige Fähigkeit. Aber beide Formen von Moral – und das ist die zentrale These des Buches – konnten sich nur entwickeln, weil es zu Veränderungen in den Interdependenzbeziehungen zwischen den Menschen kam, sie also auf neue Weisen voneinander abhängig wurden.
In Kapitel 1 stellt Tomasello diese beiden Formen von Moral sowie seine Interdependenzhypothese vor. In Kapitel 2 geht es um die für Menschenaffen typischen Formen von Kooperation, die zumeist „im Dienste der Konkurrenz“ (42) stehen. Kapitel 3 und 4, das Herzstück des Buches, widmen sich ausführlich den beiden Entwicklungsschritten hin zu der für den Menschen einzigartigen Moral. In Kapitel 5 diskutiert Tomasello nochmals zentrale Punkte seiner Argumentation und grenzt sich knapp von anderen theoretischen Positionen ab.
Der erste Schritt hin zur Entwicklung der menschlichen Moral wurde nach Tomasello durch eine „ökologische Veränderung“ eingeleitet. Die „bevorzugten Nahrungsmittel der Frühmenschen“ wurden „knapp […] und man [brauchte] Alternativen“ (73). Diese fand man in einer veränderten Form der Nahrungsbeschaffung: in „gemeinschaftliche[n] Bemühungen“ (73). Die Frühmenschen waren also „viel stärker, akuter und umfassender voneinander abhängig [...] als andere Menschenaffen: Sie mußten mit anderen täglich zusammenarbeiten oder verhungern.“ (73f.) In der daraus resultierenden und notwendigen Beteiligung an gemeinsamen Aktivitäten liegt nach Tomasello der Ursprung der menschlichen Moral. Denn das gemeinsame Tun begünstigte die Entwicklung psychischer Fähigkeiten, die ihrerseits notwendig waren, damit sich neben strategischen Formen der Kooperation neue und moralische Weisen des Miteinanders entwickeln konnten.
Die Mechanismen zur Ausbildung dieser für die Moral zentralen Fähigkeiten stellt sich Tomasello folgendermaßen vor. Zum einen entwickeln die Frühmenschen im Zuge der ‚obligaten Zusammenarbeit‘ (73) und der daraus entstehenden Fähigkeit, überhaupt eine „gemeinschaftliche [...] Tätigkeit als ganze“ zu denken (85), ein „Gefühl für ihre Abhängigkeit voneinander“ (63). Aus diesem „Gefühl [...], daß ich von anderen abhänge“ (213), geht mit der Zeit ein für die Moral wesentlicher „Sinn für ein ‚Wir‘ als pluraler Akteur" (64) hervor. Zum anderen erzeugen die gemeinsamen Aktivitäten sogenannte „Rollenideale“, also Vorstellungen davon, was jeder Partner idealerweise tun sollte, damit das gemeinsame Ziel erreicht wird (87f.). Diese Ideale sind „unparteiisch“ (90), das heißt sie werden als für jeden gleichermaßen geltend gedacht. Daraus entsteht nach Tomasello eine „Anerkennung der Äquivalenz von Selbst und anderen“ (92). Diese ist für ihn noch kein „moralisches Motiv“, sondern „einfach die Anerkennung einer unausweichlichen Tatsache“ (91): Die „Kooperationspartner [...] sind gleichwichtig für den instrumentellen Erfolg und gleichermaßen bewertbar anhand derselben idealen Maßstäbe“ (229).
In ihrer Kombination führen beide Mechanismen aber „zu etwas radikal Neuem in der Welt der Natur“ (229): einem „Sinn“ dafür, dass alle „Kooperationspartner [...] gleichermaßen verdienstvolle Individuen“ sind (68, 111). In der Idee, dass alle Beteiligten die gleiche Behandlung verdienen (zum Beispiel bei der Aufteilung einer Beute), erkennt Tomasello die erste Form einer Moral der Fairness. Sie kommt etwa in Gefühlen des Grolls und der Empörung zum Ausdruck, wenn andere Partner dagegen verstoßen (110 f.) oder in Schuldgefühlen, wenn man sie selbst missachtet (116 ff.). In diesem Schuldgefühl zeigt sich nach Tomasello zudem, dass die Urteile über die Verdienstlichkeit von einem ‚Wir‘ gefällt werden, das zum Bestandteil der eigenen Identität geworden ist (103).
Der zweite Schritt in der Entwicklung der menschlichen Moral wurde nach Tomasello durch Bevölkerungswachstum ausgelöst. In der Folge konkurrierte eine „Stammesgruppe – nennen wir sie eine Kultur – [...] mit anderen derartigen Gruppen um Ressourcen und funktionierte daher als ein großes, interdependentes ‚Wir‘“ (17). Interdependenz besteht nun „auf der Ebene der gesamten Kulturgruppe und in allen Lebensbereichen“ (134). Durch die Beteiligung der Menschen an den Aktivitäten in all diesen Lebensbereichen – oder wie Tomasello sagt: durch die „Teilnahme am Kulturleben“ (18) – entwickelt sich „ein ‚Wir‘“ zwischen „Gruppenmitgliedern, die [...] in Verhalten und Erscheinungsbild ähnlich“ sind (141). Zusätzlich führt die „Teilhabe moderner Menschen an einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund“ (149) zum „Erkennen einer Äquivalenz zwischen allen Mitgliedern der Kulturgruppe“ (145). In Kombination mit dem „Gefühl für die Akteursneutralität der Rollen“ – das ihre besondere Legitimität begründet – entwickelt sich daraus wiederum „ein Sinn für die gleiche Verdienstlichkeit von Mitgliedern der Kultur“ (164). Das Ergebnis ist eine Moral der Fairness und Gerechtigkeit, die sich aus Perspektive der Gruppenmitglieder als „‚objektive‘ Moral“ darstellt (134).
Damit hebt Tomasello seine zunächst für den ersten Evolutionsschritt entworfene Argumentation auf eine höhere Ebene. Die entscheidende Frage ist freilich, ob die Mechanismen dann noch dieselben sein können. Ist die Beteiligung an der konkreten gemeinsamen Aktivität der Nahrungsbeschaffung qualitativ dasselbe wie eine ‚Teilhabe am Kulturleben‘? Die wechselseitige Abhängigkeit – als Voraussetzung für die spätere Erkenntnis der ‚Äquivalenz von selbst und anderen‘ – kann im ersten Fall unmittelbar erlebt werden. Doch trifft dies auch dann noch zu, wenn die Interdependenzen mit wachsender Gruppengröße zunehmen und komplexer werden?
Darüber hinaus ist nicht ganz überzeugend, wie es von der bloßen „Erkenntnis“ (246) einer ‚Äquivalenz von Selbst und anderen‘ sowie der „Erkenntnis“, dass Rollen personenunabhängig gelten (190) hin zu der qualitativ neuen, nämlich moralischen Idee der ‚gleichen Verdienstlichkeit‘ kommt. Damit hat Tomasello im Grunde dasselbe Problem wie andere Ansätze, die Moral in Anlehnung an Kant vor allem „im Sinne von Pflichtgefühl und Sollenserfahrungen“ konzipieren.[6] Auch Tomasello betont den Pflichtcharakter der Moral der Fairness (12 f.) – im Unterschied zur Moral des Mitgefühls, der dieses Element fehle. Aber bedarf es tatsächlich (immer) eines solchen Pflichtgefühls, vor allem dann, wenn ein Interaktionspartner „als eine gleichermaßen verdienstvolle Person“ behandelt wird, „weil … nun eben weil er eine ist“? (116) Mit dieser Formulierung scheint Tomasello selbst anzudeuten, dass eine moralische Idee aus sich heraus motivierend sein kann.
Eine Erklärung dafür könnte der Ansatz von Hans Joas liefern. Er betont sogenannte Erfahrungen der Selbsttranszendenz, in denen Menschen bestimmte moralische Werte als anziehend und attraktiv erleben. Dies schließt nicht aus, dass in manchen Situationen ein zusätzliches Gefühl der Pflicht hinzukommt – insbesondere dann, wenn auch andere Motive wirksam werden. Doch muss dies eben nicht der Weg sein, wie eine moralische Wertidee ursprünglich entstanden ist.
Auch an anderen Stellen bieten sich soziologische Erweiterungen der Darstellung Tomasellos an. So könnte mit der von Randall Collins in Anlehnung an Emil Durkheim konzipierten Idee von Interaktionsritualen genauer beleuchtet werden, warum die Beteiligung an gemeinsamen Aktivitäten (manchmal, aber eben nicht immer) ein Wir-Gefühl zu erzeugen vermag.[7] Und was Tomasello als die Übernahme von Rollenidealen beschreibt, wäre etwa mit George Herbert Meads Konzeption der Identitätsentwicklung angemessener zu erfassen.[8] Ein Blick in Norbert Elias‘ Betrachtungen über den Prozeß der Zivilisation könnte schließlich die Verschränkungen von Soziogenese und Psychogenese weiter erhellen.[9] Auch wenn Elias einen späteren und viel kürzeren Zeitraum betrachtet als Tomasello, ist das Grundgerüst der Argumentationen doch ähnlich: Veränderte Interdependenzbeziehungen führen zu neuen Formen der sozialen Interaktion, die ihrerseits Entwicklungen in der psychischen Verfasstheit des Menschen anstoßen, die ihn zur Moral erst befähigen oder bestimmte Formen von Moralität prägen.
Diese Ergänzungen sind nicht im Sinne einer grundsätzlichen Kritik an Tomasellos Ansatz zu verstehen. Sie sollen nur andeuten, wo seine evolutionstheoretische und die soziologische Perspektive sinnvoll verknüpft werden können. Nicht zuletzt lohnt sich die Lektüre des Buches von Tomasello für Soziologen aus mindestens zwei Gründen. Zum einen arbeitet er mit einer Konzeption von Moral, die selbst nicht normativ aufgeladen ist, sondern die sich dafür interessiert, was Menschen selbst als moralisch erachten. Damit betont er zugleich, dass im Grunde alle möglichen sozialen Normen und Konventionen „moralisiert“ werden können (156, 194 f.). Das wirft die soziologisch spannende Frage auf, durch welche sozialen Bedingungen solche Prozesse der Moralisierung (aber auch der Ent-Moralisierung) angestoßen werden. Zum anderen erinnert Tomasellos evolutionstheoretische Perspektive immer wieder daran, dass Menschen nicht nur moralische Wesen sind, sondern auch aus strategischen Gründen kooperieren können – oder eben nicht. Mit dem Nebeneinander verschiedener Motivlagen, auch in ein und derselben Situation, hat sein Ansatz keine Probleme (198). Daraus ergibt sich die Frage, wie diese Motive situativ ausgelöst und gewichtet werden und wie sie mit anderen Elementen der Situation zusammenwirken. Es wäre zu wünschen, dass eine Soziologie der Moral dazu Antworten findet.
Fußnoten
- Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1976, S. 84.
- Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, nach Grundriss der verstehenden Soziologie, mit textkrit. Erl. hg. von Johannes Winckelmann, 1. Halbbd., 5. rev. Aufl., Tübingen 1976, S. 12f.
- Einen ersten, wenngleich selektiven Überblick geben Steven Hitlin / Stephen Vaisey, Handbook of the Sociology of Morality, New York 2013.
- Jonathan Haidt, The Righteous Mind. Why Good People are Divided by Politics and Religion, New York 2012. Joshua Greene, Moral Tribes. Emotion, Reason, and the Gap Between Us and Them, New York 2013.
- Marc D. Hauser, Moral Minds. How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong, New York 2006. Frans de Waal: Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte, München 2008.
- Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1997, S. 254.
- Randall Collins, Interaction Ritual Chains, Princeton, NJ 2004.
- George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, übers. von Ulf Pacher, Frankfurt am Main 1968.
- Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt am Main 1976.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Philosophie Gesellschaft Interaktion
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